5. Temperamente und innere Sekretion.


Eine in der Psychologie sehr alte Unterscheidung der seelischen Ausdrucksformen sind die Temperamente. Es ist nicht leicht zu sagen, was man unter Temperament verstehen soll, Schnelligkeit, mit der einer denkt, spricht oder handelt, die Kraft oder der Rhythmus, den er hineinlegt, u. dgl. Wenn wir die Erklärungen der Psychologen über das Wesen der Temperamente zurückverfolgen, müssen wir sagen, daß die Wissenschaft in der Betrachtung des Seelenlebens seit dem grauen Altertum über die Festsetzung von vier Temperamenten nicht hinausgekommen ist. Die Einteilung derselben in ein sanguinisches, cholerisches, melancholisches und phlegmatisches stammt aus dem alten Griechenland, wurde von Hippokrates übernommen, dann von den Römern weitergeführt und bildet heute noch in der Psychologie ein ehrwürdiges Heiligtum.

Unter einem Sanguiniker versteht man einen Menschen, der eine gewisse Lebenslust aufweist, die Dinge nicht allzu schwer nimmt, sich, wie man sagt, nicht leicht graue Haare wachsen läßt und versucht, allem die schönste und angenehmste Seite abzugewinnen, der bei traurigen Anlässen wohl traurig ist, aber nicht zusammenbricht, bei freudigen Ereignissen wohl einen Genuß empfindet, aber doch nicht in Überraschung gerät. Eine ausführliche Schilderung dieser Menschen ergibt nichts anderes, als daß sie die ungefähr gesunden Leute sind, bei denen sich schädliche Einschläge größeren Grades nicht vorfinden. Von den anderen drei Typen können wir das letztere nicht behaupten. Der Choleriker ist in einem alten dichterischen Gleichnis so dargestellt, daß er einen Stein, der seinen Lauf hindert, wutentbrannt zur Seite schleudert, während der Sanguiniker gemächlich über ihn hinwegschreitet. In die Sprache der Individualpsychologie übersetzt, ist der Choleriker derjenige, dessen Streben nach Macht so angespannt ist, daß er immer große Bewegungen machen muß, Kraftleistungen produzieren und in geradlinig-aggressivem Vorgehen alles überrennen will. Früher hat man dieses Temperament mit der Galle in Verbindung gebracht und von einem galligen Temperament gesprochen. Auch heute spricht man noch von Menschen, denen die »Galle übergeht«. In Wirklichkeit sind das aber die Menschen mit den großen Bewegungen, wie man sie schon in der frühen Kindheit findet, die ein Kraftgefühl nicht nur haben, sondern es auch ausleben lassen und es demonstrieren wollen.

Der Melancholiker macht schon einen andern Eindruck. In dem erwähnten Gleichnis wird er ungefähr dargestellt als ein Mensch, dem beim Anblick dieses Steines »alle seine Sünden einfallen«, der in traurige Erwägungen verfällt und wieder zurückgeht. Die Individualpsychologie sieht in diesem Typus den ausgesprochen zögernden Menschen, der sich nicht zutraut, Schwierigkeiten zu überwinden und vorwärts zu kommen, sondern mit größter Vorsicht seine weiteren Schritte einleitet, lieber stehen bleibt oder umkehrt, als etwas zu riskieren. Also ein Mensch, bei dem der Zweifel das Übergewicht gewinnt, der meist geneigt ist, mehr an sich als an die andern zu denken, so daß auch dieser Typus für die großen Möglichkeiten des Lebens keine Anknüpfungspunkte besitzt. Er ist durch seine eigenen Sorgen so bedrückt, daß sein Blick nur nach rückwärts oder nach innen gerichtet ist.

Phlegmatiker nun scheint durchwegs jener zu sein, der dem Leben fremd ist, Eindrücke sammelt, ohne daraus besondere Konsequenzen zu ziehen, auf den nichts mehr Eindruck macht, den nichts sonderlich interessiert, der auch keine besonderen Kraftanstrengungen macht, kurz, der ebenfalls die Zusammenhänge mit dem Leben nicht hat und dem Leben vielleicht am entferntesten gegenübersteht.

Wir können demnach nur den Sanguiniker als den Typus eines guten Menschen bezeichnen. Erwähnt muß noch werden, daß Temperamente in dieser Reinheit sehr selten sind, daß man meist Mischfälle antrifft, welcher Umstand diese Temperamente eigentlich ihres Wertes beraubt. Es kommt auch vor, daß verschiedene Temperamente einander ablösen, so daß sich z. B. ein Kind im Anfang als Choleriker präsentiert, später ein Melancholiker wird und vielleicht als Phlegmatiker endet. Für den Sanguiniker müssen wir noch feststellen, daß er als derjenige erscheint, cler in seiner Kindheit am wenigsten dem Gefühl der Minderwertigkeit ausgesetzt war, wenig fühlbare Organminderwertigkeiten aufwies und keinen starken Reizungen unterworfen war, so daß er sich ruhig entwickeln, das Leben lieb gewinnen und sich mit ihm auf vertrauten Fuß setzen konnte.

Nun kommt die Wissenschaft und erklärt folgendes: Die Temperamente des Menschen sind abhängig von der inneren Drüsensekretion.1) Die neuere Entwicklung der medizinischen Wissenschaft arbeitet nämlich mit der Erkenntnis der sog. Blutdrüsen. Dazu gehören namentlich die Schilddrüse, die Hypophyse, Nebenniere, Nebenschilddrüse und die Keimdrüse. Das sind Drüsen ohne Ausführungsgang, sezernierende Gewebe, die einen Saft an das Blut abgeben. Die allgemeine Auffassung ist nun die, daß alle Organe und Gewebe des Körpers durch diese Säfte beeinflußt werden, die durch das Blut zu jeder einzelnen Zelle des Körpers gelangen, Säfte, die Reiz- und sog. entgiftende Wirkungen haben, für den Lebenshaushalt also unbedingt notwendig sind. Die volle Bedeutung der »endokrinen Drüsen« ist noch in Dunkel gehüllt. Diese ganze Wissenschaft steht noch im Anfang, ganz positive Tatsachen können noch nicht gegeben werden. Da sie aber darauf Anspruch erhebt, auch eine psychologische Richtung zu begründen, da sie behauptet, in bezug auf Charakter und Temperament der Menschen Auskünfte geben zu können, soll noch einiges darüber gesagt werden.

Vorerst muß ein schweres Bedenken ausgesprochen werden. Wenn wir uns einen veritablen Krankheitsfall ansehen, in dem z. B. die Schilddrüsensekretion mangelhaft arbeitet, dann ist es wohl richtig, daß wir hier auch seelischen Äußerungen begegnen, die das Äußerste an phlegmatischem Temperament darzubieten scheinen. Denn abgesehen davon, daß diese Menschen ein gedunsenes Aussehen bekommen, eine besonders derbe Hautentwicklung aufweisen und daß ihr Haarwuchs sich verschlechtert, sind sie auch von einer außerordentlichen Langsamkeit und Trägheit der Bewegung. Ihre seelische Empfindlichkeit ist stark herabgesetzt, ihre Initiative gering.

Wenn wir aber diesen Fall mit einem andern vergleichen, den wir als phlegmatisches Temperament bezeichnen, ohne daß wir den Nachweis eines pathologischen Substanzverlustes der Schilddrüse führen könnten, dann sehen sich diese Fälle gar nicht ähnlich und wir haben ganz verschiedene Bilder vor uns. Man könnte also sagen: Vermutungsweise liegt in den Säften, die die Schilddrüse dem Blut liefert, etwas, das zu einer klaglosen seelischen Funktion mitwirkt. So weit können wir aber nicht gehn, zu identifizieren und zu sagen, das phlegmatische Temperament entstehe durch Verlust an diesem Schilddrüsenzuschuß an das Blut.

Der pathologische Typus des Phlegmatikers ist also ganz verschieden von jenem, den wir im Leben als Phlegmatiker bezeichnen, dessen Temperament und Charakter sich durchaus abheben, und zwar durch ihre psychologische Vorgeschichte. Diese Phlegmatiker nämlich, die für uns als Psychologen in Betracht kommen, sind durchaus nicht gleichbleibende Typen und man wird oft überrascht durch die erstaunlich tiefen und heftigen Reaktionen, die bei solchen Menschen Zustandekommen. Einen Phlegmatiker durch das ganze Leben gibt es überhaupt nicht und wir werden immer finden, daß dieses Temperament nichts anderes ist, als eine künstliche Hülle, eine Sicherung, die sich ein sehr empfindlicher Mensch geschaffen, die er zwischen sich und die Außenwelt gebracht hat, zu der er vielleicht eine ursprüngliche, in seiner Konstitution begründete Neigung gehabt hat. Das phlegmatische Temperament ist ein Sicherungsvorgang, eine sinnvolle Antwort auf die Fragen des Lebens und in diesem Sinn natürlich ganz verschieden von der sinnlosen Langsamkeit, Trägheit und Unzulänglichkeit eines Menschen, der der Schilddrüse ganz oder zum Teil beraubt ist.

Über dieses bedeutsame Bedenken können wir nicht hinweggehen und müssen selbst in dem Fall, als sich nachweisen ließe, daß nur jene ein phlegmatisches Temperament bekommen können, die eine krankhafte Schilddrüsensekretion aufweisen, geltend machen: das ist nicht das Um und Auf der ganzen Sache, sondern es handelt sich um ein ganzes Bündel von Ursachen und Zielen, um einen ganzen Konzern von Organbetätigungen plus äußeren Einwirkungen, die zuerst ein organisches Minderwertigkeitsgefühl erzeugen, von dem aus dann Versuche des Individuums ausgehen, deren einer der sein kann, sich durch ein phlegmatisches Temperament vor Unannehmlichkeiten und Verletzungen des Persönlichkeitsgefühls zu schützen. Das heißt aber mit anderen Worten, daß wir hier wieder einen Typus vor uns haben, von dem schon die Rede war, nur spezifiziert, bei dem eben die Organminderwertigkeit der Schilddrüse und ihre Folgen in den Vordergrund treten, der durch diese Organminderwertigkeit eine schlechtere Stellung im Leben zugewiesen erhält und diese nun durch seelische Kunstgriffe, wie das Phlegma, wettzumachen sucht.

In dieser Auffassung werden wir bestärkt, wenn wir andere Sekretions­anomalien in Betracht ziehen und die dazu »gehörigen« Temperamente untersuchen. So gibt es auch Menschen, die eine vermehrte Schilddrüsensekretion aufweisen, wie es bei der Basedowschen Krankheit der Fall ist. Körperlich sind solche Kranke dadurch ausgezeichnet, daß sie eine verstärkte Herztätigkeit haben, insbesondere eine erhöhte Pulsfrequenz, daß ihre Augen stark hervortreten, daß die Schilddrüse anschwillt und der ganze Körper, besonders die Hände, in einem leichteren oder stärkeren Zittern begriffen sind. Auch Schweiß tritt leicht auf und die Verdauungsorgane kommen vielleicht unter der Beeinflussung der Bauchspeicheldrüse öfters in Schwierigkeiten. Auch zeigen sich Aufregungszustände, die Patienten tragen ein hastiges, gereiztes Wesen zur Schau und leiden häufig an Angstzuständen. Der Anblick eines Basedow-Kranken zeigt im ausgebildeten Stadium das unverkennbare Bild eines ängstlichen Menschen.

Wer aber sagen würde, daß dies mit dem psychologischen Bild der Angst identisch sei, würde stark irren. Die psychologischen Tatsachen, die man bei solchen Fällen wahrnehmen kann, sind, wie erwähnt, die Aufregungszustände und eine gewisse Unfähigkeit zu geistigen oder körperlichen Arbeiten, Schwächezustände, die sowohl organisch, wie auch seelisch bedingt sind. Ein Vergleich aber mit Menschen, die sonst an Hast, Aufregungszuständen und Angst leiden, zeigt uns den gewaltigen Unterschied. Während wir von den Hyperthyeoiden, Menschen mit vermehrter Schilddrüsensekretion, sagen können, da liegen chronische Vergiftungserscheinungen, wie etwa bei einem Rauschzustand, vor, sind wir bei Leuten, die sonst einer Reizbarkeit verfallen sind, die sich hastig benehmen und leicht in Angst geraten, in einer ganz anderen Lage und können deren seelische Vorgeschichte entwickeln. Es handelt sich hier also nur um Ähnlichkeiten, während die Planmäßigkeit eines Charakters und Temperaments fehlt.

Noch eine Anzahl andere Drüsen mit innerer Sekretion soll Erwähnung finden. Eigenartig sind die Zusammenhänge aller dieser verschiedenen Drüsenentwicklungen mit den Keimdrüsen. (Siehe auch: Adler, Studie über die Minderwertigkeit von Organen.) Diese Feststellung ist heute so eigentlich ein Grundsatz der biologischen Forschung geworden, dergestalt, daß man nie irgendwelche Anomalien von Drüsen findet, ohne gleichzeitig auch auf Anomalien der Keimdrüsen zu stoßen. Das besondere Abhängigkeits­verhältnis bzw. der Grund des gleichzeitigen Auftretens dieser Minderwertigkeiten ist noch nicht festgestellt. Aber auch bei diesen Drüsen kann man von anderen seelischen Beeinflussungen, wie oben, nicht sprechen, auch in diesem Fall kommt man kaum weiter als zu demselben Bild, das wir von früher her kennen, dem des organisch minderwertigen Menschen, der sich im Leben schwieriger zurechtfindet und infolgedessen eine erhöhte Zahl von seelischen Kunstgriffen und Sicherheiten zeigen wird.

Man hat insbesondere zu finden geglaubt, daß Charakter und Temperament von den Keimdrüsen beeinflußt sind. Bedenkt man aber, daß weitgreifende Anomalien der Keimdrüsensubstanz im allgemeinen bei den Menschen nicht häufig zu finden sind, so muß man sagen, daß man es dort, wo derartige pathologische Gestaltungen vorhanden sind, mit Ausnahmefällen zu tun hat. Wenn man ferner feststellen muß, daß es eigentlich gar kein seelisches Bild gibt, das direkt auf die Funktionen der Keimdrüse zu beziehen wäre, das nicht vielmehr aus der eigenartigen Situation des Keimdrüsen-Kranken entstünde, so fehlt auch hier wieder die solide Basis für eine psychologische Grundlegung. Man kann wieder nur feststellen, daß auch von den Keimdrüsen gewisse, für die Vitalität notwendige Anregungen ausgehen, die die Position des Kindes in seiner Umwelt begründen, die aber auch von den anderen Organen übernommen werden können und die nicht zu einer eindeutigen seelischen Struktur führen müssen. (Carlyle.)

Da es sich nun bei der Bewertung eines Menschen um eine außerordentlich heikle und schwere Aufgabe handelt, bei der ein Irrtum geradezu über Leben und Tod entscheiden kann, muß hier gewarnt und gesagt werden: Die Verlockung von Kindern, die mit angeborenen körperlichen Schwächen zur Welt kommen, zu besonderen Kunstgriffen und zu einer eigenartigen Entwicklung ihrer Seele, ist groß, aber sie kann überwunden werden. Es gibt kein Organ, sei es in welchem Zustand immer, das einen Menschen zu einer bestimmten Haltung verpflichten würde. Es verleitet nur, aber das ist etwas anderes. Und Ansichten, wie die obigen, können nur bestehen, weil niemand daran gedacht hat, von vornherein den Schwierigkeiten einer seelischen Entwicklung solcher organschwacher Kinder ein Ende zu bereiten, weil man sie in naheliegende Irrtümer verfallen läßt und eigentlich nur betrachtet, aber nicht hilft und fördert. Wir werden demzufolge fordern müssen, daß die in der Individualpsychologie begründete Positionspsychologie gegenüber den Ansprüchen einer neuen Dispositionspsychologie in ihrem Recht erhalten bleibt.

 

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1 Siehe Kretschmer, Charakter und Temperament, Berlin 1921.


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