10. Was ist wirklich eine Neurose?


Wer sich jahrelang mit diesem Problem beschäftigt hat, der wird verstehen, daß man auf die Frage: Was ist nun wirklich Nervosität? eine klare und offene Antwort geben muß. Wenn man die Literatur durchwandert, um Aufschlüsse zu bekommen, so wird man sich vor einem solchen Wirrsal von Definitionen finden, daß man zum Schluß wohl kaum zu einer einheitlichen Anschauung gelangen wird.

Wie immer, wenn in einer Frage Unklarheiten bestehen, gibt es eine Menge von Erklärungen und viel Kampf. So auch in unserem Falle. Neurose ist — Reizbarkeit, reizbare Schwäche, Erkrankung der endokrinen Drüsen, Folge von Zahn-, Naseninfektion, Genitalerkrankung, Schwäche des Nervensystems, Folge einer hormonalen, einer harnsauren Diathese, des Geburtstraumas, des Konfliktes mit der Außenwelt, mit der Religion, mit der Ethik, Konflikt zwischen dem bösen Unbewußten und dem kompromißgeneigten Bewußtsein, der Unterdrückung sexueller, sadistischer, krimineller Triebe, des Lärmes und der Gefahren der Großstadt, einer weichlichen, einer strengen Erziehung, der Familienerziehung überhaupt, gewisser bedingter Reflexe usw.

Vieles aus diesen Anschauungen ist zutreffend und kann zur Erklärung von mehr oder weniger bedeutsamen Teilerscheinungen der Neurose herangezogen werden. Das meiste davon findet sich häufig bei Personen, die nicht an einer Neurose leiden. Das wenigste davon liegt auf dem Wege zu einer Klärung der Frage: was ist wirklich eine Neurose? Die ungeheure Häufigkeit dieser Erkrankung, ihre außerordentlich schlimme soziale Auswirkung, die Tatsache, daß nur ein kleiner Teil der Nervösen einer Behandlung unterzogen wird, sein Leiden aber lebenslang als unerhörte Qual mit sich herumträgt, dazu das große, aufgepeitschte Interesse der Laienwelt für diese Frage, rechtfertigt eine kühle, wissenschaftliche Beleuchtung vor einem größeren Forum. Man wird dabei auch ersehen, wieviel medizinisches Wissen zum Verständnis und zur Behandlung dieser Erkrankung nötig ist. Es soll auch der Gesichtspunkt nicht außer acht gelassen werden, daß eine Verhütung der Neurose möglich und erforderlich ist, aber nur bei klarer Erkenntnis der zugrundeliegenden Schäden erwartet werden kann. Die Maßregeln zur Verhütung, Vorbeugung und Erkenntnis der kleinen Anfänge stammen aus dem ärztlichen Wissen. Aber die Mithilfe der Familie, der Lehrer, Erzieher und anderer Hilfspersonen ist dabei unentbehrlich. Dies rechtfertigt eine weite Verbreitung der Kenntnisse über das Wesen und über die Entstehung der Neurose.

Man muß willkürliche Definitionen, wie sie seit jeher bestehen, unbedingt beiseite schaffen, zum Beispiel, daß sie ein Konflikt zwischen dem Bewußten und de m Unbewußten ist. Darüber kann man schwer diskutieren, denn schließlich hätten die Autoren, die dieser Auffassung huldigen, einsehen müssen, daß man ohne Konflikte überhaupt nicht auskommt, so daß etwas Beleuchtendes über das Wesen der Neurose dadurch nicht gesagt ist, auch dann nicht, wenn uns jemand verleiten will, in einer hochmütig wissenschaftlichen Anschauung jene organischen Veränderungen, Chemismen, ausfindig zu machen. Damit wird er schwerlich etwas beitragen können, weil wir über Chemismen nichts aussagen können. Auch die anderen landläufigen Definitionen sagen nichts Neues. Was man unter Nervosität versteht, ist Reizbarkeit, Mißtrauen, Scheu usw. kurz irgendwelche Erscheinungen, die sich durch negative Charakterzüge auszeichnen, durch Charakterzüge, die nicht ins Leben hineinpassen und mit Affekten beladen erscheinen. Alle Autoren geben zu, daß die Nervosität mit einem gesteigerten Affektleben zusammenhängt. Als ich vor vielen Jahren daran ging, zu beschreiben, was wir unter dem nervösen Charakter verstehen, da zog ich die Überempfindlichkeit des Nervösen an den Tag. Dieser Charakterzug findet sich wohl bei jedem Nervösen, wenngleich in manchen seltenen Fällen dieser Zug nicht ganz leicht entdeckt werden kann, weil er verhüllt ist, aber wenn man näher zusieht, kann man entdecken, daß es doch Menschen mit großer Empfindlichkeit sind. Weitere Forschungen der Individualpsychologie haben ergeben, woher die Empfindlichkeit stammt. Einer, der sich zu Hause fühlt auf dieser armen Erdkruste, davon durchdrungen ist, daß nicht nur die Annehmlichkeiten des Lebens zu ihm gehören, sondern auch die Unannehmlichkeiten, der darauf gefaßt ist, etwas beizutragen, der wird keine Überempfindlichkeiten an den Tag legen. Die Überempfindlichkeit ist der Ausdruck des Minderwertigkeitsgefühls. So ergeben sich sehr leicht andere Charakterzüge des Nervösen, wie zum Beispiel die Ungeduld, die auch der, der sich sicher fühlt, der Selbstvertrauen hat, der dahin entwickelt ist, sich mit den Fragen des Lebens auseinanderzusetzen, nicht an den Tag legt. Wenn man diese zwei Charakterzüge im Auge hat, wird man verstehen, daß es Menschen sind, die in gesteigerten Affekten leben. Wenn man hinzunimmt, daß dieses Unsicherheitsgefühl gewaltig nach einem Ruhestand, nach Sicherheit strebt, kann man verstehen, warum das Streben des Nervösen nach Überlegenheit, nach Vollkommenheit aufgepeitscht ist, daß man diesen Zug, der zur Höhe strebt, als Ehrgeiz findet, der nur die eigene Person berücksichtigt. Das ist bei einem Menschen verständlich, der sich in Not befindet. Manchmal nimmt dieses Streben zur Höhe auch Formen an, zum Beispiel Gier, Geiz, Neid, Eifersucht, die von vornherein von der Allgemeinheit abgelehnt werden; da handelt es sich um Menschen, die gewaltsam über die Schwierigkeiten hinauszuwachsen bestrebt sind, weil sie sich deren glatte Lösung nicht zutrauen. Dazu kommt, daß das verstärkte Minderwertigkeitsgefühl Hand in Hand geht mit einer mangelhaften Entwicklung des Mutes, daß sich an Stelle dessen eine Häufung von trickhaften Versuchen einstellt, um das Problem des Lebens herumzukommen, sich das Leben zu erleichtern, anderen zuzuschieben; dies hängt mit dem mangelhaften Interesse an den anderen zusammen. Wir sind weit entfernt davon, diese vielen Menschen, die niedrigere oder höhere Grade dieses Verhaltens zeigen, zu kritisieren oder zu verurteilen, wir wissen, daß auch die schwersten Verfehlungen nicht unter bewußter Verantwortung zustande gekommen sind, sondern daß der Betreffende ein Spielball seiner schlechten Stellungnahme dem Leben gegenüber geworden ist. Diese Menschen haben ein Ziel vor Augen, bei dessen Verfolgung sie in Widerspruch mit der Vernunft geraten. Über das Wesen der Nervosität, über ihr Zustandekommen, ihre Struktur ist damit noch nichts gesagt. Wir sind einen Schritt weitergegangen und konnten, im Hinblick auf den mangelnden Mut des Nervösen, seine zögernde Haltung den Aufgaben des Lebens gegenüber, die geringe Auswirkung des Lebensprozesses gegenüber den Fragen des Lebens feststellen. Es ist sicher, daß wir das geringe Vermögen zur Aktivität bis in die Kindheit zurückverfolgen können. Wir Individualpsychologen sind davon nicht überrascht, weil die Lebensform in den ersten Lebensjahren entwickelt und unabänderlich ist und einer Änderung nur zugänglich ist, wenn der Bet reffende den Irrtum in der Entwicklung versteht und die Fähigkeit besitzt, sich der Allgemeinheit zum Zwecke der Wohlfahrt der gesamten Menschheit wieder anzuschließen.

Besitzt ein Kind eine höhere Aktivität in schlechtem Sinne, dann kann man voraussetzen, daß dieses Kind, wenn es später ein Fehlschlag wird, kein Nervöser wird, sondern sich dann in einer anderen Form eines Fehlschlages — Verbrecher, Selbstmörder, Trunkenbold -manifestiert. Er kann sich als schwer erziehbares Kind des schlimmen Genres präsentieren, aber er wird nicht die Züge eines Nervösen aufweisen. Wir sind nun näher herangekommen und können feststellen, daß der Aktionsradius eines solchen Menschen keine besondere Ausbreitung erfährt. Der Nervöse hat einen geringen Aktionsradius, verglichen mit dem mehr normaler Menschen. Die Frage ist wichtig, woher die größere Aktivität kommt. Wenn wir feststellen, daß es möglich ist, den Aktionsradius eines Kindes zu entwickeln und zu unterdrücken, wenn wir verstanden haben, daß es Mittel gibt, in einer fehlgeschlagenen Erziehung den Aktionsradius des Kindes bis auf ein Minimum einzuengen, verstehen wir auch, daß uns die Frage der Vererbung nicht interessiert, sondern, daß das, was wir sehen, Produkt der schöpferischen Fähigkeiten des Kindes ist. Die Körperlichkeit und die Einwirkung der Außenwelt sind Bausteine, die das Kind zum Aufbau seiner Persönlichkeit benützt. Was wir an den Symptomen der Nervosität beobachten, die wir einteilen in körperliche Erschütterungen gewisser Organe und in seelische Erschütterungen, Angsterscheinungen, Zwangsgedanken, Depressionserscheinungen, die spezielle Bedeutung zu haben scheinen, nervöse Kopfschmerzen, Errötungszwang, Waschzwang und ähnliche seelische Ausdrucksformen, alle sind Dauersymptome. Sie verharren durch längere Zeit, und wenn man sich nicht in das Dunkel phantastischer Anschauungen begeben und annehmen will, daß sie sich ohne Sinn entwickelt haben, wenn man nach dem Zusammenhang sucht, wird man finden, daß jene Aufgabe, die dem Kind vorliegt, für das Kind zu schwer gewesen ist, daß sie aber dauernd besteht. Dadurch erscheint die Konstanz von nervösen Symptomen festgestellt und erklärt. Der Ausbruch der nervösen Symptome erfolgt vor einer bestimmten Aufgabe. Wir haben umfängliche Untersuchungen angestellt, um herauszufinden, worin die Schwierigkeit der Lösung von Problemen besteht, und die Individualpsychologie hat damit das ganze Gebiet dauernd beleuchtet, indem sie festgestellt hat, daß die Menschen immer Probleme vor sich haben, zu denen eine soziale Vorbereitung gehört. Die muß das Kind in frühester Kindheit erwerben, denn eine Steigerung ist nur aus dem Verständnis möglich. Wenn wir uns die Aufgabe gestellt haben, deutlich zu machen, daß tatsächlich immer ein solches Problem erschütternd wirkt, dann können wir von Schockwirkungen sprechen. Sie können von verschiedener Art sein. Einmal ist es die Frage der Gesellschaft. Eine Enttäuschung in der Freundschaft. Wer hat sie nicht erlebt, wer war dadurch nicht erschüttert? Die Erschütterung ist noch immer kein Zeichen von Nervosität. Sie ist nur dann ein Zeichen von Nervosität und wird Nervosität, wenn sie anhält, wenn sie einen Dauerzustand bildet, wenn der Betreffende sich mit Mißtrauen von jedem Du abwendet, wenn er deutlich zeigt, daß er durch Scheu, Schüchternheit, körperliche Symptome, Herzklopfen, Schwitzen, Magen-Darmerscheinungen, Harndrang immer abgehalten wird, sich irgendwo anderen Menschen zu nähern, ein Zustand, der in der individualpsychologischen Beleuchtung klar spricht und sagt, daß dieser Mensch das Kontaktgefühl mit anderen nicht genügend entwickelt hat, was auch daraus hervorgeht, daß ihn seine Enttäuschung zur Isolierung gebracht hat. Nun sind wir dem Problem schon näher gerückt und können uns ein Verständnis über die Nervosität verschaffen. Wenn einer zum Beispiel im Beruf Geld verliert und erschüttert ist, so ist das noch keine Nervosität. Eine nervöse Erscheinung wird es erst, wenn er dabei stehenbleibt und nur erschüttert ist und sonst gar nichts. Das läßt sich nur erklären, wenn man versteht, daß dieser Mensch keinen genügenden Grad von Mitarbeit erworben hat, daß er nur bedingungsweise vorwärtsgeht, wenn ihm alles gelingt. Dasselbe gilt auch für die Liebesfrage. Sicherlich ist die Lösung der Liebesfrage keine Kleinigkeit. Es bedarf schon einer gewissen Erfahrung, Verständnisses, einer gewissen Verantwortung. Wenn da einer durch diese Frage in eine Aufregung und Irritation gerät, wenn er, einmal zurückgeschlagen, nie mehr vorwärts geht, wenn sich in diesem Rückzug vor dem genannten Problem auch alle Emotionen einfinden, die den Rückzug sichern, wenn er ein solches Urteil für das Leben gewinnt, daß er an dem Rückzug festhält, dann erst ist es Nervosität. Jeder wird im Trommelfeuer Schockwirkungen erleben, aber zur Dauer werden sie nur dann führen, wenn er nicht für die Aufgaben des Lebens vorbereitet ist. Er bleibt stecken. Dieses Steckenbleiben haben wir begründet, indem wir sagten: das sind Menschen, die zur Lösung aller Probleme nicht richtig vorbereitet sind, das sind keine richtigen Mitarbeiter von Kindheit an, aber wir müssen noch etwas mehr sagen: es ist ja doch ein Leiden, das wir in der Nervosität zu beobachten haben, es ist keine Annehmlichkeit. Wenn ich jemandem die Aufgabe stellte, er solle Kopfschmerzen erzeugen, wie sie angesichts eines Problems zustande kommen, zu dessen Lösung er nicht vorbereitet ist, wird er nicht imstande sein, es zu tun. Deswegen müssen wir alle Auseinandersetzungen, einer erzeuge sein Leiden, er wolle krank sein, alle diese unrichtigen Anschauungen müssen wir a limine beseitigen. Es ist keine Frage, daß der Betreffende leidet, aber er zieht diese Leiden noch immer jenen größeren vor, um nicht bei der Lösung wertlos zu erscheinen. Er nimmt lieber alle nervösen Leiden in Kauf als die Enthüllung seiner Wertlosigkeit. Beide, der nervöse und der nichtnervöse Mensch werden einer Feststellung ihrer Wertlosigkeit den größten Widerstand entgegensetzen, aber der Nervöse weit mehr. Vergegenwärtigt man sich die Überempfindlichkeit, Ungeduld, Affektsteigerung, den persönlichen Ehrgeiz, so wird man begreifen können, daß ein solcher Mensch nicht vorwärts zu bringen ist, solange er sich in Gefahr glaubt, daß sich seine Wertlosigkeit enthüllen werde. Welche Stimmungslage erfolgt nun, nachdem diese Schockwirkungen eingetreten sind? Er hat sie nicht erzeugt, er wünscht sie nicht, sie sind aber da als die Folgen einer seelischen Erschütterung, als Folgen eines Gefühls der Niederlage, als Folgen der Furcht, in seiner Wertlosigkeit enthüllt zu sein. Diese Wirkung, die da entsteht, zu bek ämpfen, hat er keine rechte Neigung, er versteht sich auch nicht leicht dazu, sich aus ihr zu befreien. Er würde sie wegwünschen, er wird darauf bestehen: ich möchte ja gesund werden, ich will von den Symptomen befreit sein. Deshalb geht er auch zum Arzt. Was er aber nicht weiß, ist, daß er etwas noch mehr fürchtet: als etwas Wertloses dazustehen; es könnte sich etwa das düstere Geheimnis entpuppen, daß er nichts wert sei. Wir sehen nun, was eigentlich Nervosität ist: ein Versuch, dem größeren Übel auszuweichen, ein Versuch, den Schein des Wertes um jeden Preis aufrecht zu erhalten, alle Kosten zu zahlen, aber gleichzeitig zu wünschen, dieses Ziel zu erreichen, auch ohne Kosten zu zahlen. Leider ist das unmöglich. Es geht nicht anders, als daß man dem Betreffenden eine bessere Vorbereitung für das Leben verschafft, daß man ihn besser einbettet, daß man ihn ermutigt, was nicht durch ein Aufpeitschen, durch Strafen, Härte, Zwang erreicht werden kann. Man weiß, wie viele Menschen fähig sind, wenn sie über eine gewisse Aktivität verfügen, sich lieber umzubringen, als die Probleme zu lösen. Das ist deutlich. Deshalb können wir von einem Zwang nichts erwarten, es muß eine systematische Vorbereitung eintreten, bis der Betreffende sich sicher fühlt, so daß er an die Lösung des Problems schreiten kann. Andererseits ist es ein Mensch, der glaubt, vor einem tiefen Abgrund zu stehen, der fürchtet, wenn er angetrieben wird, in den Abgrund zu stürzen, das heißt, daß seine Wertlosigkeit sich enthüllen würde.

 

Ein 35jähriger Rechtsanwalt klagt über Nervosität, ununterbrochenen Schmerz in der Hinterhauptgegend, allerlei Beschwerden in der Magengegend, Stumpfheit im ganzen Kopf und allgemeine Schwäche und Müdigkeit. Dabei ist er immer in Aufregung und ruhelos. Oft hat er Angst das Bewußtsein zu verlieren, wenn er mit fremden Menschen sprechen soll. Zu Hause, in der Familie seiner Eltern, fühlt er sich erleichtert, obwohl ihm auch dort die Atmosphäre nicht behagt. Er ist überzeugt, daß er dieser Symptome wegen keinen Erfolg haben kann.

Die klinische Untersuchung ergab ein negatives Resultat bis auf eine Skoliose, die bei Verlust des Muskeltonus infolge der Depression zur Erklärung des Hinterhauptschmerzes und der Rückenschmerzen herangezogen werden kann. Die Müdigkeit kann ohne weiteres seiner Ruhelosigkeit zugeschrieben werden, ist aber sicher auch wie das stumpfe Gefühl im Kopfe als eine Teilerscheinung der Depression zu verstehen. Die Beschwerden in der Magengegend sind aus der allgemeinen Diagnostik, die wir hier anwenden, schwerer zu verstehen, könnten als Nervenirritation infolge der Skoliose entstanden sein, aber auch der Ausdruck einer Prädilektion sein, die Antwort eines minderwertigen Organs auf eine seelische Irritation. Für letzteres spricht die Häufigkeit von Magenstörungen in der Kindheit und eine ähnliche Klage des Vaters, ebenfalls ohne organischen Befund. Patient weiß auch, daß gelegentliche Aufregungen immer von Verschlechterung seines Appetits, manchmal mit Erbrechen, begleitet waren.

Eine vielleicht als Kleinigkeit angesehene Klage läßt uns den Lebensstil des Patienten etwas genauer erkennen. Seine Ruhelosigkeit spricht deutlich dafür, daß er den Kampf um »seinen Erfolg« nicht ganz aufgegeben hat. Für die gleiche Schlußfolgerung, wenn auch in eingeschränkterem Maße, spricht seine Mitteilung, daß er sich auch zu Hause nicht wohl fühlt. In eingeschränkterem Maße deshalb, weil ihn seine Angst, fremden Menschen zu begegnen, also ins Leben hinauszutreten, auch zu Hause nicht verlassen kann. Die Furcht, das Bewußtsein zu verlieren, läßt uns aber einen Blick in die Werkstätte seiner Neurose tun: er sagt es, weiß es aber nicht, wie er seine Aufregung, wenn er Fremde sehen muß, durch einen vorgefaßten Gedanken, bewußtlos zu werden, künstlich steigert. Es sind zwei Gründe namhaft zu machen, warum der Patient es nicht weiß, daß er künstlich, als ob in einer Absicht, die Aufregung bis zu einer Konfusion steigert. Der eine Grund liegt auf der Hand, wenngleich nicht allgemein verstanden: der Patient blickt gleichsam schielend nur auf seine Symptome und nicht auf den Zusammenhang mit seiner Gangart. Der andere Grund ist: daß der unerbittliche Rückzug, die »Avance rückwärts«, wie ich es vor langer Zeit als wichtigstes neurotisches Symptom beschrieben habe,1) in unserem Falle verbunden mit schwachen Versuchen sich aufzuraffen, nicht unterbrochen werden darf. Die Erregung, in die der Patient gerät — was freilich auch bewiesen werden muß, denn bisher ist es nur unter Zuhilfenahme der allgemeinen Diagnostik, der individualpsychologischen Erfahrung und mittels medizinischpsychologischer Intuition erraten — wenn er mit den drei Lebensfragen Gemeinschaft, Beruf, Liebe zusammenstößt, für die er offensichtlich nicht vorbereitet ist, ergreift ja nicht nur den Körper, um dort funktionelle Veränderungen hervorzurufen, sondern auch die Psyche. Es kommt infolge der mangelhaften Vorbereitung dieser Persönlichkeit zu funktionellen Störungen in Körper und Seele. Der Patient, vielleicht von früher her schon durch kleinere Fehlschläge belehrt, schreckt vor dem »exogenen« Faktor zurück, fühlt sich nun dauernd von einer Niederlage bedroht, um so mehr, wenn er als verwöhntes Kind (ein neuer Beweis, den wir in der Folge zu führen haben werden) sein selbst aufgebautes Ziel einer persönlichen Überlegenheit ohne Interesse für die anderen mehr und mehr unerreichbar findet. In dieser Stimmungslage von erhöhten Emotionen, die immer der Angst vor einer endgültigen Niederlage entspringen, wenngleich Angst im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht immer deutlich hervortreten muß, entstehen ja nach der körperlichen, meist angeborenen, und nach der seelischen, immer erworbenen Konstitution, immer miteinander vermengt und sich gegenseitig beeinflussend, jene Symptome, die wir in der Neurose und Psychose finden.

 

Ist dies aber schon die Neurose? Die Individualpsychologie hat wahrlich viel getan, die Tatsache aufzuklären, daß man zur Lösung der Lebensaufgaben schlecht oder gut vorbereitet sein kann, und daß dazwischen viele tausend Varianten zu finden sind. Viel auch, um verstehen zu lassen, daß die gefühlte Unfähigkeit zur Lösung Körper und Seele anläßlich des exogenen Faktors tausendfältig vibrieren macht. Sie hat auch gezeigt, daß die mangelnde Vorbereitung aus der frühesten Kindheit stammt und sich weder durch Erlebnisse noch durch Emotionen, sondern nur durch Erkenntnisse bessern läßt. Und sie hat als den integrierenden Faktor im Lebensstil das Gemeinschaftsgefühl entdeckt, das zur Lösung aller Lebensfragen in ausschlaggebender Weise vorhanden sein muß. Die körperlichen und seelischen Erscheinungen, die das Gefühl des Versagens begleiten und charakterisieren, habe ich als Minderwertigkeitskomplex beschrieben. Freilich sind die Schockwirkungen im Falle des Minderwertigkeitskomplexes bei schlechter vorbereiteten Individuen größer als bei besser vorbereiteten, bei mutigeren Menschen geringer als bei entmutigten und stets Hilfe von außen suchenden. Konflikte, die ihn mehr oder weniger erschüttern, hat jedermann. Körperlich und seelisch fühlt sie jedermann. Unsere Körperlichkeit, die äußeren sozialen Verhältnisse ersparen keinem das Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber der Außenwelt. Hereditäre Organminderwertigkeiten sind allzu häufig, als daß sie durch die harten Anforderungen des Lebens nicht getroffen würden. Die Umweltsfaktoren, die auf das Kind einwirken, sind nicht von der Art, ihm den Aufbau eines »richtigen« Lebensstils leicht zu ermöglichen. Verwöhnung, vermeintliche oder wirkliche Vernachlässigung, besonders erstere, verleiten das Kind allzuoft, sich in Widerspruch zum Gemeinschaftsgefühl zu setzen. Dazu kommt noch, daß das Kind sein Bewegungsgesetz zumeist ohne richtige Anleitung findet, nach dem trügerischen Gesetz von Versuch und Irrtum, in eigner, nur durch die menschlichen Grenzen eingeengter Willkür, immer aber auch einem Ziel der Überlegenheit in millionenfachen Varianten zustrebend. Die schöpferische Kraft des Kindes benützt, »gebraucht« alle Eindrücke und Empfindungen als Impulse zu einer endgültigen Stellungnahme, zur Entwicklung seines individuellen Bewegungsgesetzes. Man hat diese von der Individualpsychologie hervorgehobene Tatsache später als »Einstellung« oder als »Gestalt« bezeichnet, ohne dem Ganzen des Individuums und seiner Verbundenheit mit den drei großen Fragen des Lebens gerecht zu werden, auch ohne die Leistung der Individualpsychologie dabei anzuerkennen. Ist nun der Konflikt eines »schlimmen« Kindes, eines Selbstmörders, eines Verbrechers, eines erzreaktionären Menschen, eines sinnlos ultraradikalen Kämpfers, eines saumselig Dahinlebenden, eines durch die Not, die ihn umgibt, in seiner Behaglichkeit gestörten Prassers, ist dieser Konflikt samt den körperlichen und seelischen Folgen bereits »die Neurose«? Sie alle treffen in ihrem verfehlten, beharrlichen Bewegungsgesetz die von der Individualpsychologie betonte »Wahrheit«, geraten in Widerspruch mit dem sub specie aeternitatis »Richtigen«, mit der unerbittlichen Forderung einer idealen Gemeinschaft. Sie verspüren die freilich tausendfachen Folgen dieses Zusammenstoßes, freilich in tausendfachen Varianten, körperlich und seelisch. Aber ist dies die Neurose? Gäbe es nicht die unerbittlichen Forderungen der idealen Gemeinschaft, könnte jeder im Leben seinem verfehlten Bewegungsgesetz genügen — man kann phantasievoller auch sagen: seinen Trieben, seinen bedingten Reflexen — so gäbe es keinen Konflikt. Niemand kann eine derart sinnlose Forderung aufstellen. Sie regt sich nur schüchtern, wenn einer die Verbundenheit von Individuum und Gemeinschaft übersieht oder zu trennen versucht. Jeder beugt sich mehr oder weniger willig dem ehernen Gesetz der idealen Gemeinschaft. Nur das zum äußersten verwöhnte Kind wird erwarten und verlangen: »res mihi subigere conor«, wie Horaz tadelnd hervorhebt. Frei übersetzt: die Gemeinschaftsbeiträge für mich auszunützen, ohne etwas beizutragen. »Warum ich meinen Nächsten lieben soll«, geht aus der untrennbaren Verbundenheit der Menschen hervor und aus dem unerbittlich richtenden Ideal der Gemeinschaft.2) Nur wer einen genügenden Anteil dieses Zieles zur Gemeinschaft in sich, in seinem Bewegungsgesetz trägt und ihn lebt wie Atmen, wird auch die ihm zukommenden Konflikte im Sinne der Gemeinschaft zu lösen imstande sein.

Wie jedermann erlebt auch der Neurotiker seine Konflikte. Sein Lösungsversuch aber unterscheidet ihn klar von allen anderen. Bei der Tausendfältigkeit von Varianten sind Teilneurosen und Mischformen stets zu finden. In seinem Bewegungsgesetz ist der Rückzug vor Aufgaben, die durch eine gefürchtete Niederlage seine Eitelkeit, sein vom Gemeinschaftsgefühl allzu stark getrenntes Streben nach persönlicher Überlegenheit, sein Streben, der Erste zu sein, gefährden könnten, von Kindheit her trainiert. Sein Lebensmotto: »Alles oder nichts«, meist wenig gemildert, die Überempfindlichkeit des stets von Niederlagen Bedrohten, seine Ungeduld, die Affektsteigerung des wie in Feindesland Lebenden, seine Gier, bringen häufiger und stärkere Konflikte hervor, als nötig wären, und machen ihm den durch seinen Lebensstil vorgeschriebenen Rückzug leichter. Die von Kindheit her trainierte und erprobte Taktik des Rückzuges kann leicht eine »Regression« auf infantile Wünsche vortäuschen. Aber nicht auf solche Wünsche kommt es dem Neurotiker an, sondern auf seinen Rückzug, den er gerne mit Opfern aller Art bezahlt. Auch hier liegt eine trügerische Verwechslung mit »Formen der Selbstbestrafung« nahe. Aber: nicht auf die Selbstbestrafung kommt es ihm an, sondern auf das Gefühl der Erleichterung durch den Rückzug, der ihn vor einem Zusammenbruch seiner Eitelkeit, seines Hochmutes bewahrt.

Vielleicht wird man jetzt endlich verstehen, was das Problem der »Sicherung« in der Individualpsychologie bedeutet. Es kann nur im ganzen Zusammenhang erkannt werden. Nicht als »sekundär«, sondern als hauptsächlich. Der Neurotiker »sichert« sich durch seinen Rückzug und »sichert« seinen Rückzug durch Steigerung der Schockerscheinungen körperlicher und seelischer Art, die im Zusammenstoß mit einem die Niederlage androhenden Problem entstanden sind.

Er zieht sein Leiden dem Zusammenbruch seines persönlichen Hochgefühls vor, von dessen Stärke bisher nur die Individualpsychologie Kenntnis hat. Dieses Hochgefühl, das in der Psychose nur oft deutlicher hervortritt, sein Überlegenheitskomplex, wie ich es genannt habe, ist so stark, daß der Neurotiker selbst es nur mit schaudernder Ehrfurcht von ferne ahnt und daß er gerne seine Aufmerksamkeit von ihm abwendet, wenn er es in der Wirklichkeit erproben soll. Es treibt ihn nach vorne. Er aber muß des Rückzuges wegen alles verwerfen, alles vergessen, was den Rückzug hindern könnte. Es gibt nur Raum dem Rückzugsgedanken, den Rückzugsgefühlen und den Rückzugshandlungen.

Der Neurotiker wendet sein ganzes Interesse dem Rückzug zu. Jeder Schritt vorwärts wird von ihm als ein Fall in den Abgrund mit allen Schrecken ausgestattet. Deshalb trachtet er mit aller Macht, mit allen seinen Gefühlen, mit allen seinen erprobten Rückzugsmitteln sich im Hinterland festzuhalten. Die Ausstattung seiner Schockerlebnisse, für die er sein ganzes Interesse aufwendet, wobei er vom einzig wichtigen Faktor abgewendet bleibt, von seiner Furcht vor der Erkenntnis, wie weit er von seinem egoistischen Hochziel entfernt ist, der große Aufwand meist metaphorisch eingekleideter und aufgepeitschter Gefühle, wie der Traum sie liebt, um entgegen dem Common sense beim eigenen Lebensstil zu verharren, gestatten ihm, sich an den nun fertigen Sicherungen festzuhalten, um nicht der Niederlage entgegengetrieben zu werden. Die Meinung und das Urteil der anderen, die bei Ausbruch der Neurose mildernde Umstände gelten lassen, aber ohne sie den zitternden Nimbus des Neurotikers nicht anerkennen würden, wird zur größten Gefahr. Kurz gesagt: die Ausnützung der Schockerlebnisse zum Schütze des bedrohten Nimbus — das ist die Neurose. Oder noch kürzer: die Stimmungslage des Neurotikers gestaltet sich zu einem »Ja, aber«. Im »Ja« steckt die Anerkennung des Gemeinschaftsgefühls, im »Aber« der Rückzug und seine Sicherungen. Man schadet der Religion nur, wenn man sie oder ihr Fehlen für die Neurose verantwortlich macht. Man schadet jeder politischen Partei, wenn man ihre Anerkennung als Heilung der Neurose anpreist.

 

Als unser Patient die Universität verlassen hatte, versuchte er als Hilfskraft in einer Rechtsanwaltskanzlei unterzukommen. Er blieb dort nur wenige Wochen, weil ihm sein Wirkungskreis zu dürftig vorkam. Nachdem er mehrmals aus diesem Grund und aus anderen Gründen gewechselt hatte, beschloß er, sich lieber theoretischen Studien hinzugeben. Man lud ihn zu Vorlesungen über Rechtsfragen ein, aber er lehnte ab, »weil er vor einem größeren Kreis nicht sprechen könne«. In dieser Zeit, er war damals 32 Jahre alt, stellten sich seine Symptome ein. Ein Freund, der ihm helfen wollte, erbot sich, mit ihm zugleich das Referat zu erstatten. Unser Patient stellte die Bedingung, als Erster zu sprechen. Er betrat die Plattform zitternd und verwirrt und fürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Er sah nur schwarze Flecken vor den Augen. Kurz nach der Vorlesung fanden sich seine Magenbeschwerden ein, und er stellte sich vor, er müsse sterben, wenn er noch einmal vor vielen Leuten sprechen müßte. In der nächsten Zeit beschäftigte er sich nur damit, Kindern Unterricht zu geben.

Ein Arzt, den er befragte, erklärte ihm, er müsse sich sexuell betätigen, um gesund zu werden. Wir könnten das Unsinnige eines solchen Rates voraussehen. Der Patient, der sich bereits am Rückzug befand, beantwortete diesen Rat mit Syphilisfurcht, mit ethischen Bedenken und mit der Furcht, betrogen und der Vaterschaft eines illegitimen Kindes bezichtigt zu werden. Seine Eltern rieten ihm zu einer Heirat und hatten damit scheinbar Erfolg, als sie ihm auch das Mädchen zur Ehe brachten. Es trat eine Schwangerschaft ein und die Frau verließ das Haus, um zu ihren Eltern zurückzukehren, da sie, wie sie sagte, die fortwährende Kritik von oben herab nicht länger ertragen konnte.

Wir sehen schon jetzt, wie hochmütig unser Patient sein konnte, wenn sich ihm eine leichte Gelegenheit bot — wie er aber sofort den Rückzug antrat, wenn ihm die Sache unsicher schien. Um Weib und Kind kümmerte er sich nicht. Er war immer nur darum besorgt, nicht minderwertig zu scheinen, und diese Besorgnis war stärker als sein Streben nach dem so sehnlichst gesuchten Erfolg. Er scheiterte, als er an die Front des Lebens kam, geriet in eine andauernde Gefühlswelle höchster Angst un d verstärkte seinen Rückzug durch Aufrichtung von Schreckgespenstern, weil ihm der Rückzug dadurch erleichtert war.

Stärkere Beweise? Wir wollen sie in zweifacher Art erbringen. Erstens, indem wir in die Zeit seiner frühen Kindheit zurückgreifen wollen, um festzustellen, daß er zu dem Lebensstil verleitet wurde, den wir bei ihm gefunden haben. Zweitens, indem wir weitere gleichlaufende Beiträge aus seinem Leben herbeitragen wollen. Ich würde es in jedem Falle als den stärksten Beweis der Richtigkeit eines Befundes dieser Art ansehen, wenn sich herausstellte, daß die weiteren Beiträge zur Charakteristik einer Person mit der bereits gefundenen vollkommen übereinstimmen. Sollten sie es nicht, dann müßte die Auffassung des Untersuchenden entsprechend geändert werden.

Die Mutter war, wie der Patient angibt, eine weiche Frau, an der er sehr hing, und die ihn gründlich verzärtelte, auch immer von ihm ganz große Leistungen erwartete. Der Vater war weniger zur Verwöhnung geneigt, gab aber unter allen Umständen nach, wenn der Patient unter Weinen seine Wünsche vorbrachte. Unter den Geschwistern zog er einen jüngeren Bruder vor, der ihn vergötterte, ihm jeden Wunsch erfüllte, ihm wie ein Hündchen nachlief und sich von ihm immer leiten ließ. Der Patient war die Hoffnung seiner Familie und konnte sich auch bei den anderen Geschwistern immer durchsetzen. Eine ungewöhnlich leichte, warme Situation also, die ihn für die Außenwelt ungeeignet machte.

Dies zeigte sich sofort, als er zum erstenmal in die Schule sollte. Er war der Jüngste in der Klasse und nahm dies zum Anlaß, seine Abneigung gegen diese Außenposition durch zweimaligen Schulwechsel zu bekunden. Dann aber lernte er mit ungeheurem Eifer, um alle anderen Schüler zu übertreffen. Wenn ihm dies nicht gelang, so trat er einen Rückzug an, blieb häufig wegen Kopf- und Magenschmerzen aus der Schule weg oder kam häufig zu spät. War er gleich in dieser Zeit nicht unter den besten Schülern, so schrieben er und die Eltern diesen Umstand seinen häufigen Absenzen zu, während unser Patient gleichzeitig stark betonte, daß er mehr wußte und mehr gelesen hatte als alle anderen Schüler.

Bei den geringsten Anlässen steckten ihn die Eltern ins Bett und pflegten ihn vorsorglich. Er war immer ein ängstliches Kind gewesen und schrie oft im Schlafe auf, um seine Mutter auch des Nachts mit sich zu beschäftigen.

Es versteht sich, daß er über die Bedeutung und über den Zusammenhang aller dieser Erscheinungen nicht im klaren war. Sie alle waren der Ausdruck, die Aussprache seines Lebensstils. Er wußte auch nicht, daß er deshalb bis spät in den Morgen hinein im Bette las, um am nächsten Tage das Privilegium zu genießen, spät aufstehen zu können und so eines Teiles seiner Tagesarbeiten ledig zu werden. Mädchen gegenüber war seine Scheu noch größer als gegenüber Männern, und dieses Verhalten überdauerte die ganze Zeit seiner Entwicklung zum Manne. Daß es ihm in jeder Lebenssituation an Mut gebrach, daß er um keinen Preis seine Eitelkeit aufs Spiel setzen wollte, kann leicht verstanden werden. Die Unsicherheit, von Mädchen gut aufgenommen zu werden, kontrastierte stark mit der Sicherheit, mit der er die Hingabe der Mutter erwarten durfte. In seiner Ehe wollte er die gleiche Herrschaft errichten, deren er sich bei Mutter und Brüdern erfreute und mußte natürlich scheitern.

Ich konnte feststellen, daß in den ältesten Kindheitserinnerungen, freilich oft gut verborgen, der Lebensstil eines Individuums zu finden ist. Unseres Patienten älteste Erinnerung lautete: »Ein kleiner Bruder war gestorben, und der Vater saß vor dem Hause und weinte bitterlich.« Wir erinnern uns, wie der Patient vor einer Vorlesung nach Hause flüchtete und zu sterben vorgab.

Wie einer zur Frage der Freundschaft steht, charakterisiert sehr gut seine Fähigkeit zum Gemeinschaftsmenschen. Unser Patient gibt an, daß er immer nur kurze Zeit Freunde besessen habe und daß er sie immer beherrschen wollte. Man wird dies wohl nur Ausbeutung der Freundschaft anderer nennen können. Als er auf diesen Umstand freundlich hingewiesen wurde, antwortete er: »Ich glaube nicht, daß irgend einer sich für die Gemeinschaft einsetzt, jeder tut es nur für sich.« Wie er sich für den Rückzug rüstet, geht auch aus folgenden Tatsachen hervor: Er möchte gerne Artikel oder ein Buch schreiben. Aber wenn er sich zum Schreiben hinsetzt, kommt er in eine solche Erregung, daß er nicht denken kann. Er erklärt, nicht schlafen zu können, wenn er vorher nicht liest. Aber wenn er liest, bekommt er einen Druck im Kopfe, so daß er nicht schlafen kann. Sein Vater starb vor kurzer Zeit, gerade als der Patient eine andere Stadt besuchte. Kurz hernach sollte er dort eine Stelle annehmen. Er lehnte ab unter Vorgabe, er würde sterben, wenn er diese Stadt betreten müßte. Als man ihm in seiner Stadt eine Stelle anbot, schlug er sie aus mit der Motivierung, er würde die erste Nacht nicht schlafen können und am nächsten Tag deshalb versagen. Erst müsse er ganz gesund werden. Daß auch im Traum des Patienten sein Bewegungsgesetz, dieses »Ja, aber« des Neurotikers wieder zu finden ist, dafür ein Beispiel. Man kann mit der Technik der Individualpsychologie die Dynamik eines Traumes finden. Sie sagt uns nichts Neues, nichts, was wir nicht sonst auch aus dem Verhalten des Patienten erkennen konnten. Man kann aus den richtig verstandenen Mitteln und aus der Auswahl der Inhalte erkennen, wie der Träumer, geleitet durch sein Bewegungsgesetz, bemüht ist, entgegen dem Common sense seinen Lebensstil durch künstliche Erweckung von Gefühlen und Emotionen durchzusetzen. Und man findet auch oft Hinweise darauf, wie der Patient seine Symptome unter dem Druck der Furcht vor einer Niederlage erzeugt. Ein Traum dieses Patienten lautet: »Ich sollte Freunde besuchen, die jenseits einer Brücke wohnten. Das Geländer war mit Farbe frisch gestrichen. Ich wollte ins Wasser schauen und lehnte mich ans Geländer. Dieses stieß gegen meinen Magen, der zu schmerzen begann. Ich sagte zu mir selbst: du sollst nicht ins Wasser hinabschauen. Du könntest hinunterfallen. Aber ich wagte es doch, ging abermals bis zum Geländer, blickte hinab und ging rasch zurück, indem ich überlegte, es sei doch besser, in Sicherheit zu sein.«

Der Besuch der Freunde und das frisch gestrichene Geländer deuten auf die Hinweise betreffs des Gemeinschaftsgefühls und des Neuaufbaues eines besseren Lebensstils. Die Furcht des Patienten, von seiner Höhe herabzufallen, sein »Ja, aber«, sind klar genug hervorgehoben. Die Magenbeschwerden als Folge eines Furchtgefühls sind, wie früher beschrieben, konstitutionell immer zur Hand. Der Traum zeigt uns die ablehnende Haltung des Patienten gegenüber den bisherigen Bemühungen des Arztes und den Sieg des alten Lebensstils unter Zuhilfenahme eines eindringlichen Bildes einer Gefahr, wenn die Sicherheit des Rückzuges in Frage gestellt ist.

 

Die Neurose ist die dem Verständnis des Patienten entzogene, automatische Ausnutzung von Symptomen, die aus Schockwirkungen entstanden sind. Diese Ausnutzung liegt solchen Menschen näher, die für ihren Nimbus allzusehr fürchten und die schon in der Kindheit, meist als verwöhnte Kinder, auf diesen Weg der Ausnutzung gelockt wurden. Noch einiges über die körperlichen Erscheinungen, wo die Phantasien einiger Autoren Triumphe feiern. Die Sache steht so: der Organismus ist ein Ganzes und hat als Gabe und Geschenk der Evolution das Streben zum Gleichgewicht, das sich unter schwierigen Umständen so weit als möglich durchsetzt. Zur Erhaltung des Gleichgewichts gehört die Abänderbarkeit des Herzschlages, die Tiefe des Atmens, die Zahl der Atemzüge, die Gerinnbarkeit des Blutes, die Beteiligung der endokrinen Drüsen; da zeigt sich immer deutlicher, daß insbesondere seelische Erregungen das vegetative System und das endokrine System in Erregung versetzen und zu vermehrter oder veränderter Sekretion veranlassen. Wir können heute noch am ehesten Veränderungen der Schilddrüse infolge der Schockwirkungen verstehen, die manchmal sogar lebensgefährlich werden können. Ich habe solche Patienten gesehen. Der größte Forscher auf diesem Gebiet, Zondek, hat sich meiner Mithilfe versichert, um festzustellen, welche seelische Einwirkungen mit im Spiele sind. Es ist ferner keine Frage, daß alle Fälle von Basedowerkrankungen als eine Folge von seelischen Erschütterungen auftreten. Es sind gewisse Menschen, bei denen seelische Erschütterungen die Schilddrüse irritieren.

Auch Fortschritte der Forschung über die Irritation der Nebenniere sind gemacht worden. Man kann von einem Sympathico-Adrenalin-Komplex sprechen; besonders bei Zornaffekten ist die Beimengung von Nebennierensekret vermehrt. Der amerikanische Forscher Cannon hat an Tierversuchen gezeigt, daß bei Zornausbrüchen eine Vermehrung des Adrenalingehaltes eintritt. Das führt zur Verstärkung der Herztätigkeit und anderen Veränderungen, so daß man verstehen kann, daß Kopfschmerzen, Gesichtsschmerzen, vielleicht epileptische Anfälle durch einen psychischen Anlaß hervorgerufen werden können. Dabei handelt es sich immer um Menschen, die durch ihr Problem immer wieder aufs neue gereizt werden. Es ist klar, daß es sich da um die Dauer von Problemen handelt. Wenn man es mit einem 20jährigen nervösen Mädchen zu tun hat, wird man wohl annehmen können, daß hier Berufsfragen, wenn nicht Liebesfragen drohend vor ihr stehen. Bei einem 50jährigen Mann oder einer Frau wird man unschwer erraten, daß es das Problem des Alters ist, das der Betreffende glaubt nicht lösen zu können oder tatsächlich nicht lösen kann. Wir empfinden die Tatsachen des Lebens niemals direkt, sondern nur durch unsere Auffassung, sie ist maßgebend.

Die Heilung kann nur auf intellektuellem Wege, durch die wachsende Einsicht des Patienten in seinen Irrtum und durch die Entwicklung seines Gemeinschaftsgefühls zustandekomen.

 

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1) In: Über den nervösen Charakter, l. c.

2) Siehe auch A. Adler, ›Der Sinn des Lebens‹. In: Zeitschrift für Individual­psychologie. 1931. S. 161 ff.


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