III. Versuch der »Umkehrung« als männlicher Protest 1.
1. Daß sich dieses »Umgekehrt«, dieses »Alles umkehren wollen« auf das Trachten des Patienten bezieht, sich männlich zu gebärden, will ich in der Analyse eines Traumes zeigen. Vorerst fühle ich die Verpflichtung, kurz auf ein Thema einzugehen, das ich in der Einleitung dieses Buches theoretisch abgehandelt habe. Der Schlaf ist im Sinne unserer Auffassung der Psyche als eines Sicherungsorganes ein Zustand oder eine Hirnfunktion, bei der die korrigierenden Fähigkeiten der psychischen Organisation ihre Arbeit teilweise eingestellt haben. Die »Schlaftiefe« bedeutet demnach den Grad dieser Arbeitseinstellung. Die biologische Bedeutung dieser Einrichtung könnte sein, die jüngsten und zartest organisierten spezifischen Gehirnfunktionen, als welche wir die korrigierenden verstehen, durch Ruhepausen zu schonen. Die Korrektur aber erfolgt durch Anspannung und aufmerksame Betätigung unserer Sinnesorgane, zu denen wir auch den Bewegungsapparat zu rechnen haben. Da dieser empfindende Apparat im Schlafe teilweise ausgeschaltet ist, der uns die Sicherung unseres Seins über die körperlichen Grenzen hinaus gewährleistet, ist die Anpassung an die Außenwelt im weitesten Sinne verlorengegangen, dadurch aber auch die normale Möglichkeit einer Korrektur. Nun überwuchert die Fiktion, deren Inhalt selbst als primitive, analogische, bildhafte Sicherung gegen das Gefühl der Minderwertigkeit nachzuweisen ist. In dieser Fiktion wird nun auf ein aktuelles Minderwertigkeitsgefühl reagiert, als ob eine Gefahr bestünde, wieder nach unten zu kommen. Und da dieses zaghafte Vorausempfinden oft als weiblich verstanden wird, in absichtlich zu weit getriebener Sicherungstendenz, reagiert die noch wachende Psyche mit dem Ziel der Überlegenheit, mit dem männlichen Protest. Daraus entstehen dann im Jargon der kindlichen Seele Darstellungen von abstrakter, zerlegter, verdichteter, verkehrter symbolischer, sexueller Art, deren imaginärer Ausbau ursprünglich gleichfalls aus der gesteigerten Sicherungstendenz entstanden ist. — Die symbolische, demnach fiktive und in ihren dynamischen Gehalt aufzulösende Darstellung des Traumes, resp. gewisser Traumkonstellationen, eile von Freud und seiner Schule noch als real bedeutsam in nackter sexueller Bedeutung hingenommen werden, wie sexuelle Darstellungen, perverse Gedankengänge, Sadismus und Masochismus Inzestkonstellationen scheint Bleuler vorgeschwebt zu sein, wenn auch er von der symbolischen Bedeutung der Sexualvorgänge spricht. Der Unterschied in der Traum- und Neurosenanalyse, wie sie Freud übt, gegenüber der meinen liegt von diesem Punkte besehen darin, daß Freud die absichtlich übertriebene Fiktion des Patienten als real wirkendes Erlebnis ansieht, die Absicht übersieht und ihn zum Verzicht auf die »bewußtgewordene Phantasie« anleitet. Meine Ansicht geht tiefer: die Fiktion des Patienten als tendenziöse Erdichtung aufzulösen, sie zurückzuverfolgen bis zu ihrem Ursprung aus Minderwertigkeitsgefühlen und männlichem Protest. Die korrigierenden Fähigkeiten des Patienten, die durch seine affektive Einstellung gebunden sind, können nur im Sinne des Gemeinschaftsgefühls erlöst und zur Herstellung einer Harmonie von männlichen Protestregungen und Wirklichkeit verwendet werden. Denn das Wesen der Neurose und Psychose liegt in der Bindung korrigierender Kräfte, ein Zustand, bei dem die Fiktion des Patienten im Sinne des männlichen Protestes deutlicher hervortritt. Die Neurosenwahl aber ist bedingt durch die infantile Gestaltung dieser Fiktion und ist von der Art, daß sie in der Umgebung zur Geltung zu gelangen sucht, gleich einem Ausströmen in der Linie des geringsten Widerstandes.
Die »verkehrte« Handlungsweise gewisser Neurotiker muß also an eine solche ursprüngliche Fiktion anknüpfen, die offenbar den Zweck hat, im Sinne eines männlichen Protestes ein gegebenes, als minderwertig empfundenes Verhältnis umzukehren. Die Tendenz, alles umzukehren, wird dann die Art der Neurose bestimmend beeinflussen. Unsere Patientin zeichnete sich dadurch aus, daß sie Moral, Gesetz, Ordnung usw. in und außer dem Hause umzukehren versuchte. Und der Ausgangspunkt ihrer protestierenden Handlungsweise war eine falsche Unterwertung ihrer weiblichen Rolle, deren Gefahren sie übertreibend empfand. Um dieser zu entgehen, versuchte sie den Ursprung ihrer Weiblichkeit aufzuspüren in der Erwartung, sich wieder ins Männliche umkehren zu können, und blieb mit ihren Erklärungsversuchen bei zwei Ereignissen haften. Sie kam, wie die Mutter ihr bei ihren Putschversuchen schon in den jüngsten Jahren vorhielt, verkehrt zur Welt, und sie kam nach einem männlichen Geschwister. So wollte sie nun alles umkehren, ihre Geburt und die Geburtenabfolge. — Ihr Gebaren war immer auf Umkehrungen aus. Bei mir versuchte sie anfangs stets die Überlegene zu spielen, mich zu belehren und die Unterhaltung zu stören. Eines Tages nahm sie auf meinem Stuhl Platz. Aus einer späteren Phase der Behandlung stammt folgender Traum:
»Ich sehe einem Karussell zu. Später steige ich auch hinauf. Es beginnt eine schnelle Drehung und ich fliege auf die Person, die vor mir fährt, die mit mir auf eine andere und so weiter. Ich war ganz oben. Da sagte der Leiter des Karussells: ›Jetzt werden wir verkehrt drehen!‹ Und plötzlich waren wir wieder auf unserem Platz.«
Die Einfälle der bereits gut geschulten Patientin ergeben folgendes: »Ringelspiel könnte ›das Leben‹ bedeuten. Vielleicht habe ich einmal scherzweise äußern gehört, daß Leben sei ein Ringelspiel. Daß ich auf jemanden hinauffliege, ist eine aus früheren Deutungen bekannte Vorstellung, ich bin ein Mann, bin oben — und hat Beziehung zum Sexualverkehr. Übrigens sagt man in Wien, ich fliege auf jemanden, d. h. ich möchte ihn besitzen. — Die räumliche Vervielfältigung dieser Szene ist zeitlich aufzulösen: Ich fliege auf viele. Der Leiter müssen Sie sein, denn Sie sagen mir öfters, daß ich es verkehrt treibe, verkehrt haben wolle. Wenn es nach Ihnen ginge, dann wäre ich auf meinem Platz, wäre ein Weib.« —
Die Deutung dieses Traums ist also bis zu der von mir aufgestellten Forderung gediehen, so daß man voraus versteht, die Träumerin beantwortet ein Empfinden ihrer weiblichen Rolle mit einem männlichen Protest. In ihrem Sinne heißt das, ihre natürliche Bestimmung umkehren, ins Gegenteil verkehren. Wie stark dieser Protest ist, sieht man unter anderem aus dem Versuch der öfteren Wiederholung des Hinauffliegens, was bei der Psychologie des Don Juan sowie des Messalinentypus, bei der Erotomanie und Manie als charakteristisch anzusehen ist. Beim Messalinentypus ist die rastlose Eroberung der Rest der Umkehrungstendenz ins Männliche, beim Don Juan muß diese Wiederholung als gesteigerter Protest, demnach als Kompensation eines Minderwertigkeitsgefühles verstanden werden. Und noch ein weiterer Verrat dieser starken Sehnsucht nach Umkehrung zeigt sich in der Umkehrung des Gedankenganges im Traumbild. Der Sinn ergibt ein »Aufsteigen« zur Männlichkeit, der Wortlaut ein Absteigen auf ihren Platz, zur Weiblichkeit. Freud hat in seiner »Traumdeutung« darauf hingewiesen, daß man manche Träume verkehrt lesen müßte, ohne diese Merkwürdigkeit erklären zu können. Unsere Auffassung gestattet zu sagen, daß die Tendenz in der Traumfiktion auch das äußere Gefüge des Traumes umzukehren imstande ist. Der Affekt dieses Traumes ist deutlich gegen mich gerichtet.
Aus der Krankengeschichte der Patientin ist noch hinzuzusetzen, daß sie oft über Kopfschmerzen des Morgens, wie diesmal nach dem Traume klagte, die sie auf ihre merkwürdige Lage zurückführte, in der sie sich oft beim Erwachen fand. Bald hing der Kopf über den Bettrand nach abwärts, bald lag sie verkehrt im Bett mit dem Kopf am Fußende. Beide Lagen erklären sich als Versuche sich umzukehren. Von ihr stammt auch ein Traum, in dem alle Personen am Kopfe standen. Ferner kommt noch ein Detail ihrer Krankengeschichte in Betracht, das besonders von den Eltern als krankhaft aufgefaßt wurde: eine Tanzwut, die sie oft ergriff und zwang, sich in tollem Wirbel herumzudrehen. Die Deutung ergab »gleichzeitig«, also durch eine gemeinsame Tendenz verursachte Phantasien, in denen ein Mann mit Erfolg um ihre Liebe warb. Das Motiv der Umdrehung kehrt auch hier wieder, aber gemildert durch die aufrechte Haltung, bei der vermieden erscheint, was Patientin am meisten fürchtete: die Überlegenheit des Mannes. Beim Tanz herrscht nach ihrer willkürlichen Einschätzung Gleichheit, es war ihr gefühlsmäßiger Eindruck: »Da kann ich auch den Mann spielen.«
Die Patientin litt dauernd an Harn- und Stuhlinkontinenz, weil ihr dieses Leiden, wie ihr die Mutter schon in der Kindheit versicherte, eine Heirat unmöglich machen konnte.
Wo war nun das aktuelle Gefühl der Minderwertigkeit, auf das die Patientin mit einer Tendenz der Umkehrung antwortete? Am Vortage des Traumes hatte sie einer Freundin Vorwürfe gemacht, weil diese einen jungen Mann in seiner Wohnung besucht hatte. Die Freundin wandte ein, ob unsere Patientin nicht auch schon eine Dummheit gemacht habe. Nachträglich erinnerte sich Patientin, daß sie vor mehreren Jahren, als von einer ärztlichen Behandlung bei mir noch keine Rede war, zu mir mit einer persönlichen Bitte gekommen war, ohne daß die Mutter davon wußte. Bei der Art unserer Beziehungen konnte von einer zärtlichen Regung der Patientin gegen mich keine Rede sein. Nichtsdestoweniger griff ihr Widerstand in der Kur auch zu einer Fiktion, als sei sie ähnlich wie die Freundin »auf einen Mann geflogen«. Sie hielt daran um so lieber fest, als sie daraus einen kategorischen Imperativ machen konnte, niemals einen Mann zu besuchen, und zweitens, weil sie diese Stimmung gegen mich anwenden konnte, der ihr überlegen zu werden drohte, Einfluß auf sie zu gewinnen schien. Der Traum ist ein trotziges Nein und hat neuropsychologisch die gleiche Wertigkeit wie Harn- oder Stuhlinkontinenz. Denn es besagt: »Ich lasse mich nicht von einem Manne überreden, ich will oben sein, ich will ein Mann sein!«
Während der Kur, als schon wesentliche Fortschritte im Befinden der Patientin eingetreten waren, begab es sich einmal, daß sie beobachtete, wie ihr Vetter, der bei ihnen wohnte, ein Dienstmädchen attackierte. Sie erschrak darüber so sehr, daß sie den ganzen Tag weinte. Weinend kam sie auch in die Ordination und schloß ihre Erzählung entrüstet: »Nun heirate ich den ersten besten, damit ich nur aus diesem Hause hinauskomme!« Es war leicht zu vermuten, daß dieser Gedanke nach der Vorgeschichte des Mädchens, die immer ein Mann sein wollte, eine Fortsetzung in Art einer Reaktion bekommen mußte, und ich erwartete, daß sich eine Wendung zum Schlimmeren einstellen würde. Denn bei der psychischen Konstitution dieses Mädchens mußte die Reaktion derart ausfallen, daß der Gedanke, den ersten besten zu heiraten, ein heftiges Bedenken in ihr auslösen mußte, die Gefahren ihrer Handlungsweise betreffend. In der Tat konnte ich die Reaktion am nächsten Tage bereits beobachten. Sie war ungebärdiger als sonst, kam ausnahmsweise pünktlich, aber wie in einer Gegenwehr wies sie nachdrücklich auf diese Pünktlichkeit hin. Hierauf erzählte sie einen Traum:
»Mir war es, als ob eine Reihe von Heiratskandidaten in einer Reihe aufgestellt waren. Am Schlüsse der Reihe standen Sie. Ich ging an allen vorbei und wählte Sie zum Manne. Mein Vetter wunderte sich sehr darüber und fragte, warum ich einen Mann wähle, dessen Fehler mir bereits bekannt seien? Ich antwortete: ›Eben deshalb!‹ Dann sagte ich zu Ihnen, ich möchte mich auf einen der Männer, die einen spitzen Kopf hatten, hinaufstellen. Sie sagten: ich solle das lieber lassen.«
»Eine Reihe von Heiratskandidaten« —— Gestern sagte sie, sie wolle den Erstbesten heiraten. Im Traum, wo sie den letzten nimmt, ist es umgekehrt. Dann fällt ihr ein Satz aus Herberts Pädagogik ein: Wenn eine Reihe von Vorstellungen hintereinander ins Bewußtsein treten, so hebt immer die nächste die vorhergehende auf. Aus dem Vergleich dieses Einfalls mit der entsprechenden »Skizze« des Traumes (»eine Reihe von Heiratskandidaten«) geht hervor, daß sie keinen will, was ja von uns vorausgesehen wurde. Die Traumdeutung ergibt dann weiter: oder einen, den ich ganz kenne. Das wäre ich. Dabei eine Fortsetzung der Entwertung: da sie meine Fehler kennt. Der Vetter soll sich wundern, so wie sie sich — umgekehrt — wegen seines Vorgehens gewundert hat. Der Mann mit dem spitzen Kopf ist einer ihrer früheren Verehrer, dessentwegen sie viel geneckt worden war. Er ist in den Traum eingeführt, um an ihm zu demonstrieren, wie sie dem Manne überlegen sein möchte, wie sie sich ihm auf den Kopf stellen möchte, um oben zu sein. Dieses »Oben-sein-Wollen«, einer der prägnantesten Ausdrücke für den männlichen Protest, ist nur ein anderer Ausdruck für das »Umgekehrt«, kooperiert in diesem Traume mit dem »Umgekehrt«, und kehrt folgerichtig wieder in der Herabsetzung meiner Person, »dessen Fehler sie schon kennt«. Ich sagte wirklich, »sie solle das lieber sein lassen«, nämlich den überhitzten männlichen Protest aufgeben. — Sie begnügte sich mir gegenüber mit einer harmlosen Herabsetzung.
Ihre Stellung zum Manne wurde durch die Erfahrung, die sie an ihrem Vetter machte, also nochmals verschärft. Sie begnügt sich aber diesmal im übertriebenen Ausdruck ihres männlichen Protestes, die Türe ihres Schlafzimmers zu sperren und sich so zu sichern, als ob der Vetter auch sie attackieren wollte, nicht mehr wie früher, wo sie als Schutz gegen die Ehe und um die Mutter an sich zu fesseln ihr Bett mit Urin und Stuhl beschmutzte.
Das Zurückgreifen in kindliche Situationen hängt mit dem Wesen der starken Abstraktion zusammen. Die Neurotiker sind Menschen, die anstatt wie die Künstler und Genies in Anerkennung der Tatsachen aktiv neue Wege zu finden, tendenziös die Erinnerungen ihrer Kindheit absuchen, wenn sie sich erheben und vor gegenwärtigen und zukünftigen Gefahren sichern wollen. Ebenso stark fällt dabei in die Waagschale, daß ihre kindliche, analogische Apperzeption nicht in der Richtung der Gemeinschaft korrigiert wird, sondern in der Richtung der starken persönlichen Sicherung um jeden Preis. So bekommt man den Eindruck des Infantilen, was aber nicht als psychische Hemmung zu verstehen ist, sondern im kindlichen Gleichnis darstellt, wie sich der Patient in der Welt zurechtzufinden sucht.
Recht häufig findet man die Tendenz zum »Umgekehrt« in einer Form des Aberglaubens, die dahin zielt, so zu handeln, als ob man das Gegenteil von heftig begehrten Befriedigungen erwarte. Man hat den Eindruck, als wollten diese Patienten Gott oder das Schicksal foppen, ein Versuch, der von vornherein erkennen läßt, ein wie starkes Gefühl der Unsicherheit vorwaltet, wie die Unternehmung dahin zielt, durch einen Kunstgriff einem Wesen beizukommen, das stärker und übelwollend ist. Mit diesem Charakterzug steht ein anderer oft in Verbindung, von der eigenen Lage einen schlechten Eindruck hervorrufen zu wollen, um den Neid, den Haß des anderen nicht zu erwecken. Volkspsychologisch reiht sich hier die Furcht vor dem »bösen Blick« und das »Opfer« an, letzteres dargebracht, um nicht die Mißgunst mächtiger Wesen zu erwecken. Man erinnere sich an den »Ring des Polykrates«.