III. Versuch der »Umkehrung« als männlicher Protest (2)


2. E. W., 24 Jahre alt, jüngstes Kind eines Tabikers, leidet seit 5 Jahren an Zwangserscheinungen. Bis vor einem Jahre hatte sie eine auffallende Erschwerung im Sprechen. Sie blieb stecken, suchte vergeblich nach Worten und hatte dabei stets das Gefühl, man beobachte sie beim Reden. Sie mied deshalb, soweit es ging, jede Gesellschaft, zeigte sich sehr niedergeschlagen und war nicht fähig, einen Unterricht zu genießen, den sie andererseits behufs ihrer weiteren Ausbildung sehr erstrebte. Ihre Mutter, eine nervöse, ewig nörgelnde Frau, deren hervorstechendster Charakterzug Geiz war, versuchte sie durch Strenge, gelegentlich auch durch Kuren bei Nervenärzten von ihren trüben Gedanken abzubringen und ihre Sprechhemmungen zu beseitigen. Da dies nicht gelang, schickte sie die Tochter zu Verwandten nach Wien, und in der Tat verschwand nach der Rückkehr die Sprachhemmung vollständig. In der Ordination bei mir, also ein Jahr nachher, zeigte sich keine Spur davon. Aber es hatten sich andere Symptome eingestellt. Das Mädchen wurde regelmäßig, sobald sie mit jemandem einige Worte gewechselt hatte, von dem Gedanken befallen, daß dem andern ihre Gesellschaft, ihre Person unangenehm und peinlich sei. Und diese Zwangsvorstellung, die sie auch zu Hause und wenn sie allein war beschäftigte, warf sie jedesmal wieder in eine betrübte Stimmung zurück, so daß sie nach wie vor jede Gesellschaft mied.2 )Ihr Zwangsdenken hatte für sie den gleichen Wert wie ihr Sprachfehler: sich der Gesellschaft entziehen zu können.

Ich finde es immer mehr als einen bewährten Grundsatz, die ersten Mitteilungen aus dem Munde der Patientin dazu zu benutzen, mir ein ungefähres Bild zu entwerfen, was die Patientin mit ihrem Leiden bezwecke. Man muß dieses Bild nach Art einer Fiktion, nach Art eines »Als-Ob« gestalten, in der Überzeugung, daß die weitere Analyse mancherlei Ausge­staltungen bringen werde. Dabei muß es gestattet sein, der eigenen Erfahrung entsprechend die Frage aufzuwerfen und zu beantworten, welches Bild die nunmehr Erkrankte normalerweise bieten sollte oder könnte. So gewinnt man den nötigen Vergleichspunkt und kann die Abweichung vom Normalen, somit den sozialen Schaden der Krankheit messen. Da zeigt sich nun regelmäßig, daß gerade das normalerweise zu erwartende Bild aus irgendwelchen Ursachen den Patienten schreckt, ja, daß er ihm auszuweichen trachtet. In unserem Fall gelingt es unschwer zu erraten, daß es die normale Beziehung zum Mann ist, vor der sich das Mädchen zu sichern trachtet. Es wäre nun weit gefehlt anzunehmen, daß mit dieser vorläufigen Supposition das Rätsel gelöst wäre, wenngleich durch meine psychologischen Vorarbeiten auch das Hauptmotiv dieses Ausweichens, die Furcht vor dem Mann, die Furcht zu unterliegen, als vorläufiges summarisches Erklärungsprinzip vorweggenommen werden darf. Die Erwartung einer Heilung aber knüpft sich an die Aufdeckung der speziellen fehlerhaften Entwicklung, die durch einen pädagogischen Eingriff rückgängig gemacht werden muß. Dieser pädagogische Eingriff setzt an dem Verhältnis von Patient zum Arzt ein, das ja jede Phase der sozialen Einstellung des Kranken widerspiegeln muß. Auch dies muß vorausgesetzt werden, da sonst die Einreihung der Äußerungen der Patientin durch den Arzt mangelhaft wird und leicht wichtige Einstellungen für oder gegen den Arzt übersehen werden.

Schon die ersten Mitteilungen bestätigen und ergänzen diese Vermutungen. Patientin behauptet, stets ein lebenslustiges gesundes Kind gewesen zu sein und immer ihren Kolleginnen überlegen. Aus der bunten Menge ihrer Erinnerungen fördert sie folgende zutage:

Als sie 8 Jahre alt war, habe ihre zweite Schwester geheiratet. Ihr neuer Schwager hielt sehr auf Reputation und äußeren Anstand und verwies ihr ihren Umgang mit armen und schlechterzogenen Kindern. Überhaupt haben viele an ihr genörgelt. Aus der Schulzeit erinnere sie sich an einen Lehrer, der sie ungerecht behandelt habe. Sie sei durch ihn oft heftig gekränkt worden.

Als sie 18 Jahre alt war, sei in ihre Gesellschaft ein junger Student gekommen, um den sich alle ihre Freundinnen bewarben. Nur sie habe seine Siegeszuversicht unangenehm empfunden und sei ihm oft scharf entgegengetreten. Ihr Verhältnis zu ihm habe sich dadurch sehr verschlechtert, der Student habe sie in jeder Weise gekränkt und zurückgesetzt, so daß sie sich immer mehr aus der Gesellschaft zurückzog. Eines Tages ließ er ihr durch ein boshaftes Mädchen die Mitteilung überbringen, nun habe er sie erkannt, sie spiele nur eine Rolle und sei in Wirklichkeit ganz anders. Diese so wenig tiefsinnige und unbedeutende Bemerkung versetzte sie in einen Zustand der größten Unsicherheit.3) Sie dachte fortwährend über diese Worte nach, und es entwickelte sich bei ihr eine außerordentliche Zerstreutheit im Verkehr mit anderen Leuten. Wenn sie ins Gespräch kam, tauchte immer im Geiste der Student mit seiner Bemerkung vor ihr auf und hinderte sie an der Unbefangenheit in jeder Gesellschaft. Sie wurde erregt, wog jedes ihrer Worte ab und mußte oft im Gespräche stocken. So kam es, daß sie am liebsten allein war, das hieß für sie, sich auf die Gesellschaft ihrer zänkischen Mutter zurückzuziehen, wo sie freilich auch nicht zur Ruhe kam. Sie stand öfters in ärztlicher Behandlung, die jedesmal resultatlos endete. Von großer Wichtigkeit ist, den Standpunkt der Mutter im Auge zu behalten, die immer unentwegt betonte, alles bei ihrer Tochter seien »Einbildungen«, und sie könnte schon anders sein, wenn sie nur wollte, eine Kritik, die die Tochter immer aufregte und der sie entgegenstellte, die Mutter verstände nicht, was in ihr vorgehe.

So vergingen 4 Jahre, bis man sich entschloß, das Mädchen, das immer seltener in Gesellschaft ging, allein nach Wien zu Verwandten zu schicken. Sie blieb einige Wochen und kehrte anscheinend gesund, d. h. ohne Sprachstockungen zurück. Sie war aber viel zurückhaltender und schweigsamer geworden.

Kurz nach ihrer Rückkehr kam es zu den oben geschilderten Zwangsgedanken, und zwar nach einer erregten Szene mit dem Studenten, der sie abermals gegenüber ihrer Freundin herabzusetzen suchte.

Sie teilte noch weitere Erinnerungen mit. Der erwähnte Student hatte einmal aus Rache gegen ein Mädchen ein Komplott angestiftet und es zuwege gebracht, daß dieses Mädchen bei einem Tanzkränzchen von allen Jünglingen sitzengelassen wurde, worauf es weinend den Saal verließ. Über ein anderes Mädchen hatte er sich geäußert, sie würde sich auf den Kopf stellen, wenn er es verlangte. Meine Frage, ob ihr der Student nicht sympathisch gewesen sei, beantwortete sie ungezwungen mit: ja.

In der nächsten Stunde teilte sie mir einen Traum mit, den ich, um den Zusammenhang dieser Eindrücke zu geben, samt seiner Deutung hier anführen will. Der Traum lautet:

»Ich bin auf der Straße vor einem Arbeiter gegangen, der ein kleines blondes Mädchen führte.« Nun erzählt die Patientin zögernd, sie wisse nicht, wie sie zu derlei sinnlichen Gedanken komme: »der Vater habe sich in unerlaubter Weise an dem Mädchen vergriffen. Ich rief ihm zu: lassen Sie das Kind in Ruhe!«

Nach freundlichem Zureden entschließt sie sich zu folgender Mitteilung. Als sie vor einem Jahre bei ihrem Besuche in Wien im Theater war, habe sie vor sich während des Spiels einen Mann gesehen, der sein kleines Töchterchen unzüchtig berührte. Es war dies aber kein Arbeiter. Ungefähr um dieselbe Zeit wollte ein Kusin auf einem Ausfluge ihr unter die Röcke greifen. Sie wehrte ihn ab und rief: »Lassen Sie mich in Ruhe!«

Das kleine blonde Mädchen war sie selbst in der Kindheit. — Vor längerer Zeit habe sie in der Zeitung von einem Arbeiter gelesen, der sich an seinem Kind verging.

Der Ausgangspunkt dieses Traums waren Gedanken über die Krankheit und den Tod ihres Vaters. Sie hatte, angeregt durch eine Frage in der Kur, die Mutter danach gefragt und vernommen, daß der Vater an Rückenmarkschwindsucht gestorben sei. Meine Frage, ob sie über die Ursache dieser Krankheit im klaren sei, beantwortet sie dahin, sie habe gehört, daß sie vom »vielen Leben« komme. Ich teile ihr mit, daß dies unrichtig sei, aber bis in die letzte Zeit überall so angesehen werde. Vom Vater berichtet sie weiter, daß er ein untätiges Leben geführt habe und zum ewigen Verdruß der Mutter den ganzen Tag im Wirtshaus und im Kaffeehaus zugebracht hätte. Als er starb, war sie 6 Jahre alt. Eine Schwester habe sich vor 3 Jahren umgebracht, weil sie der Bräutigam verlassen habe.

Auf meine Frage, warum sie im Traum vor dem Arbeiter gehe, fällt ihr ein, »weil diese Ereignisse alle hinter ihr liegen«. Den »Arbeiter« vermag sie nicht zu erklären, sie weiß nur, daß er schlecht gekleidet, lang und hager war. Ich erinnere sie, getreu meiner vorgefaßten Meinung daran, sie wolle den Männern voraus, überlegen sein, und daß ihr Schwager sie vor dem Umgang mit schlecht gekleideten, offenbar Arbeiterkindern gewarnt habe, und so setze der Traum in anderer Absicht, nämlich um sie vor dem Umgang mit Männern zu warnen, diese Warnung fort. Dazu schweigt die Patientin. Eine Frage, die wegen der Anknüpfung an das Gespräch über den Vater sowohl als wegen des unverhüllt auftretenden Inzestproblems nahe genug lag, ob der Vater lang und hager war wie der Arbeiter im Traum, wird bejaht.

Die Deutung des Traumes ergibt für sich allein, aber besonders klar im Zusammenhang mit der supponierten psychischen Situation der Patientin eine deutliche Warnung vor den Männern und damit auch die Bestätigung unserer Arbeitshypothese, daß die Erkrankung des Mädchens dazu dienen soll, sie vor den Männern zu schützen. Der Traum sowohl als die Erkrankung stellen sich demnach als eine Aktion der Vorsicht dar, wodurch der psychogene Charakter der Krankheit sichergestellt ist. Ich will diesen Kernpunkt der Neurose als des Traumes, der sich mir als Zeichen des Vorausdenkens zum Zwecke der Sicherung der persönlichen Überlegenheit und Plusmacherei dargestellt hat, an diesem Material noch ausführlicher beleuchten.

Das normale menschliche Denken, aber auch seine präpsychischen (unbewußten) Akte stehen unter dem Drucke der Sicherungstendenz. Steinthal hat in ähnlicher Weise die Psyche als organische Gestaltungskraft hingestellt, die in hohem Grade die Anforderungen der Zweckmäßigkeit erfüllt. Auch Avenarius und andere wiesen auf die empirische Zweckmäßigkeit des menschlichen Denkens hin. Neuerdings Vaihinger (Die Philosophie des Als-Ob. 1911), dessen Betrachtungen ich lange nach Aufstellung der von mir beschriebenen Sicherungstendenzen und Arrangements kennengelernt habe. Bei ihm ist übrigens ein reiches Material auch aus anderen Autoren angesammelt, die ähnliche Auffassungen vertreten. Cla-parede sucht vielfach neurotische Symptome als Atavismus zu erklären, ein Versuch, der wie der Lombrosos und der Freuischen Schule abzuweisen ist, da in der Richtung des geringsten Widerstandes die Möglichkeiten aller vergangenen Zeiten jederzeit wieder neu aufleben können, ohne Zusammenhang mit früher existierenden Schutzeinrichtungen. Der Begriff der Zweckmäßigkeit aber schließt die Teleologie ein. Doch sagt er nichts aus über die Art und innere Natur einer Anpassung. Meine Auffassung dieser »Zweckmäßigkeit« besagt ganz präjudizierlich, daß die herrschende Tendenz der Psyche durch das Wesen der Vorsicht gegeben ist, die sich als kompensatorischer Überbau über organisch bedingte Empfindungen der Unsicherheit erhebt. Die quälendere Empfindung der Unsicherheit und Minderwertigkeit bei Kindern mit minderwertigen Organen oder mit stärkerer relativer Minderwertigkeit gegenüber ihrer Umgebung zwingt zu stärkerer Ausgestaltung, zur Forcierung der Sicherungstendenzen, deren äußerstes Maß über die neurotische Disposition hinaus zur Psychose oder zu Selbstmord führt. Wir entsinnen uns, daß eine Schwester unserer Patientin in einem Stadium verstärkten Minderwertigkeitsgefühls, als ihre Liebe verschmäht wurde, zum Selbstmorde schritt, eine psychische Wendung zur Wut und Rache, die ich für grundlegend halte für das Verständnis der Selbstmordkonstellation. In der ungeheuren, das Leben erfüllenden Dynamik ist als verstärkende Linie der männliche Protest eingetragen, »als ob« männlich sein gleichbedeutend wäre mit sicher, mit vollwertig.

Überblicken wir das Material, das uns die Patientin bisher geliefert hat, so finden wir lauter Erinnerungen, in denen ein Mann die Oberhand gewinnt oder gewinnen will, und einen Traum, der diese Auffassung dadurch bestätigt, daß sie in einer Art Skizze ausnahmslos alle Männer und somit auch den Vater — und dies ist in diesem Falle der Sinn der Inzestkonstellation — als unsittlich und maßlos hinstellt, und daß sie sich selbst vor diesen zügellosen Trieben wie ein Wild vor dem Jäger sichern will.

Diese zur Flucht, zur Rückzugslinie oder zur Gegenwehr gewandte Stellung muß irgendwo begonnen haben. Wir erwarten demnach Mitteilungen von Angriffen in weitestem Sinne des Wortes und von einer aus dem Unsicherheitsgefühl dieses Mädchens antwortende Einstellung, die uns die Reaktionsweise der Patientin verstehen lehrt, nicht etwa durch logische Verkettung, als ob aus einem Geschehnis kausal eine unbewußte Fixierung erfolgt wäre, sondern als irrtümliches Ergebnis aus der Unsicherheit des Mädchens und aus den Beanspruchungen der Außenwelt. Eine vorsichtige Fragestellung, betreffend die allerersten Erinnerungen, bestärkt durch ihr Ergebnis unsere Erwartung. Patientin erinnert sich an Spiele mit andern Kindern aus dem 4. bis 5. Lebensjahre. Anfangs fällt ihr ein »Vater- und Mutterspiel« ein, bei dem sie meist die Mutter gespielt habe. Als zweites nennt sie das überall vorzufindende »Doktorspiel«. Von ersterem Spiel ist zu sagen, daß es von der Sehnsucht des Kindes aufgebaut ist, es den Erwachsenen gleichzutun; erotische Einschläge sind dabei häufig und leiten hinüber zu dem meist ganz erotischen »Doktorspiel«, bei dem meist Entblößungen und Berührungen vorgenommen werden. Eine offene Erklärung dieser Art hatte zur Folge, daß die Patientin freiwillig erzählte, auch damals wären derartige Berührungen vorgekommen. Und anschließend daran teilte sie mir mit, sie sei im Alter von 5 Jahren von dem 12jährigen Bruder einer Freundin, der sie in einer Kammer eingesperrt hielt, zu masturbatorischen Berührungen verführt worden, die sie bis zu ihrem 16. Lebensjahr ausführte.

Nun erörtert Patientin den Kampf, den sie gegen die Masturbation geführt hatte. Das grundlegende Motiv dieses Kampfes war aber, sie könnte auf diese Weise sinnlich werden und dem erstbesten Manne zum Opfer fallen. Damit nähern wir uns wieder unserer anfänglichen Erwartung, die dahin lautete, die Patientin leide an der Furcht vor dem Manne, und unterstreiche, um sicherzugehen, ihre eigene Sinnlichkeit, die offensichtlich um kein Haar anders als die normale ist, im gegenwärtigen arrangierten Zustande aber gewiß nicht abgeschätzt werden kann. Sicher läßt sich sagen: daß Patientin ihre Sinnlichkeit überschätzt, wir werden uns aber hüten, diese Schätzung zu der unseren zu machen. Sie ist ein bestochener Richter, ihr Urteil über ihre Sinnlichkeit dient dem Endzweck: sich zu sichern.

Schon die Anfänge dieser Analyse lassen erkennen, daß die Patientin zu ihrer eigenen Sicherheit den Mann entwertet. »Alle Männer sind schlecht — wollen das Weib unterdrücken, beschmutzen, unterkriegen!«

Daran schließt sich die Erwartung, daß die Patientin eine Anzahl von typischen und atypischen Versuchen erkennen lassen wird, die sämtlich darauf abzielen werden, unter allen Umständen die Überlegene zu spielen, die vermeintlichen und in unserer Gesellschaft tatsächlich bestehenden Privilegien des Mannes zu nullifizieren, kurz durch Charakterzüge und gelegentliche Putschversuche das Vorrecht des Mannes zu stürzen. Das ganze Rüstzeug des sozialen Emanzipationskampfes der Trau wird sich in ihrem Gebaren wiederfinden, nur verzerrt, ins Unsinnige, Kindische und Wertlose umgebildet. Dieser individuelle Kampf, sozusagen eine Privatunternehmung gegen männliche Vorrechte, zeigt aber als Analogon, als Vorläufer, oft auch als Begleiter des großen, wogenden sozialen Kampfes für Gleichberechtigung der Frau, daß er auf dem Wege aus der Minderwertigkeit zur Kompensation, aus der Tendenz zur Manngleichheit (siehe Dönniges, Memoiren) entspringt.

Als Charakterzüge wird man mehr oder weniger deutlich finden: Trotz, insbesondere gegenüber dem Mann (in unserem Fall gegenüber dem Studenten), Angst vor dem Alleinsein, Schüchternheit, öfters durch Arroganz verdeckt, Abneigung gegen Gesellschaften, offene oder versteckte Heirats­unlust, Geringschätzung der Männer, aber daneben oft starke Gefallsucht, um zu erobern, Befangenheit usw. — Die neurotischen Symptome unserer Patientin stehen an Stelle von Charakterzügen. Ihr Stocken beim Reden ist an Stelle der Befangenheit getreten, ihre Gesellschaftsflucht und ihre Zwangsgedanken, man sei ihr feindlich gesinnt, führen sie zum gleichen Ziel und stammen aus der Empfindung ihrer eigenen Feindseligkeit, aus dem mangelnden Gemeinschaftsgefühl, und ein stets bereites Mißtrauen soll die Sicherung vollenden. Dabei kann die Moral, die Ethik, die Religion, der Aberglaube mißbräuchlich zur Unterstützung herangezogen werden. Oft kommt es zu Unzukömmlichkeiten und Verkehrtheiten, zu Wünschen, alles anders haben zu wollen, zu einer ungemein betriebsamen Oppositionslust, die alle den Verkehr mit den Patienten erschweren. Wie ein richtiger Erzieher wird der Arzt mit allen diesen Charakterzügen zu tun bekommen, nicht weil der Patient »überträgt«, sondern weil sie bei sozialer Betrachtung da sind und alle Kräfte und Tendenzen des Patienten ausmachen, weil die antisoziale Einstellung des Patienten es bedingt, daß er sich mit seiner rauhen Seite aggressiv gegen alle stellen muß.

Daneben gibt es gelegentlich männlich geartete Putschversuche oder Ausfälle gegen den Mann, die der Arzt recht häufig zu spüren bekommt. Sie sind alle zu übersetzen: »Nein, ich will mich nicht unterordnen, ich will kein Weib sein. Sie sollen bei mir keinen Erfolg haben. Sie sollen unrecht haben!« Oder es kommt zu Versuchen, die Rollen zu wechseln, in der Kur anzuordnen, sich (wörtlich und figürlich) an die Stelle des Arztes zu setzen, ihm überlegen zu sein. So kam obige Patientin eines Tages mit der Mitteilung, sie sei seit der Kur noch aufgeregter. Ein andermal erzählte sie, sie habe gestern zum erstenmal einen Stenographiekursus besucht und sei schrecklich aufgeregt gewesen. »Wie noch nie!« Als ich sie darauf verwies, dies sei gegen mich gerichtet, gab sie in diesem Punkte ihren Widerstand auf. Nicht etwa, weil eine Auflösung erfolgt war, sondern weil sie den Eindruck gewann, ich nehme derartige Angriffe nicht ernst und wolle sie nicht klein machen.

Es kann bei diesen Anzeichen leicht vorhergesehen werden, daß Patienten in solcher Stimmung eine Einstellung annehmen, in der sie alles verkehrt machen wollen. »Als ob« dadurch der Schein der Weiblichkeit vermieden werden könnte. Die ersterwähnte Patientin träumte in solcher Laune, alle Mädchen stünden auf dem Kopfe. Die Deutung ergab den Wunsch, ein Mann zu sein und auf dem Kopf stehen zu können, wie es die Knaben öfters tun, wie man es aber den Mädchen aus Sittlichkeitsgründen verwehrt. Dieser Unterschied wird »beispielsweise« festgehalten und wirkt fast symbolisch. Recht häufig kommt es zu Weigerungen, den Arzt zu besuchen, und Bitten, der Arzt möge — umgekehrt — den Patienten in seiner Wohnung aufsuchen. Am häufigsten aber findet man die Tendenz zur Umkehrung im Traume ausgedrückt durch Ersetzung eines Mannes durch eine Frau, wobei gleichzeitig die Entwertungstendenz in Kraft tritt, noch vorsichtiger angedeutet durch ein hermaphroditisches Symbol, oder durch Kastrationsgedanken, wie ich, Freud und andere sie als ungemein häufig nachgewiesen haben. Nach Freud und anderen liegt die sichtlich minder wichtige Seite dieser Gedanken in der Erschütterung durch eine Kastrationsandrohung. Ich habe erkannt, daß in den Kastrationsphantasien die Unsicherheit der Geschlechtsrolle ihre Spuren hinterlassen hat und daß sie der Möglichkeit einer Umwandlung aus einem Manne in eine Frau zum Ausdruck dienen. Ein Traum unserer Patientin illustriert diese Gedankengänge so vortrefflich, daß er als Schulfall gelten kann.

»Ich war bei einem Nasenspezialisten in Behandlung. Der Arzt war bei einer Operation auswärts. Die Assistentin nahm mir einen Knochen weg.«

Wir hören in der Analyse dieses Traumes, den Patientin als ganz harmlos hinstellt, daß sie vor einigen Jahren wegen Nasenwucherungen in Behandlung war. Der Arzt war ihr ungemein sympathisch. Dies genügte ihr, um Reißaus zu nehmen. Die Anknüpfung dieser Erinnerung an den Vortag ergibt eine deutliche Beziehung zu meiner Person. Auch mir war es gelungen, durch Umgehung ihrer vorausgesetzten Vorurteile gegen den Mann ihre Sympathien zu erwecken, und so greift die Sicherungstendenz im Traume ein, um sie vor der Zukunft zu warnen. Ihre »große Sinnlichkeit«, das »brutale Begehren des Mannes« sind die Gefahren, vor denen sie sich im voraus in den Traumgedanken schützen will. Die Assistentin war in Wirklichkeit keine Ärztin und hat nie operiert. Der Traum schafft die Institution der weiblichen Ärzte. Im Zusammenhang allerdings handelt es sich um die Umwandlung eines Mannes in ein Weib und um eine noch weitergehende Entwertung desselben zur Assistentin. Dies leitet unsere Gedanken weiter auf das Problem der Verwandlung. Der Knochen, der abgeschnitten wird, wird als männlicher Geschlechtsteil gedeutet. Da Patientin dies von sich berichtet, so ist zu vermuten, daß sie als Kind sich durch Kastration in ein Weib verwandelt glaubte, eine Vermutung, die von der Patientin geleugnet wird. Zahlreiche Beispiele haben mich belehrt, daß diese Geschlechtstheorie und ihr analoge präpsychisch geblieben sein können, d. h. daß alle Bedingungen zu ihrer Entstehung gegeben waren, daß diese Vorleistungen sich aber nicht zu einem bewußten Urteil oder verbal (Watsori) verdichteten. In vielen anderen Fällen gelingt der Nachweis einer derartigen bewußten Fiktion. Die Tatsache der Häufigkeit solcher bewußten Fiktionen, ebenso wie der Umstand, daß Patienten mit den Vorbedingungen der Fiktion in gleicher Weise sich gebären, als wäre die Phantasie bewußt und gerechtfertigt, läßt einen bedeutsamen Schluß zu, der lauten muß: das Wirksame in der Psyche ist nicht die Erkenntnis, sondern das Gefühl der speziellen Minderwertigkeit und Unsicherheit, das zuerst präpsychisch die Linien zeichnet, die sich im Bewußtsein zum Urteil, zur Phantasie gestalten können, sobald es nötig wird.4) Ist aber, wie sich herausstellt, das Gefühl der Minderwertigkeit auf Empfindungen gegründet, die als weiblich gewertet werden, so haben wir in der leitenden Fiktion, in der Tendenz des Neurotikers die Kompensation in der Form des männlichen Protestes zu erblicken.

Das Verständnis für den obigen Traum reicht nun weit genug, um zu sehen, daß die Träumerin ihre Weiblichkeit (Verlust des Knochens) beklagt, nicht ohne dagegen zu protestieren, daß der Mann ihr überlegen ist. Ihr männlicher Protest hält sich an ein persönliches Gleichheitsideal: Der Arzt soll auch in ein Weib verwandelt werden. Wer nicht am Worte klebt, wird in diesem Verlangen keinen Unterschied erblicken gegenüber ihrem Wunsche, ein Mann zu sein. Ist doch die Aufhebung ihres Minderwertigkeitsgefühls das Ziel ihrer Sehnsucht! Und diese erreicht sie sowohl durch Erhöhung ihrer Person als durch die Herabsetzung des höher gewerteten Mannes. Es fehlt uns noch das Verständnis für die Stelle des Traumes: »Der Arzt war bei der Operation auswärts.« Patientin kann dazu nur mitteilen, daß sie nie von ähnlichen Besuchen des Nasenspezialisten gehört habe. Der Tendenz des Traumes zufolge ergibt sich als Erklärung die Beseitigung des Mannes und sein Ersatz durch einen weiblichen Arzt. Etwa: »Alle Männer soll der Teufel holen!«

Auch eine weitere Erwartung konnte kaum fehlgehen. Die obigen Gedankengänge weisen mit großer Deutlichkeit auf die Möglichkeit des Arrangements einer Homosexualität. Die Traumskizze sowohl als die psychische Situation der Patientin zeigen deutlich ihre Neigung, aus dem Manne eine Frau zu machen. Die weitere Leitung auf dieser Rückzugslinie vor dem Manne übernehmen Erinnerungen und Eindrücke masturbatorischen Charakters aus den erotischen Kinderspielen mit Mädchen.

Abschließend will ich bemerken, daß Patientin Erinnerungen hat, ihre Ankunft sei von Mutter und ältester Schwester recht mißgünstig aufge­nommen worden. Insbesondere die älteste Schwester habe sie überaus streng behandelt, so daß immer ein schlechtes Verhältnis zwischen ihnen bestand. Im Zusammenhang mit der oben gekennzeichneten Rückzugslinie vor dem Manne muß sich als Resultat herausstellen, daß sie auch einer Unterwerfung durch die Frau sich entgegenstemmt. In der Tat war sie zeitlebens bestrebt, den Mädchen und Frauen ihres Kreises überlegen zu sein, und wehrt auch übermäßig jeden Einfluß der Mutter ab. Für eine primär wirksame, angeborene Homosexualität im Sinne der Autoren liegt keinerlei Befund vor, ebensowenig wie in allen anderen Fällen. Dagegen sieht man deutlich, wie ihre Erlebnisse und Tendenzen sie in diese »als ob« homosexuelle Stellung drängen und diese obendrein im Detail determinieren, ohne entscheidend zum Ausdruck zu kommen.

Ihr Benehmen wird also in mancher Richtung als »verkehrt«, stellenweise auch als »pervers« empfunden werden, weil sie unter der Leitung einer Fiktion der Manngleichheit alles oder vieles umzukehren, zu verändern, verkehrt zu sehen sucht. Diese Sucht aber, die unter Umständen als Wahn5) auftreten kann, ist großenteils unbewußt und kann nur geheilt werden, wenn man der Patientin die Möglichkeit gibt, sie zu verstehen, ihre Introspektion zu vertiefen. Die Möglichkeit nun ist an den pädagogischen Takt des Arztes gebunden.

Gelegentlich gibt die Patientin in anderer Weise zu verstehen, daß man auf dem rechten Weg ist. Es fällt ihr ein, daß sie gar nicht abgeneigt wäre, eine Liebesbeziehung anzuknüpfen. Nur müßte das Sexuelle ausgeschlossen bleiben. Auch in dieser Fassung dringt der männliche Protest durch. —

Als Nachtrag berichtet Patientin unter großem Zögern, daß der ihr sympathische Nasenarzt sie mehrere Male geküßt habe, was sie nur schwach abwehrte. Erst als sie, wo er ihr mit Gewalt einen Kuß rauben wollte, die Kraft fand, ihm zu sagen, daß sie sein Benehmen häßlich finde und dauernd von ihm Abschied nahm, sind ihre Beschwerden geschwunden, und fast drei Monate habe sie sich wohl gefühlt. Dann kam der Zusammenstoß mit dem Studenten, und kurz nach seiner eigentlich banalen Äußerung, sie zeige ein anderes Wesen als ihr wirklich zukomme, brach die Zwangsvorstellung aus, sie könne mit niemandem verkehren, weil man von ihr einen peinlichen Eindruck habe.

Daß sie sich von dem Arzt so leicht küssen ließ, scheint auf den ersten Blick auffällig und widerspricht scheinbar der Voraussetzung eines männlichen Protestes. Die Erfahrung lehrt uns darüber, daß die männlich prahlende Eroberungslust nicht selten zu weiblichen Mitteln greift, daß Geküßtwerden und Liebe erwecken als Machtbefriedigung empfunden werden können. Allerdings nur bis zu einem gewissen Grade. In dem Moment, wo der Partner seine Überlegenheit deutlich zu machen versuchte, als er zur Gewalt griff, mußte sie ihm beweisen, daß sie ihm über sei. Dieser Fall ist in seiner psychologischen Struktur so typisch, daß er allgemein verständlich sein dürfte. Vielleicht jedermann weiß, wie das unerreichbar Scheinende, wie der noch nicht unterworfene Partner die »Liebe« zu steigern vermag, während offen gezeigte Zuneigung in der Regel schlecht aufgenommen wird. Neurotische Mädchen werden deshalb in jeder Beziehung zu einem Mann schließlich auch daran scheitern, daß ihnen in der Liebesbeziehung des werbenden Partners vor allem das Bild seiner eigenen Unterwerfung, die Liebeshörigkeit auffällt und unerträglich wird. Ein leichter Sieg, der fertige Triumph bringt die Erledigung dieser Aufgabe. — Die Besserung im Befinden unserer Patientin ist leicht verständlich, da sie ja mit einem Sieg über den Arzt und über ihre als weiblich gewerteten sinnlichen Begierden triumphiert hat. — Als sie nun im Kampf mit dem Studenten den kürzeren zog, als es diesem gelang, ihr sogar die Freundin abwendig zu machen, da unterlegte sie seinen Worten einen alten Sinn. Ihre Befürchtung war, daß man ihr die onanistischen Manipulationen, ihre »weibliche« Sinnlichkeit ablesen könnte. Die Worte des Studenten lauteten ganz allgemein, er könne sehen, daß sie anders sei, als sie scheine. Und so gab sie gerne seinen Worten die Deutung, jeder könne ihr ihre Sinnlichkeit ansehen und sich Ähnliches erlauben wie der Arzt. Sie selbst aber sei zu schwach, um sich gegen einen Mann wehren zu können, der sich nicht frühzeitig unterwirft.

Diesem Nachtrag, den sie nur sehr schwer brachte, ging eine Stunde voraus, wo nur Klagen über ihren Zustand und Zweifel an ihre Heilung zum Ausdruck gebracht wurden. Es war leicht zu verstehen, daß dieses Benehmen eine Spitze gegen mich hatte. Und ebenso leicht, daß sie sich mit ihrem Zustand gegen mich zu waffnen versuchte, der ich »ihrer Schwäche« die mannigfachen Geständnisse entrissen hatte. So mußte sie sich, um mir gegenüber stark zu bleiben, auch in ihrem Zustande verschlechtert zeigen, was ja im gegenwärtigen Stadium der Kur bereits bedeutete, ich soll keine Macht, keinen Einfluß auf sie gewinnen können.

Kurz will ich darauf hinweisen, wie die Furcht vor dem Mann sich gleichfalls »umzukehren« sucht, nämlich in Gedankengänge, der Mann möge Furcht bekommen. Für das neurotische Empfinden der Patientinnen deckt sich diese Gedankenbewegung mit einer gefühlsmäßigen Welle von »unten nach oben«. Nicht nur in der Neurose, sondern auch in der Psychose, vor allem bei der Paranoia und bei der Dementia praecox findet man diesen Hang zur Umkehrung, der sich zuweilen darin äußert, das »Unterste zuoberst« zu kehren, Tische, Sessel, Kasten umzudrehen und so gegen die Logik der Tatsachen zu revoltieren. Psychologisch gleichwertig damit ist die bekannte negativistische Einstellung, die man sich gedanklich stets durch ein »Umgekehrt!« ersetzen kann. Nebenbei sei darauf hingewiesen, daß bei .unserer Patientin auch andere Gedankengänge zutage treten, die uns aus der Psychose geläufig sind, so die Empfindung, man könne sie durchschauen, jeder habe ein peinliches Gefühl in ihrer Nähe, jeder könne sie beeinflussen. Doch weiß sie zum Unterschied von Psychotikern ihre kindliche Fiktion, wie wir vorausschicken wollen, jedesmal soweit logisch mit der Realität in Einklang zu bringen, daß der Eindruck der Psychose vermieden wird. Nicht an der Fiktion also liegt es, die in unserem Falle dazu dient, die Patientin noch vorsichtiger zu machen, sondern an der Korrelationsschwäche der korrigierenden Bahnen, an der Verpflichtung zur Logik. Unsere Patientin mag noch so sehr zur Sicherung ihrer angenommenen weiblichen Schwachheit ihre Fiktion, so zu handeln, als ob sie ein Mann wäre, verstärken, sie wird stets in der Korrelation ihres korrigierenden Apparates eine weitere Sicherung finden und sich »vernünftig« benehmen. Damit nähern wir uns dem Standpunkt Bleulers, der als charakteristisch für die Schizophrenie eine »Lockerung der Assoziationen« ansieht. Unser Standpunkt setzt für die Psychose die relative Minderwertigkeit des korrigierenden Apparates voraus, dessen Kompensationsfähigkeit nicht mehr genügt, sobald der fingierende Apparat zu stärkeren Leistungen schreitet.

Ich beobachtete vor Jahren einen Patienten mit Dementia praecox, die im Abklingen war. Eines Tages zeigte er auf ein Rudel von Hunden und sagte mit bedeutungsvoller Miene, diese seien bekannte, schöne Damen, die er mir alle mit Namen nannte. Er stand unter dem Einfluß der Furcht vor der Frau und sicherte sich durch die Entwertung des sonst hochgeschätzten weiblichen Geschlechtes, indem er sie alle in Hunde verwandelte. Also »umgekehrt«. Sein korrigierender Apparat war nicht stark genug, den Einklang mit der Wirklichkeit so weit zu finden, daß er es etwa ins Scherzhafte gezogen oder als Beschimpfung verstanden hätte wissen wollen. Die Kompensation des korrigierenden Apparates setzte noch aus, der starken Entwertungstendenz des sichernden Apparates gegenüber. —

Ein Traum unserer Patientin, am Tage nach ihren Mitteilungen über das Benehmen des Nasenspezialisten geträumt, zeigt uns die gleichen psychischen Bewegungen. Sie träumte: »Ich ging einen Hut kaufen. Als ich nach Hause ging, sah ich von weitem einen Hund, vor dem ich mich sehr fürchtete. Ich wollte aber, daß er sich vor mir fürchten sollte. Als ich näher kam, sprang er auf mich. Ich besänftigte ihn und klopfte ihm den Rücken. Dann kam ich wieder nach Hause und legte mich auf den Diwan. Es kamen zwei Kusinen zu Besuch. Meine Mutter führte sie herein, suchte mich und sagte: da ist sie. Ich empfand es unangenehm, in dieser Lage überrascht worden zu sein.« —

Die Deutung ergibt zornige Gedanken wegen ihrer Mitteilung mir gegenüber. Sie muß auf ihrer »Hut« sein. Dies die Verstärkung ihrer Sicherungstendenz. Denn sie hat sich mir schwach gezeigt, war unterlegen, ich — der Hund — war auf sie gesprungen. Sie erfaßt also ihre Niederlage in einem sexualsymbolischen Bilde, das durchaus nicht real zu nehmen ist. Gerade der symbolische Ausdruck aber, den sie für »Niederlage«, für das Gefühl der Weiblichkeit findet, und der entschieden im Vergleich zu weit geht, sichert sie durch Aufstellung eines Memento, wie er selbst die mahnende, sichernde Tendenz zur Urheberin hat. So erniedrigt sie mich zu einem Hund, wobei sie durch den Nachsatz förmlich darauf hinweist, wie sie das eingetretene Ereignis meiner Überlegenheit »umzukehren« trachtet. »Ich wollte, daß er sich vor mir fürchten sollte!« Müdigkeit und Nötigung sich am Diwan auszuruhen empfand sie, als sie die ersten Tage aus der Kur kam. Diese Symptome waren sichtlich arrangiert, um sich zu beweisen, wie sie selbst gelegentlich erwähnte, daß die Gespräche bei mir sie nicht beruhigten, sondern ermüdeten. Aber, was weit wichtiger — so lag sie nach der Nasenoperation beim Arzte, der sie dabei geküßt hatte, ein Geheimnis, welches ich ihr »entrissen« habe. Die beiden Kusinen sind derzeit verheiratet. Sie verkehrte früher mit ihnen, als sie noch ledig waren. Da kamen sie öfter, wenn Unterhaltungen waren, aber nie allein, sondern nur in Begleitung ihrer Mutter oder einer Tante. Denn sie hätten es für ungeschicklich gehalten, allein irgendwohin zu gehen. Sie aber geht allein, nämlich zu mir in die Kur, wie sie auch zu dem Nasenspezialisten allein ging, wo ihr solches widerfuhr. Im Traum geht sie allein einen Hut kaufen. Ihr letzter Einkauf eines Hutes vollzog sich in Gesellschaft der zänkischen Mama und verdroß sie sehr, weil die Mama über die fortwährenden Geldausgaben jammerte. Die Besänftigung des Hundes weist darauf hin, wie sie einmal einen abgewiesenen Freier in seiner Betrübnis tröstete. So würde es auch mir gehen. —

Das Problem, das diesen Traum erfüllt, ist nun zu greifen. »Soll ich allein gehen oder mit der Mama?« Letzteres ist unangenehm, weil die Mutter mich immer zu unterdrücken sucht. Ich will aber überlegen sein, ich gehe allein. Ich fürchte mich aber vor dem Mann und will versuchen, die Rolle zu wechseln. Einmal habe ich einen Mann tief betrübt, der sich mir nähern wollte. Ich habe mich vor weiteren Schritten gefürchtet und habe ihn zurückgestoßen. So fürchte ich mich jedesmal, wenn ich öfters mit einem Manne spreche. Nur das erstemal kann ich ihn meine Überlegenheit fühlen lassen. Je öfter ich zum Doktor gehe, desto schwächer fühle ich mich. Dazu ist es auch noch unschicklich. Aus dieser Überlegung, die arrangiert ist, stammt ihre Schicklichkeitstendenz, die sie gegen mich gelegentlich zur Anwendung bringen könnte. In der Tat ist sie zwei Tage später ohne Motivierung einmal aus der Kur geblieben.

Kurz gesagt, das Gefühl ihrer Schwäche stammt aus der Furcht vor dem Manne und erlaubt nur eine Korrektur, so zu handeln, als ob sie ein Mann wäre. Auf diesem für sie dornigen Wege aber kommt es zu großen Widersprüchen, die sich aus der Irrationalität ihrer Fiktion ableiten. Denn die Wirklichkeit nimmt sie als Weib, und sie selbst ist weiblichen Regungen nicht unzugänglich, wenngleich sie sie stark unterstreicht, keineswegs verdrängt. Die Unterstreichung ihrer weiblichen Regungen aber leitet eine Umkehr ein, bewirkt sozusagen eine saure Reaktion, die dann zur Sicherungstendenz hinüberleitet: Ich will kein Weib, ich will ein Mann sein! — Und dies versucht sie wie überall, wie auch den Mädchen gegenüber, am Arzt. Dort aber muß sich ihre sichernde Fiktion auflösen und mit der Wirklichkeit in Harmonie gebracht werden. —

Die Fortsetzung der Kur bestand in der Tat in der schwersten pädagogischen Aufgabe des Nervenarztes, die darin liegt, den Patienten in eine Stimmung zu bringen, in der er eine Anleitung überhaupt verträgt. Patientin erscheint mit deutlicher Verstimmung im Blick, erklärt auf meine Frage, was sie heute berichten wolle, nichts, und antwortet endlich, als ich sie darauf hinweise, ihre Verstimmung müsse noch immer in der Linie der feindseligen Einstellung gegen mich liegen, mit den Worten: »Wie kommt das daher?« — Diese Worte höre ich nicht zum ersten Male aus ihrem Munde. Sie hat sie wiederholt gebraucht, als sie sich mit ihrer Mutter mir vorstellte, und zwar immer, wenn ihre Mutter in die Krankengeschichte der Tochter kritische Bemerkungen einflocht, als wolle die Tochter sich keine Mühe geben. Ich nehme also an, daß es der Patientin gelungen ist, mich in der Rolle der Mutter zu denken, d. h. ähnlich wie in dem oben geschilderten Doktortraum mich so anzusehen, als wäre ich kein Mann. Dies ist das Ziel ihrer Absicht, und mit dieser Entwertung meiner Person richtet sie sich auf. Was sie sonst an diesem Tage noch zum Ausdruck bringt, sind versteckte Vorwürfe gegen mich wegen der Verschlimmerung ihres Zustandes, so subjektiver Art, daß das corriger la fortune deutlich in die Augen springt, und feindselig geäußerte Gedanken, sie werde aus der Behandlung mindestens eine Zeitlang ausbleiben. Daß dies alles eine Spitze gegen mich hat, ist leicht zu verstehen, wenn auch die Patientin eine bewußt dahingehende Absicht leugnet. Ich mache vorläufig die Voraussetzung, daß dieses ihr Verhalten ihre zwangsweise Antwort sei auf eine Empfindung des Unterliegens, des Weichwerdens, der Einfügung, der Kooperation. Dabei ergibt sich der Zusammenhang mit ihrer Krankheitsform von selbst. Ihre Empfindungen sind dergestalt, daß sie im andern, vor allem im Manne, den Stärkeren, Überlegeneren, Feindseligen empfindet, weil sie ursprünglich aus Gründen der Sicherungstendenz und des Machtstrebens ihre eigenen, übrigens normalen Empfindungen unterstrichen, einseitig gruppiert und als Schreckpopanz fingiert hat. Gegen diese Fiktion aus Sicherungsgründen wendet sich nun, da sie dieselbe als weiblich wertet, der männliche Protest, wie er beispielsweise in ihrer Haltung gegen mich zutage tritt. Im Mechanismus des männlichen Protestes wirkt die Sicherungstendenz weiter und verstärkt alle Empfindungen von der Überlegenheit und Feindseligkeit des Mannes. Deshalb ergaben ihre ersten Erinnerungen stets Beispiele von Fällen, wo der Mann der Stärkere war. Ihre Psyche steht also unter dem Einfluß einer sozusagen aufsteigenden Bewegung, deren Ausgangspunkt eine kraftvoll gefaßte Fiktion ist: Ich unterliege, id est, ich bin allzu weiblich, deren ersehnter Endpunkt eine ebenso starke Fiktion ist: Ich muß mich benehmen, als ob ich ein Mann wäre, id est, ich muß den Mann klein machen, weil ich allzu weiblich bin und sonst unterliege. Innerhalb dieser beiden Fiktionen spielt sich die Neurose ab, und alle die Übertreibungen und Unterstreichungen sind gehalten durch die Sicherungstendenz.

Was war denn nun die Klage der Patientin? Sie habe die Empfindung, daß die Menschen einen peinlichen Eindruck von ihr hätten, daß sie ihr feindlich seien! Dieser Zwangsgedanke ergibt sich aus der psychischen Situation der Patientin mit Notwendigkeit, denn abgesehen davon, daß er die weibliche Fiktion der Patientin kräftig über sich hinausweisend zum Ausdruck bringt und als Memento wirkt, gibt er gleichzeitig der männlichen Fiktion Raum: Jetzt kann sie ihre weibliche Rolle abwerfen und so gut es geht auf der männlichen Linie leben, sie kann sich so gebärden, als wäre sie, wie der Mutter gegenüber, ein Mann. Denn die Mutter ist die einzige Person, mit der sie dauernd seit ihrer Erkrankung in Berührung steht und die sie durch ihre Erkrankung beherrscht, allerdings auch zur Verzweiflung bringt. Ihre eigene Feindseligkeit findet sie gerne bei den anderen, denn: »Unheil fürchtet, wer unhold ist«. Zu beachten ist der starke Mangel des Gemeinschaftsgefühls.

Erinnern wir uns auch, daß diesem Zwangsgedanken eine andere Krankheitserscheinung vorhergegangen ist: das Stocken im Gespräch sowie eine übergroße Befangenheit anderen Leuten gegenüber. In der Tat war dies der erste Akt ihrer ausgesprochenen Neurose, der Ausdruck ihrer erhöhten Anspannung gegenüber anderen Personen. Es ist, als ob sie sich beim Sprechen vorwiegend sichern hätte wollen — um nicht zu unterliegen, aber noch fähig gewesen wäre, die sichernde Fiktion ihrer Schwäche durch ein dem Stottern verwandtes System sich stets vor Augen zu führen. Bis sie durch Angriffe männlicher Personen, des Arztes, der Verwandten, in ihrer Sicherung weitergehen mußte, in der Sicherung des männlichen Protestes: zu kämpfen oder fortzulaufen. So weit war sie nun auch mir gegenüber gekommen, wie aus der obigen Schilderung hervorgeht. Aus den Analysen von Stotterern kann ich die gleiche Dynamik hervorheben. Ihr Stottern ist der Versuch, sich der Überlegenheit des andern durch eine Art passiver Resistenz zu entziehen, deren Grundlage ein vertieftes Minderwertigkeitsgefühl, deren hartnäckig festgehaltene Absicht die Ausspähung, Prüfung und vorsichtige Beschleichung des Partners ist, wobei gleichzeitig der Gedanke vortritt, durch masochistische Haltung auf den andern eine bannende Wirkung zu erzielen. Ferner: »Was hätte ich nicht alles schon erreicht, wenn ich kein Stotterer wäre!« So endlich trösten sich diese Patienten und umgehen dabei ihre eigene Empfindlichkeit.

Es ist mir bekannt, daß manche Leser meiner früheren Arbeiten gerade in dem Punkte Schwierigkeiten gesehen haben und die Frage ventilieren, wie denn jemand durch weibliche Mittel einen männlichen Protest herstellen könne. Die Analogie mit der passiven Resistenz mag sie auch darüber aufklären. Es liegt in solcher Handlungsweise für die Analyse der häufige Sonderfall vor, daß »weibliche und männliche« Linien zeitlich fast zusammenfallen, einen Kompromiß bilden, nur daß die ununterbrochene Sicherungstendenz die Bewegung nach oben, für den Anfänger schwer bemerkbar, weiter innehält. Am deutlichsten beim Messalinentypus, wo die Niederlage als Eroberung empfunden wird. Sollte dies auf die Dauer wirklich so schwer zu verstehen sein?

Kehren wir zu unserer Patientin zurück. Wir können nun ihre beiden mir gegenüber geäußerten Gedankengänge einreihen. Ihre spitzen Bemerkungen, ihr subjektiv verschlechtertes Befinden sind ebenso Angriffe gegen mich wie ihre Drohung, aus der Kur auszubleiben; erstere erinnern mehr an ihre gegenwärtige Krankheitserscheinung, letztere an die frühere. Auch den Anlaß zur Verstärkung ihres männlichen Protestes kennen wir schon: ihre Nachgiebigkeit in der Kur. Sie erzählt nunmehr, sie habe geträumt, wisse aber nur, daß sie nach einem Schrei erwacht sei.

Derartige Bruchstücke eines Traumes eignen sich ganz vorzüglich zur Deutung. Es ist, als ob man durch eine breite Bresche den Zugang zur Psyche gewänne, ohne daß weitere Details den Arzt abhalten. Meine Frage, wie sie denn geschrien hätte, beantwortet sie mit einer Mitteilung einer Erinnerung aus früher Zeit. Sie habe als Kind mörderisch geschrien, wenn ihr eines der Kinder oder sonst wer etwas zuleide tun wollten. Einmal sei sie in einen Keller gesperrt worden, und zugleich habe man sie damit erschreckt, daß dort Ratten seien. Auch beim Nasenspezialisten habe sie sehr geschrien. — Ich weise darauf hin, daß eine ähnliche Situation im Traume vorgelegen sein müsse, d. h. sie habe unter der Traumfiktion geschrien, als ob ihr Ähnliches in der Zukunft geschehen sollte.

Jeder Traum kann am besten übersetzt werden mit der Einleitung: »Gesetzt den Fall.....« Ich habe vor längerer Zeit diesen Befund in meinen kleinen Arbeiten berichtet und bin nun so weit, eingehendere Mitteilungen machen zu können. Es wird sich dabei manches wertvolle Stück der Freud­schen Auffassung vom Traum bestätigen lassen, manches als nebensächlich und irreführend erweisen. So kann nicht genug hervorgehoben werden, daß erst Freuds Arbeiten über den Trauminhalt, über die Traumgedanken und über den Tagesrest die Möglichkeit einer Traumanalyse gegeben haben. Was aber die Freudsche Hauptfunktion des Traumes anlangt, alte Sexualwünsche aus der Kindheit zu beleben und einer Erfüllung (im Traum) zuzuführen, so ist es nunmehr an der Zeit, sich dieses leitenden, irreführenden und wenig bedeutungsvollen Gedankens zu entschlagen. Er war nicht mehr, konnte auch nicht mehr sein als eine Hilfsgröße, die, in sich widerspruchsvoll und gegen die Wirklichkeit gehalten nichtssagend, ihren Zweck allerdings, den Traum einem geordneten Denken zu unterwerfen, in meisterhafter Weise gelöst hat. Das Prinzip der Wunscherfüllung war selbst nicht mehr als eine Fiktion, nichtsdestoweniger aber in wundervoller Weise geeignet, das Verständnis des Traumes erheblich zu fördern. Was vom logischen Standpunkt die Bezeichnung des Prinzips der Wunscherfüllung als Hilfskraft selbstverständlich erscheinen läßt, ist der zweite Rahmen einer solchen Abstraktion bis auf einen Wunschrest, in welchem alle seelischen Regungen untergebracht werden können. Ja, es ist nur nötig, bei Bruchstücken von Gedankengängen die dahinter liegenden Regungen oder auch nur möglichen Regungen aufzusuchen, eventuell ein Vorzeichen ins Gegenteil zu verändern, und der vorliegende Gedanke ist Bruchstück eines erfüllten Wunsches. Nichtsdestoweniger hat uns Neurologen die Aufstellung der Freudschen Formeln ermöglicht, das Material der Träume zu ordnen und zu überblicken. Der Rechnungsansatz konnte mit ihr gemacht werden (Vaihinger). Der sich bald ergebende Widerspruch, daß der Akzent auf alte Wünsche aus der Kindheit gelegt wurde, die durch analoge Konstellationen der Gegenwart »Blut getrunken und aufgewacht waren«, während doch selbstverständlich ein neuer Widerspruch mittels Erfahrungen der Vergangenheit einer Lösung im Traume zugeführt werden sollte, wie die Individualpsychologie nachwies, ergab die Unhaltbarkeit der Freudschen Formel und zwang diesen Forscher zu weiteren Fiktionen.6) Unter diesen lag ihm der Gedanke der Fixierung von inzestuösen Kindheitsbeziehungen am nächsten, die aber zu diesem Zwecke verallgemeinert und ins Grobsexuelle verzerrt werden mußten. Letzteres einfach deshalb, weil die Traumfiktion mit sexuellen Analogien nicht selten zu arbeiten pflegt, um andere Relationen auszudrücken, wie es auch an Gasthaustischen vorkommt.

Auch was das Augenfälligste im Traum war, sobald die Freudsche Formel den Rechnungsansatz gestattete, wurde durch eben diese Formel verdunkelt und geradezu in feindseliger Weise in den Hintergrund geschoben: das Sorgende, Vorausblickende, Sichernde, das jeden Traum erzeugt und erfüllt. Die Hauptlinie des Traumes geht parallel dem Versuch der Sicherung des Persönlichkeitswertes und der persönlichen Überlegenheit. Und damit ist der Hauptcharakter der Traumarbeit gemäß unserer Anschauungen auch bereits festgelegt: Der Träumer sucht die männliche Linie zu gewinnen und wehrt sich wie der Neurotiker, wie der Künstler gegen ein aufkeimendes Gefühl der Niederlage im Sinne seines Lebensstils. Seine Wertungen von Männlich-Weiblich stammen aus der Kindheit, sind individuell verschieden und individuell begründet und bilden in ihrer Gegensätzlichkeit die Grundlage der Hauptfiktion des Neurotikers. Die gedankliche Bewegung des Träumers und Neurotikers vollendet sich in Analogien, Symbolen und anderen Fiktionen, denen ein Gegensatz von unten-oben und gleichwertig damit von Weiblich-Männlich zugrunde liegt, wobei die Intention stets nach oben, nach dem männlichen Protest gerichtet ist, analog einer körperlichen Drehung, einer Erhebung des Schläfers.

Wenden wir nun diese zwei Kategorien, nach welchen der Traum gerichtet sein muß, die Leitbilder, wie Klages in seinen Prinzipien der Charakterologie (Leipzig 1910) sagt, auf dieses winzige Bruchstück eines Traumes, auf eine motorische Affektäußerung an, deren Verständnis sich aus der Ausführung der Patientin ergibt, so können wir feststellen, 1. daß Patientin einen Gewaltakt befürchtet, ähnlich wie sie ihn in der Kindheit von einem Knaben, vor einiger Zeit von dem Nasenspezialisten erfahren hat, 2. daß sie auf diese Voraussicht ähnlich reagiert wie in der Kindheit auf eine Erniedrigung. Dazu ist noch zu bemerken, daß die Patientin von einem Hinweis berichtet, den sie von mir erfahren hat. Ich hatte nämlich gesprächsweise, um die Verschiedenheit des psychischen Reaktionstypus von Mann und Frau darzustellen, erwähnt, daß man unter Männern und Frauen in Weiberkleidern die Frauen zumeist auch daran erkennen könnte, wie sie beim Erscheinen einer Maus sich betragen würden. Die Frauen würden ihre Kleider mit den Händen an die Beine pressen. Diese Erwähnung kehrt in der obigen Erinnerung an die Kellerhaft bei den Ratten wieder. Und so liegt in der motorischen Affektäußerung des Schreis ein psychischer Gehalt des Inhalts: »Man wird mich einsperren, man wird mich zwingen wollen, man wird mich erniedrigen (Keller!), denn ich bin ein Mädchen!« Und weiter ein psychischer Gehalt gleichsam als Gegenwehr, und in Rücksicht auf die Empfindung der weiblichen Rolle: des männlichen Protestes, welcher sagt: »Schrei'!, damit man dich hört, damit man dich nicht bedrängt, damit man dich freiläßt!«

Vergleichen wir diese beiden einander stützenden Gedankengänge mit ihrem Verhalten gegen mich, so finden wir den zweiten Gedankengang getreulich wiedergegeben und deutlich auf mich bezogen. Patientin »schreit«, d. h. sie richtet sich gegnerisch gegen mich, wehrt sich gegen meine »Überlegenheit« und erklärt, sie wolle »frei sein«, d. h. aus der Kur fortbleiben. Also muß der erste Gedankengang, »man überwältigt mich, erniedrigt mich, hält mich gefangen«, im vergessenen Traumstück dargestellt gewesen sein, eine Behauptung, die Patientin ohne Entgegnung aufnimmt, als ich erkläre, ich müßte im Traume als der ihr überlegene Mann erschienen sein. — Ihr Widerstand dauert fort und wird nur wenig durch die Erklärung beeinflußt, daß sie sich aus übertriebener Vorsicht ein überflüssiges Schreckbild konstruiert habe, nach welchem sie befürchte, sie werde mir unterliegen, gegen das sie mit Schreien protestiert.

Auch ihr Gefühl einer weiblichen Rolle, die Möglichkeit eines Verlangens nach Liebe, ist sichtlich zu Sicherungszwecken übertrieben, ihre Libido, vor der sie sich sichern will, demnach gefälscht. Sie handelt so, als ob sie mir gegenüber schwach würde, und hält diese Fiktion für eine Wahrheit, weil sie sich dadurch am besten gesichert glaubt. Nun wird auch verständlich, was ihre Tendenz zur Umkehrung bedeutet. Patientin will die Stärkere sein und fürchtet, daß ich es wäre.

Leider gelang es mir nicht, die Patientin länger als einige Tage in der Kur zu halten, was auch für die Schwere des Leidens, für ihre Unzugänglichkeit und Unfähigkeit zum rein menschlichen Kontakt spricht. — Ein Jahr später erfuhr ich, daß sich im Ausland ihr Zustand verschlechtert habe.

 

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2) Der paranoide Charakter — die Schuld des anderen — tritt deutlicher hervor.

3) Bei ihrer Spannung zu den Menschen kam ihr dieses Erlebnis sehr gelegen. Deshalb hielt sie die Erinnerung daran fest, weil sie sich mit ihr die Distanz zur Liebe sichern konnte. Die Distanz aber brauchte sie, um einer Hörigkeit, einer Niederlage auszuweichen. Für sie war eine Herabsetzung darin gelegen, wenn sie dem anderen »opfern, dienen«, etwas geben sollte, also in der Entfaltung des Gemeinsinns.

4) Auch von Furtmüller, später von William Stern in gleicher Weise so dargestellt.

5) Die Verwandtschaft dieses Falles mit paranoider Demenz ist nicht zu verkennen.

6) Neuerdings hat Freud auch seinen Standpunkt fallen gelassen und den »Todeswunsch« in den Vordergrund gerückt.


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