3. Sicherung und Anpassung.


Auf Grund der bisherigen Ausführungen müssen wir feststellen: Vom Standpunkt der Natur aus gesehen ist der Mensch ein minderwertiges Wesen. Aber diese Minderwertigkeit, die ihm anhaftet, die ihm als ein Gefühl des Verkürztseins und der Unsicherheit zum Bewußtsein kommt, wirkt als ein fortwährender Reiz, einen Weg ausfindig zu machen, um die Anpassung an dieses Leben zu bewerkstelligen, vorzusorgen, sich Situationen zu schaffen, wo die Nachteile der menschlichen Stellung in der Natur ausgeglichen erscheinen. Und da war es wieder sein seelisches Organ, das die Fähigkeit hatte, die Anpassung und Sicherung durchzuführen. Viel schwerer wäre es gewesen, aus diesem ursprünglichen Tiermenschen durch Zuhilfenahme von Wachstums­erscheinungen, wie Hörnern, Kraller. oder Zähnen ein Exemplar zu erzeugen, das der feindlichen Natur hätte standhalten können. Wirklich rasch konnte nur das seelische Organ Hilfe schaffen, welches ersetzte, was dem Menschen an organischer Wertigkeit fehlte. Und gerade der Reiz, der von dem ununterbrochenen Gefühl der Unzulänglichkeit ausging, machte es aus, daß der Mensch eine Voraussicht entwickelte und seine Seele zu einer Entwicklung brachte, wie wir sie heute als Organ des Denkens, Fühlens und Handelns vorfinden. Und da bei diesen Hilfen, bei diesen Anpassungs­bestrebungen auch die Gesellschaft eine wesentliche Rolle spielte, mußte das seelische Organ von Anfang an mit den Bedingungen der Gemeinschaft rechnen. Alle seine Fähigkeiten sind auf einer Grundlage entwickelt, die den Einschlag eines gesellschaftlichen Lebens in sich tragen. Jeder Gedanke des Menschen mußte so beschaffen sein, daß er einer Gemeinschaft gerecht werden konnte.

Wenn man sich nun vorstellt, wie der Fortschritt weiterging, dann kommt man zu den Ursprüngen der Logik, die in sich die Forderung der Allgemeingültigkeit trägt. Logisch ist nur, was allgemeingültig ist. Ein weiteres deutliches Resultat des gemeinschaftlichen Lebens finden wir in der Sprache, einem Wunderwerk, das den Menschen vor allen andern Lebewesen auszeichnet. Man kann sich von einer Erscheinung, wie sie die Sprache ist, den Begriff der Allgemeingültigkeit nicht wegdenken, was darauf hinweist, daß sie im sozialen Leben der Menschen ihren Ursprung hat. Sprache ist für ein einzeln lebendes Wesen ganz überflüssig. Sie rechnet mit dem gemeinsamen Leben der Menschen, sie ist ein Produkt desselben und Bindemittel zugleich. Ein starker Beweis für diesen Zusammenhang liegt darin, daß Menschen, die unter Bedingungen aufwachsen, unter denen der Anschluß an andere Menschen erschwert oder verwehrt ist oder die diesen Anschluß selbst verweigern, fast regelmäßig an ihrer Sprache und Sprachfähigkeit Mangel leiden. Es ist, als ob dieses Band nur gebildet und erhalten werden könnte, wenn der Kontakt mit der Menschheit gesichert ist. Die Sprache hat eine überaus tiefe Bedeutung für die Entwicklung des menschlichen Seelenlebens. Logisches Denken ist nur möglich unter der Voraussetzung der Sprache, die uns durch die Möglichkeit der Begriffsbildung erst in die Lage versetzt, Unterscheidungen vorzunehmen und Begriffe zu schaffen, die nicht Privateigentum sind, sondern Gemeingut. Auch unser Denken und Fühlen ist nur begreiflich, wenn man Allgemeingültigkeit voraussetzt, und unsere Freude am Schönen erhält ihre Grundlage nur durch das Verständnis, daß das Gefühl und die Anerkennung für das Schöne und Gute Gemeingut sein muß. So kommen wir zu der Erkenntnis, daß die Begriffe von Vernunft, Logik, Ethik und Ästhetik nur in einem gemeinschaftlichen Leben der Menschen ihren Ursprung haben können, daß sie aber gleichzeitig auch die Bindemittel sind, welche die Kultur vor Verfall zu schützen haben.

Aus der Situation des einzelnen Menschen ist auch sein Wollen zu begreifen. Der Wille stellt nichts anderes vor als eine Regung, aus einem Uefühl der Unzulänglichkeit zu einem Gefühl der Zulänglichkeit zu gelangen. Diese Linie vorschweben fühlen und betreten, heißt »wollen«. Jedes Wollen rechnet mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit, der Minderwertigkeit und löst den Zwang aus, die Neigung, einen Zustand der Sättigung, der Zufriedenheit, der Vollwertigkeit anzustreben.


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