Verwahrloste Kinder
(1920)
Unter den Kriegsfolgen, mit denen das Volk beglückt wurde, steht nicht an letzter Stelle die außerordentliche Steigerung der Verwahrlosung der Jugend. Sie ist wohl allen aufgefallen, und mit Schaudern haben alle davon Kenntnis genommen; denn die veröffentlichten Zahlen waren bedeutsam und können nur übertroffen werden durch die Überlegung, die uns sagt, daß nur der kleinere Teil davon uns zur Kenntnis kommt und daß eine Unzahl von anderen Fällen in der Verschwiegenheit der Familie sich abspielt, monatelang, jahrelang, bis endlich Menschen vor uns stehen, die man nicht mehr zu den Verwahrlosten, sondern zu den Verbrechern zählen muß. Die Zahlen sind groß; die Zahl derer, die nie in einer Statistik vorkommen, ist größer. Man hofft von Tag zu Tag auf eine Änderung, versucht auch irgendwelche Mittel, und da es eine Anzahl von Vergehen unter den Verwahrlosten gibt, die nicht direkt mit dem Strafgesetz und Jugendgericht zu tun haben, die aber doch die Familie schwer schädigen, so werden sie verschleiert, ohne daß eine Änderung im Wesen des Verwahrlosten eintritt. Allerdings, es ist nicht angebracht, den Fehlern und Vergehen der Jugend gegenüber die Hoffnung zu verlieren, obwohl bei der außerordentlich mangelhaften Erkenntnis und bei der Verständnislosigkeit, mit der man ihnen zumeist gegenübersteht, nicht allzuviel Hoffnung gerechtfertigt ist. Doch muß hervorgehoben werden, daß in der Entwicklungslinie jedes Menschen, besonders in der Jugend, nicht alles nach idealen Normen abläuft, sondern daß oft Ausartungen vorkommen, und wenn wir an unsere eigene Jugend und die unserer Kameraden zurückdenken, so werden wir eine große Fülle von Verfehlungen vor Augen haben auch von Kindern, die doch in der späteren Zeit halbwegs tüchtige oder sogar hervorragende Menschen geworden sind. Wie weit verbreitet in der Jugend Vergehungen sind, mag Ihnen ein flüchtiger Überblick zeigen. Ich habe gelegentlich in taktvoller Weise Untersuchungen in Schulklassen gepflogen, die den einzelnen nicht verletzen konnten. Auf ein Blatt Papier, welches nicht mit Namen zu versehen war, wurde Antwort auf die Fragen gegeben, ob ein Kind jemals gelogen oder gestohlen habe, und gewöhnlich war das Ergebnis, daß sämtliche Kinder kleine Diebstähle zugaben. Interessant war ein Fall, in dem sich auch die Lehrerin an der Beantwortung beteiligte und sich auch eines eigenen Diebstahls erinnerte. Nun bedenken Sie einmal die Komplikation dieser Frage! Der eine hat einen nachsichtigen und verständnisvollen Vater, der mit ihm zurechtzukommen sucht, und es gelingt ihm in vielen Fällen. Der andere, der vielleicht genau dasselbe getan hat, vielleicht nur auffälliger, ungeschickter, verletzender, wird sofort von der ganzen Wucht der häuslichen Disziplin getroffen, und man züchtet in ihm die Überzeugung, daß er ein Verbrecher sei. So kann es uns nicht wundern, daß auch das verschiedene Maß der Beurteilung zu verschiedenen Ausgängen führt. Es ist das schlechteste Prinzip von allen schlechten Prinzipien in der Erziehung, einem Kind vorauszusagen, daß aus ihm nichts werden wird, oder daß es eine Verbrechernatur besitze,1) Anschauungen, die in das Reich des Aberglaubens führen, obwohl auch oft Gelehrte irrtümlich von angeborenen Verbrechern sprechen. So jammervoll die Feststellung wirkt: die landläufige Erziehung kennt kein Mittel, mit der beginnenden oder vorgeschrittenen Verwahrlosung sicher fertig zu werden. Das darf uns nicht wundernehmen, weil es sich hier um Vorgänge im kindlichen Seelenleben handelt, deren Verständnis vorläufig noch auf einen außerordentlich kleinen Kreis beschränkt ist.
Wenn wir von Verwahrlosung sprechen, haben wir gewöhnlich die Jahrgänge der Schule im Sinn. Aber der erfahrene Untersucher wird eine Anzahl von Fällen nachweisen können, deren Verwahrlosung schon vor der Schulzeit vollzogen war. Man kann sie nicht immer der Erziehung zuschreiben. Die Eltern mögen sich gesagt sein lassen: so fleißig sie auch ihr Werk betreiben, jener Anteil der Erziehung, von dem sie nichts wissen oder merken, der aus anderen Kreisen eindringt, jener Erziehung, die das Kind beeinflußt, ohne daß sie es wissen, ist viel größer als der Einfluß der bewußten Erziehung. Es sind eigentlich die gesamten Umstände, die gesamten Verhältnisse des Lebens und der Umwelt, die in die Kinderstube hinein ihre Wellen entsenden. Das Kind wird von der Schwere der Erwerbsverhältnisse des Vaters getroffen, es merkt die Feindseligkeit des Lebens, auch wenn man nicht davon spricht. Es wird sich seine Anschauung mit unzulänglichen Mitteln bilden, mit kindlichen Auffassungen, mit kindlichen Erfahrungen. Aber diese Weltanschauung wird für das Kind zur Richtschnur, es wird in jeder Lage diese Weltanschauung zugrunde legen und entsprechende Nutzanwendungen ziehen. Letztere sind größtenteils unrichtig, weil man es mit einem unerfahrenen Kind zu tun hat, dessen Logik unentwickelt ist, das Fehlschlüssen unterworfen ist. Aber bedenken Sie den gewaltigen Eindruck, den ein Kind bekommt, dessen Eltern in schlechter Wohnung und gedrückter sozialer Lage leben, gegenüber dem eines Kindes, bei dem dieses Gefühl der Feindseligkeit des Lebens nicht so deutlich wird. Diese zwei Typen sind so verschieden, daß man es jedem Kind am Sprechen, ja am Blick ansehen kann, zu welchem Typus es gehört; und der zweite Typus, der sich mit der Welt leichter befreundet, weil er von ihren Schwierigkeiten nichts weiß oder sie leichter überwindet: wie wird dieses Kind ganz anders dastehen im Leben, voll Selbstvertrauen und Mut, und wie wird sich das in der Körperhaltung allein schon spiegeln! Ich habe bei Kindern in Proletarierbezirken untersucht, wovor sie sich am meisten fürchten: fast alle vor Schlägen! Also vor Erlebnissen, die sich in der Familie abspielen. Solche Kinder, die in der Angst vor dem starken Vater, dem Pflegevater, der Mutter aufwachsen, haben das Gefühl der Ängstlichkeit bis in die Mannbarkeit, und wir müssen feststellen, daß im Durchschnitt der Proletarier nicht den weltfreundlichen Eindruck macht wie der Bürger, der mutiger ist als jener. Und nicht wenig von der beklagenswerten Tatsache geht darauf zurück, daß er in der Angst vor dem Leben und vor Prügeln aufgewachsen ist. Es ist das schädlichste Gift, Kinder pessimistisch zu stimmen; sie behalten diese Perspektive für das ganze Leben, trauen sich nichts zu und werden unentschlossen. Das spätere Training zu einer mutigen Haltung aber beansprucht dann viel Zeit und Mühe. — Die Kinder aus wohlhabenden Bezirken antworteten auf jene Frage, wovor sie sich fürchteten, zumeist: vor Schularbeiten. Das zeigt, wie sie nicht die Personen, nicht ihr eigenes Milieu schrecken, sondern wie sie sich mitten im Leben sehen, wo es Aufgaben und Arbeiten gibt, vor denen sie sich fürchten, was uns allerdings auch Schlüsse ziehen läßt auf unhaltbare Schulzustände, die in den Kindern Angst erwecken statt sie zu einem fröhlichen, mutigen Leben zu erziehen.
Nun zur Verwahrlosung vor der Schulzeit. Es wird uns nicht wundernehmen, wenn unter den aufgepeitschten Stimmungen, die in Kindern durch irgendwelche störende Beziehungen erregt werden können, z. B. dadurch, daß sie Furcht vor dem Leben bekommen, daß sie den Nächsten als Feind betrachten usw., das Kind den rastlosesten Versuch machen wird, sich zur Geltung zu bringen, nicht als der Niemand zu erscheinen, zu dem man Kinder so oft zu machen versucht. Es ist eines der wichtigsten Prinzipien in der Erziehung, das Kind ernst zu nehmen, als gleichwertig anzusehen, es nicht herabzusetzen oder mit Spottreden zu überhäufen, nicht komisch zu finden, weil das Kind alle diese Äußerungen seines Gegenübers als drückende aufnimmt und aufnehmen muß, wie ja der Schwächere immer anders empfindet als der, der sich in der geruhigen Stellung des Besitzes geistiger oder körperlicher Überlegenheit befindet. Wir können nicht einmal genau sagen, wie sehr ein Kind dadurch getroffen ist, daß es Leistungen nicht vollbringen kann, deren Vollbringung es täglich von Eltern und älteren Geschwistern bestaunen kann. Dies muß berücksichtigt werden, und wer sich den Blick angeeignet hat, in der Seele der Kinder zu lesen, der wird bemerken, daß sie eine außerordentliche Gier nach Macht und Geltung, nach erhöhtem Selbstbewußtsein haben, daß sie wirken wollen, als bedeutsame Faktoren auftreten wollen — und der kleine Gernegroß ist nur ein Spezialfall unter ihnen — die man allenthalben nach Macht ringen sieht. Man kann sich Verschiedenheiten bald erklären. In einem Falle lebt das Kind in Eintracht mit den Eltern, im anderen aber gerät es in feindselige Haltung und entwickelt sich im Gegensatz zu den Forderungen des gesellschaftlichen Lebens, nur um nicht zusammenzubrechen mit dem Bewußtsein: »Ich bin hier nichts, ich gelte nichts, man sieht über mich hinweg.« Kommt es zu dieser letzteren Entwicklung, daß Kinder in dem durchbrechenden Gefühl ihres Nichts, ihrer sinkenden Bedeutung sich zur Wehr setzen — und alle setzen sich zur Wehr —, dann können sich auch früh die Erscheinungen der Verwahrlosung zeigen. Ich habe einmal ein sechsjähriges Scheusal gesehen, das bereits drei Kinder umgebracht hatte. Die Untat vollzog das geistig etwas zurückgebliebene Mädchen folgendermaßen: es suchte — es war in einer Ortschaft auf dem Lande — kleinere Mädchen auf, nahm sie zum Spiel mit sich und stieß sie dabei in den Fluß. Erst beim drittenmal kam man auf den Täter. Wegen des auffälligen Tatbestandes lieferte man sie in eine Irrenanstalt ein. Das Mädchen zeigte von Erkenntnis der Verworfenheit seiner Taten keine Spur. Sie weinte zwar bei solchen Erörterungen, ging aber gleich zu etwas anderem über, und nur mit Mühe konnte man über den Tatbestand und über die Motive etwas Näheres erfahren. Sie war vier Jahre lang die Jüngste unter lauter Brüdern gewesen und wurde ziemlich verzärtelt. Dann kam eine Schwester, und die Aufmerksamkeit der Eltern wendete sich der Jüngsten zu, als ältere mußte sie ein wenig zurückstehen. Sie vertrug es aber nicht und faßte einen Haß gegen die eigene jüngere Schwester, dem sie aber nicht nachgehen konnte, weil das kleine Kind stets sorgfältig behütet wurde und vielleicht, weil ihr klar war, daß eine Entdeckung sehr leicht gewesen wäre. Da verschob sich ihr Haß generalisierend auf alle jüngeren Mädchen, die ihre vermeintlichen Feindinnen waren. In allen sah sie die jüngere Schwester, derentwegen man sie nicht mehr so verzärtelte wie früher. Und aus dieser Stimmung ging sie, wohl auch durch eine leichte Imbezillität in der Entfaltung eines Gemeinschaftsgefühls gestört, in ihrem Haß so weit, zu töten. Versuche, solche Kinder in kurzer Zeit auf gute Wege zu bringen, scheitern oft wegen ihrer geistigen Minderwertigkeit, die häufiger ist als man glaubt. Hier bleibt nur übrig, sich auf lange Zeit gefaßt zu machen und mit besonderem erzieherischen Takt in einer Art von Dressur das Kind wieder lebensfähig zu machen. Aber diese Fälle, die außerordentlich häufig sind, sind wegen der geistigen Minderwertigkeit weniger interessant, und wir könnten uns mit ihnen als einem traurigen Naturspiel abfinden, weil es eben Kinder sind, die in die menschliche Gesellschaft nie ganz hineinpassen. Die große Menge der verwahrlosten Jugend ist frei von geistiger Minderwertigkeit. Man findet im Gegenteil oft außerordentlich begabte Kinder unter ihnen, die eine Zeitlang recht gut vorwärts gekommen sind und Fähigkeiten bis zu einem gewissen Punkt entwickelt haben, die aber, einmal gescheitert, das Scheitern auf einer Hauptlinie des menschlichen Lebens fürchten und nicht verwinden können. Jeder Fall zeigt die regelmäßigen Charakterzüge: außerordentlich stark entwickelten Ehrgeiz, der im Innern verschlossen bleibt; Empfindlichkeit gegen Zurücksetzungen aller Art; Feigheit, die nicht im einfachen Davonlaufen besteht, wohl aber im Auskneifen vor dem Leben und seinen allgemeingültigen Forderungen. Man kann aus diesen wenigen Strichen ein Bild des Zusammenhanges geben: Nur ein ehrgeiziges Kind ist imstande, vor einer Aufgabe, die ihm über seine Kraft zu gehen scheint, zurückzuschrecken und sich auf einen anderen Weg zu begeben, als ob es die Schwäche verdecken wollte. Dies ist der gewöhnliche Gang der Verwahrlosung .in der Schule. Wir finden immer, daß die Verwahrlosung mit einem Mißerfolg zusammenhängt, der vorausgeht oder droht und zur Hoffnungslosigkeit führt. Die Erscheinung der Verwahrlosung besteht anfangs in einem Vermeiden der Schule. Das Schwänzen muß natürlich verborgen werden, und est kommt anfangs zu Fälschungen von Entschuldigungen und Unterschriften. Was aber soll das Kind mit der freien Zeit tun? Da muß eine Beschäftigung gesucht werden. Dadurch ergibt sich nun meist ein Zusammenschluß von mehreren, die die gleiche Linie betreten haben, die das gleiche Schicksal drückt. Nun sind es immer ehrgeizige Kinder, die gern eine Rolle spielen möchten, die sich aber eine Befriedigung ihres Ehrgeizes auf der Hauptlinie nicht mehr zutrauen. So suchen sie nach anderen Betätigungen, die sie befriedigen. Es findet sich immer der eine oder andere, der sich am besten zum Anführer eignet, und die Konkurrenz der Ehrgeizigen stellt sich ein. Jeder hat einen Einfall, was man machen könnte. Entsprechend den Formen der Großen haben sie eine »Berufsehre« der Verwahrlosten. Sie strengen sich an, Taten zu ersinnen und mit Meisterschaft, immer jedoch mit List und Hinterlist, da sie sich — eine Folge ihrer Feigheit — alleiniges und offenes Vorgehen nicht zutrauen, zum Ruhme vor ihren verwahrlosten Kameraden auszuführen. Kommt einmal einer auf diese Bahn, dann geht es weiter und weiter. Zuweilen geraten geistig Minderwertige in die Bande. Die werden verspottet und gehänselt, ihr Stolz wird dadurch erst recht angeeifert, und sie entschließen sich zu besonderen Taten. Oder sie sind von Haus aus an eine bestimmte Dressur gewöhnt, sie sind auf Folgsamkeit dressiert, ihnen wird diktiert: sie führen die Tat aus. Es kommt oft vor, daß der eine die Untat ersinnt und der Jüngere, Unerfahrene, Minderwertige sie unternimmt. Ich übergehe andere Verlockungen, obwohl man auch darüber sprechen sollte, z. B. schlechte Bücher oder das Kino, die erst in dieser Phase als Leitfaden gut wirken. Das Kino könnte sich ja gar nicht halten, wenn nicht die Geschicklichkeit und besondere List in seinen Darbietungen, sei es der Verbrecher, sei es der Detektive, die Zuschauer anregte. In der Überschätzung der List zeigt sich gleichfalls die Lebensfeigheit. Die Bandenbildung ist so häufig, daß man immer daran denkt, wenn man von Verwahrlosten spricht. Aber auch die Einzelverwahrlosung ist häufig. Das Schicksal eines solchen Lebens gleicht ganz dem eben geschilderten, nur daß die nächsten Beweggründe andere zu sein scheinen. Wir wollen festhalten, daß bei den geschilderten Verwahrlosten ihr Schicksal aufkeimt, wenn sie eine Niederlage erlitten haben, oder wenn sie ihnen droht. Genauso ist es bei den Einzelverwahrlosungen. Die einfachsten, fast unschuldigen Fälle gehorchen der Regel genauso wie die schwersten: Immer ist es die Verletzung des persönlichen Ehrgeizes, die Furcht, sich zu blamieren, ein Gefühl des Sinkens in ihrem Machtbestreben und Machtbewußtsein, das zum Ausreißen auf eine Nebenlinie Anlaß gibt; es ist, als ob sich diese Kinder einen Nebenkriegsschauplatz gesucht hätten. Oft zeigen sie sich unter der besonderen Form der Faulheit, die nicht etwa als angeboren oder als schlechte Gewohnheit zu betrachten ist, sondern als Mittel, sich keiner Probe unterziehen zu müssen. Denn das faule Kind kann sich immer auf die Faulheit berufen: Fällt es bei einer Prüfung durch, so ist die Faulheit schuld, und es legt lieber der Faulheit seine Niederlage zur Last als einer Unfähigkeit. Nun muß das Kind wie ein erfahrener Verbrecher sein Alibi machen, es muß durch Faulheit jederzeit nachweisen, warum es durchgefallen ist, und es gelingt ihm; es ist durch seine Faulheit gedeckt, seine seelische Situation ist in bezug auf die Schonung seines Ehrgeizes erleichtert geworden.
Wir kennen die Übelstände der Schule. Die überfüllten Klassen, die ungeeignete Schulung mancher Lehrer, manchmal auch das mangelnde Interesse der Lehrer, die unter den Lebensverhältnissen so sehr leiden, daß man von ihnen nicht mehr erwarten kann, zum größten Teil aber das Dunkel, das über diese seelischen Verwicklungen gebreitet ist — diese Umstände machen es aus, daß bisher so trostlose Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler bestehen wie sonst nirgends im Leben. Macht der Schüler einen Fehler, so bekommt er eine Strafe oder schlechte Note. Das käme dem Falle gleich, wie wenn jemand das Bein bräche, und der herbeigerufene Arzt würde feststellen: »Sie haben einen Beinbruch! Adieu!« So ist doch Erziehung nicht gemeint. Die Kinder fördern sich in diesen schlimmen Verhältnissen zwar vielfach selbst, aber mit welchen Lücken pilgern sie weiter! Bis sie an einen Punkt kommen, wo die Mängel so groß sind, daß sie stecken bleiben. Da muß man nur gesehen haben, wie schwer das beste Kind dann vorwärts kommt, wie sich infolge der angesammelten Schwierigkeiten und Lücken das peinliche Bewußtsein regt: »Du kannst das nicht, was die andern zustande bringen!«, wie sein Ehrgeiz verletzt und gereizt wird! Meist ist selbst bei fachkundiger Hilfe die Lücke im Wissen nicht in kurzer Zeit auszufüllen. Die ersten redlichen Anstrengungen eines solchen Kindes bleiben unbelohnt, und trotz allen Eifers reifen die Früchte erst nach Monaten. Das Kind, die Umgebung, der Lehrer verlieren viel früher die Geduld, und das Kind gibt sein Interesse und seinen Eifer wieder verloren. Viele kommen weiter, aber andere eröffnen den Nebenkriegsschauplatz.
Die Einzelverwahrlosung vollzieht sich also in der gleichen Art. Auch hier ragt das Gefühl der Minderwertigkeit, der Unzulänglichkeit, der Herabsetzung hervor. Ich entsinne mich eines Knaben, des einzigen Kindes seiner Eltern, die viele Mühe auf die Erziehung verwendeten. Schon mit fünf Jahren faßte er das Verschließen der Kasten, wenn die Eltern fortgingen, als schwere Beleidigung auf, kam erst so dazu, sich einen Nachschlüssel zu verschaffen und die Kasten zu plündern. Er war durch sein Streben nach Selbständigkeit auf diesen Weg gedrängt und entwickelte sein Machtstreben gegenüber den Eltern entgegen dem Gesetz der Gemeinschaft, und bis heute — er ist 18 Jahre alt — verübt er Hausdiebstähle, von denen die Eltern glauben, daß sie ihnen alle bekannt werden. Wenn der Vater ihm öfter sagt: »Was nützt es denn? Sooft du stiehlst, komme ich dahinter!«, so hat der Junge das stolze Gefühl, daß der Vater nicht einmal den 20. Teil erfährt, und stiehlt weiter in der Überzeugung, man müsse nur schlau genug sein. Hier sehen Sie die so häufige Kampfstellung des Kindes gegen Vater und Mutter, die es zu irgendwelchen Handlungen gegen die Gemeinschaftsmoral treibt. Auch erwachsen wird sich der junge Mann die seelischen Hilfen und Stützen verschaffen, die es ihm ermöglichen, weiter seine Untaten ohne Gewissensbisse zu vollführen. Der Vater ist ein großer Geschäftsmann, und wenn der Sohn auch nicht zu den Arbeiten zugelassen wird, weiß er doch genau, daß der Vater Kettenhandel betreibt, und wenn er mit jemand spricht, so bezeichnet er die Angriffe seines Vaters als ungerecht, weil der dasselbe wie er in größerem Stil macht. Hier sehen wir wieder die Erziehung der Umgebung, von der die Eltern nichts wissen. Eine Kindheitserinnerung dieses Jünglings zeigt seinen alten, heimlichen Gegensatz zum Vater. Auf einem Spaziergang hielt der Vater eine brennende Zigarre in der Hand, während er sich mit einem Geschäftsfreund unterhielt. Der Knabe empfand dies als Zurücksetzung und hielt zur Rache seine Hand so, daß die Zigarre des Vaters an sie stieß und zu Boden fiel.
Noch ein Fall aus Proletarierkreisen. Ein sechsjähriger Knabe, ein uneheliches Kind, wird von der inzwischen verheirateten Mutter ins Haus genommen. Der wirkliche Vater ist verschollen, der Stiefvater aber ist ein älterer, brummiger Mann, der, ohne Interesse für Kinder, doch seiner eigenen Tochter mit Zärtlichkeit anhängt, sie liebkoste und ihr Zuckerwerk brachte, während der ältere Knabe das Nachsehen hatte. Eines Tages verschwand der Mutter ein größerer Geldbetrag spurlos. Aber bald darauf nahm sie bei weiteren Verlusten wahr, daß der Sohn der Dieb sei, und daß er die Summen auf den Ankauf von Naschwerk verwendete, das er gelegentlich mit Kameraden teilte, letzteres sicherlich, um sich hervorzutun. Sie sehen auch hier den Nebenkriegsschauplatz, mit der alten Hauptaufgabe bedacht, sich doch siegreich durchzusetzen, Ansehen zu gewinnen. Das ging mehrere Male so, Prügelszenen folgten, denn der Vater schonte ihn nicht; ich sah das Kind mit Striemen, zerkratzt und zerhackt am ganzen Körper. Trotz der Prügelstrafe hörten die Diebstähle natürlich nicht auf. Die Mutter war allerdings ungeschickt, indem sie die Diebstähle erleichterte, aber wie viele Eltern zeigen sich in solchen Fällen geschickt? Die Aufklärung dieses Falles ergab, daß der Knabe bei einer älteren Bäuerin in Pflege gewesen war; auf ihren Wegen in die umliegenden Dörfer zog sie ihn immer mit und gab ihm hier und da Zuckerwerk. Nun kommt der Knabe in die neue Lage: Er findet sich gegen früher außerordentlich benachteiligt. Die kleine Schwester wird verzärtelt und mit Naschwerk beschenkt, er nicht; sie wird beachtet und geehrt, er nicht; in der Schule war er sehr brav. Sie sehen: wie unter einem Zwang zeigt sich sein Fehler gerade dort, wo sein Feind saß. So ist es in vielen Fällen, daß die Verwahrlosung wie ein Racheakt wirkt, daß sie dem Kind eine seelische Erleichterung verschafft.
Oder der Fall eines elfjährigen Mädchens, das, von Vater und Mutter frühzeitig verstoßen, bei der Großmutter aufwuchs. Die Mutter, eine Jüdin, hatte kurz nach der Geburt des illegitimen Kindes geheiratet und sich aus dem Staube gemacht. Der Vater verbot dem Kinde, als er einmal mit seiner neuen Gattin zu Besuch kam, ihn Vater zu nennen. Das Kind wuchs in einer katholischen Umgebung als Jüdin auf und lebte in heftigem Kampf mit seinem jüdischen Religionslehrer, der es gleich in der ersten Klasse durchfallen ließ. Kurz nachher beging das Kind eine Reihe von Diebstählen und verwendete die gestohlenen Gegenstände zu Geschenken für seine Mitschülerinnen, um sie zu bestechen und vor ihnen zu prahlen. Seine Prahlsucht, gereizt und hervorgerufen durch seine traurige Stellung in der Schule, zeigte sich auch darin, daß es mit Vorliebe Messingringe an den Fingern trug.
Eines muß man noch feststellen: Es sind nicht aktive, mutige Vergehen, die von Verwahrlosten verübt werden, außer wenn sie in größerer Zahl ausrücken, was uns wieder auf ihre Feigheit verweist. Das Hauptdelikt ist der Diebstahl, den man als Feigheitsdelikt bezeichnen muß. Aber auch alle anderen Verbrechen zeigen sich in ihrer Struktur als Feigheit.
Wenn wir den ganzen Zusammenhang und die Stellung dieser Kinder zur Gesellschaft klar erkennen wollen, so sehen wir zweierlei: 1. ihr Ehrgeiz ist ein Zeichen ihres Strebens nach Macht und Überlegenheit, und deshalb suchen sie ihre Geltung auf einem anderen Gebiet als auf der Hauptlinie, wenn sich diese verschließt; 2. ihr Zusammenhang mit den Menschen ist irgendwie dürftig, sie sind keine guten Mitspieler, sie fügen sich nicht leicht in die Gesellschaft ein, sie haben etwas Eigenbrödlerisches an sich, sie haben den Kontakt mit der Mitwelt nicht; manchmal ist von Liebe zu den Angehörigen nicht mehr übrig als der Schein oder Gewohnheit, oft fehlt auch diese, und sie werden sogar gegen die Familie tätlich. Sie spielen die Rolle von Menschen, deren Gemeinschaftsgefühl Mangel gelitten, die den Zusammenhang mit den Menschen nicht gefunden haben, und sie sehen den Nebenmenschen als etwas Feindliches. Auch mißtrauische Züge sind bei ihnen sehr häufig, sie sind immer auf der Lauer, ob sie nicht der andere übervorteilen wird, und ich habe von solchen Kindern oft gehört, daß man »gerissen«, d. h. den anderen überlegen sein müsse. Das Mißtrauen schleicht sich in alle Beziehungen ein und macht, daß die Schwierigkeiten des Zusammenlebens immer zunehmen. Feige List erwächst ihnen von selbst aus ihrem mangelnden Zutrauen zu sich selbst.
Es fragt sich nun, ob Machtstreben und mangelhaftes Gemeinschaftsgefühl verschiedene Triebfedern abgeben? Gewiß nicht, es sind nur zwei Seiten derselben psychischen Haltung. Unter einem gesteigerten Machtstreben muß ja das Gefühl der Zusammengehörigkeit leiden. Wer von jenem besessen ist, denkt nur an sich, an seine Macht und Geltung und läßt andere außer acht. Wenn es gelingt, das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu entwickeln, ist die beste Sicherung gegen Verwahrlosung gegeben.
Uns quält die Sorge, was heute in der Zeit der gesteigerten Verwahrlosung zu tun wäre. Selbstverständlich wäre es recht und billig, möglichst rasch einzugreifen. Schon in den friedlichsten Zeiten ist die bürgerliche Gesellschaft über Verwahrlosung und Verbrechen nicht Herr geworden. Sie konnte nur strafen, sich rächen, höchstens abschrecken, nicht aber das Problem lösen. Sie konnte die Verwahrlosten fernhalten — und nun bedenken Sie das schwere Schicksal der Leute, deren Vereinsamung allein sie zum Verbrechen führen muß, die ja Verbrecher sind, weil sie den Zusammenhang verloren haben. So entstehen aus ihnen Gewohnheitsverbrecher! Es ist auch ein großer Übelstand, daß man verwahrloste Kinder in der Zeit der Untersuchung mit Gleichartigen oder gar Verbrechern zusammenbringt.
Man muß rechnen, daß ungefähr 40% der Verbrecher unentdeckt bleiben. Bei den Verwahrlosten aber ist es noch ärger. Vor kurzer Zeit wurde ein jugendlicher Mörder verurteilt, von dem nur der Verteidiger wußte, daß schon sein zweiter Mord in Verhandlung stand. Wenn diese Menschen zusammenkommen, so unterhalten sie sich darüber, wie oft sie nicht entdeckt ruurden. Das erschwert natürlich die Bekämpfung des Verbrechens, gibt vielmehr den Verbrechern immer neuen Mut und verleiht ihnen die Emotion eines — wenngleich abscheulichen — Heldentums.
Aber man sieht auch den Übelstand in der Art der Stellungnahme der Gesellschaft. Gericht und Polizei arbeiten erfolglos, weil für sie immer andere Fragen in Betracht kommen als die radikal wirkenden. Zur Abhilfe ist zunächst nötig, daß der amtliche Apparat ein anderer, menschenfreundlicher wird. Es müssen Anstalten errichtet werden, die diese verwahrlosten Kinder wieder ins Leben zurückführen, sie von der Gesellschaft nicht abschließen, sondern ihr geneigt machen. Das gelingt nur, wenn man das volle Verständnis für ihre Eigenart hat. Es geht nicht an, daß irgendwer (etwa ein ehemaliger Offizier oder Unteroffizier) eine leitende Stelle an einer Anstalt für Verwahrloste bekommt, weil er Protektion hat. Es dürfen nur Menschen in Betracht kommen, deren Gemeinschaftsgefühl sehr stark entwickelt ist, die Verständnis für die ihnen Anvertrauten haben. Der Kern meiner Ausführungen ist scharf im Auge zu behalten: daß in einer Gesellschaft, in der jeder leicht zum Feind des andern wird — unser ganzes Erwerbsleben verleitet ja dazu — die Verwahrlosung unausrottbar ist. Denn Verwahrlosung und Verbrechen sind Produkte des Kampfes ums Dasein, wie er in unserem wirtschaftlichen Leben geführt wird. Seine Schatten fallen früh in die Seele des Kindes, erschüttern sein Gleichgewicht, zerstören sein Gemeinschaftsgefühl, fördern seine Großmannssucht und machen es feige und unfähig zur Mitarbeit.
Zur Eindämmung und Beseitigung der Verwahrlosung wäre eine Lehrkanzel für Heilpädagogik notwendig, und es ist nicht zu verstehen, daß sie bis heute noch fehlt. Das wirkliche Verständnis für die Verwahrlosten ist an allen Stellen sehr dürftig. Es müßte jeder, der mit irgendeiner Funktion in dieser Frage betraut ist, gezwungen werden, sich an dieser Schule zu betätigen und nachzuweisen, welche Mittel er anwenden will. Sie müßte eine Zentralstelle sein, an die man sich in allen Angelegenheiten wenden könnte, die eine Vorbeugung und Bekämpfung der Verwahrlosung betreffen.
Außerdem müßten bezirksweise Beratungsstellen im Zusammenhang mit den Schulen für die leichten Fälle geschaffen werden. Für die schweren Fälle müßten sie den Angehörigen den Weg weisen, den diese sonst nie finden.
Schließlich müßten auch die Lehrer mit der Individualpsychologie und Heilpädagogik bekannt gemacht werden, damit sie imstande sind, gleich im Anfang die Zeichen der Verwahrlosung zu erkennen, helfend einzugreifen oder dem nahenden Übel im Keim mit Takt und Liebe entgegenzutreten. Eine Musterschule müßte ferner zur praktischen Ausbildung der Hilfskräfte dienen.
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1) Siehe Birnbaum, ›Hoffnungslose Eltern‹. In: Internat. Zeitschr. f. Individualpsych., II. Jahrg., 3. Heft. Wien 1924.