Zur Rolle des Unbewußten in der Neurose


(1913)

 

Unser Verständnis für die Einzelfragen in der Psychologie der Neurosen ist so sehr an die individuelle Betrachtungsweise geknüpft, daß man behaupten kann: jede Arbeitshypothese, obwohl aus Einzelerkenntnissen erwachsen, gibt ein Bild von der Weite der Anschauungen und von den Grenzen der Erkenntnis des Untersuchenden. Und dies so sehr, daß dadurch erklärlich wird, wie es zu verschiedenen Auffassungen, Wertungen, Voraussetzungen kommt, wie die eine Schule diesen, die andere jenen Punkt ihrer Darstellungen hervorhebt oder mindert, wie dem einen die Wichtigkeit eines Beobachtungsmaterials entgeht, wo ein anderer Unwesentlichem besondere Würde verleiht. Wer für eine formulierte Lehre einsteht, ist kaum wankend zu machen;1) es wäre denn, daß ihm die inneren Widersprüche bewußt werden. Im allgemeinen benimmt er sich wie ein nervöser Patient, der eine Änderung seines Lebensplanes so lange nicht zuläßt, bis er sein unbewußtes Größenideal erkannt hat und es als unrealisierbar verwirft. Vergleiche dazu Baco in seinem Novum Organum über diejenigen, die meinen, daß von der Arbeit des Menschen nichts Großes erreicht werden kann: »Diesen ist es nur um den Glauben an ihre eigene unübertreffliche Vollkommenheit zu tun. Daher wünschen sie, daß man das, was sie noch nicht erfunden und begriffen haben, für durchaus unbegreiflich und unauffindbar halte.«

Zum Unterschiede zu manchen anderen Autoren möchte ich den Leser zur Prüfung ermuntern, diese Betrachtung auch auf die folgenden Ausführungen anzuwenden. Die Psychotherapie ist ein künstlerischer Beruf. Die Selbstanalyse — nur wertvoll als Erfassung der eigenen Lebenslinie — etwa dem Selbstporträt vergleichbar, bietet schon deshalb keine Garantie für »voraussetzungsloses« Forschen, weil sie wieder mit den leider beschränkten Mitteln der Persönlichkeit (oder zweier Persönlichkeiten) zustande kommt, und weil die individuelle Perspektive nicht zuläßt, sich oder andere anders als individuell zu betrachten. Persönliche, d. h. andere als in der Wissenschaft übliche, sachliche Argumentationen bei der Beurteilung psychotherapeutischer Anschauungen anzuwenden ist demnach ein lästiger Unfug, der nur durch die Jugend unserer Disziplin erklärlich ist, der auch auf die Dauer keinen Anklang finden dürfte.

Durchaus nicht so störend wirken diese Grenzen der Individualität in der psychotherapeutischen Praxis. Scheitert der Nervöse an dem Druck der Realität, so lehrt ihn der Arzt, sich mit Realität und der Gemeinschaft auseinanderzusetzen. Der Zusammenstoß von Patient und Arzt hindert immer wieder das Wandeln des Neurotikers in der Fiktion. Und während der Patient um seine Überlegenheit zu kämpfen vermeint, verweist ihn der Arzt auf die Einseitigkeit und Starre seiner Attitüde.2) Unerschütterliche Basis bleibt ihm dabei die Forderung und der Nutzen der menschlichen Gemeinschaft, der Kooperation.

Dabei erweist sich als die größte Schwierigkeit in der Kur, daß der Patient, obgleich er die Einsicht in den neurotischen Mechanismus zu haben glaubt, gleichwohl seine Symptome teilweise aufrechterhält. Bis sich eine neuer, vielleicht der schwerwiegendste der neurotischen Kunstgriffe enthüllt: Der Patient bedient sich des »Unbewußten«, um mit seinen alten Bereitschaften und Symptomen trotz der Aufklärung dem alten Ziel der Überlegenheit folgen zu können. Er sagt, er wiederholt das Richtige, aber er versteht es nicht, versteht nicht den Zusammenhang, wehrt sich gegen das tiefere Verständnis, auch um gegen den Arzt recht zu behalten. Und mit dieser Feststellung sind wir wieder auf der Linie der Aufklärungen, die ich in meiner Arbeit Über den nervösen Charakter den neurotischen Lebensplan beschreibend erörtert habe. Die nervöse Psyche ist, um ihr überspanntes Ziel überhaupt anstreben zu können, zu Kunstgriffen und Finten gezwungen. Einer dieser Kunstgriffe ist die Verlegung des Zieles oder eines Ersatzzieles ins Unbewußte. Steckt dieses Ziel als »Moral« in einem Erlebnis oder in einer Phantasie, dann können auch diese der Amnesie ganz oder so weit verfallen, daß das fiktive Endziel darin verschleiert wird. Dasselbe erreicht der Patient, übrigens auch der Kritiker, wenn er übersieht, wie eine festgehaltene Erinnerung, ein Symptom, eine Phantasie tendenziös über sich hinausweist, noch etwas, etwas viel Wichtigeres bedeutet, als es für ihn den Anschein hat.

Es ist nur eine andere Ausdrucksweise, geht übrigens folgerichtig aus diesen Feststellungen hervor, wenn ich hervorhebe, daß dieses gleiche Ziel oder Bruchstücke von Erlebnissen und Phantasien, die mit diesem Ziel verknüpft sind, dem Bewußtsein so weit und in der Form zugänglich sind, daß sie der Erreichung des Persönlichkeitsideals förderlich und nicht im Wege sind. Die biologische Bedeutung des Bewußtseins ebenso wie die des geschilderten Anteils des Unbewußten liegt also in der Ermöglichung des Handelns nach einem einheitlich gerichteten Lebensplan. Diese Anschauung deckt sich zum Teil mit den bedeutsamen Lehren Vaihingers und Bergsons3 )und weist auf die aus dem Instinkt erwachsene, den Zwecken der Aggression angepaßte Qualität des Bewußtseins hin.

Auch die dem überspannten neurotischen Ideal gehorchende, bewußte Vorstellung ist also in der Qualität ihrer Bewußtheit ein Kunstgriff der Psyche, wie aus der Analyse der überwertigen Ideen, des Wahnes, der Halluzination,4) überhaupt der Psychosen deutlich hervorgeht, freilich ohne daß der Operationsplan, also der Sinn der Erscheinung, in diesen Fällen bewußt und verständlich wurde. Jede bewußte Manifestation der Psyche weist uns demnach in gleicher Weise auf das unbewußte fiktive Endziel hin wie die unbewußte Regung, sofern man sie richtig erfaßt. Die billige Redensart vom »Oberflächenbewußtsein« kann nur den täuschen, der diesen Zusammenhang noch nicht kennt. Die scheinbare Gegensätzlichkeit von bewußten und unbewußten Regungen ist nur ein Gegensatz der Mittel, für den Endzweck der Erhöhung der Persönlichkeit, für das fiktive Ziel der Gottgleichheit aber irrelevant und nicht vorhanden.

Dieser Endzweck aber und jeder überspannte Formenwandel desselben muß im Unbewußten und unverstanden bleiben, wenn er durch seinen offenen Gegensatz zur Realität das Handeln nach der neurotischen Leitlinie unmöglich macht. Wo die Bewußtseinsqualität als Mittel des Lebens, als Sicherung der Einheit der Persönlichkeit und als Sicherung des Persönlichkeitsideals nötig wird, erscheint sie auch in der geeigneten Form und Ausdehnung. Selbst das fiktive Ziel, der neurotische Lebensplan, kann teilweise ins Bewußtsein treten, wenn dieser Vorgang geeignet ist, eine Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls zu bewirken. So besonders in der Psychose. Sobald aber das neurotische Ziel durch sein Bewußtwerden sich selbst aufheben könnte, immer dadurch, daß es in großen Widerspruch zum Gemeinschaftsgefühl gerät, formt es den Lebensplan im Unbewußten.

Diese aus den Tatsachen psychologischer Phänomene erhobenen Befunde finden ihre theoretische Bestätigung in einer Schlußfolgerung, die — wenn auch unausgesprochen — aus den fundamentalen Lehren Vaihingers von dem Wesen der Fiktion hervorgeht. In einer grandiosen Synthese erfaßt dieser geniale Forscher das Wesen des Denkens als ein Mittel zur Bewältigung des Lebens, das mit dem Kunstgriff der Fiktion, einer theoretisch wertlosen, aber praktisch notwendigen Idee seinen Zweck zu erreichen sucht. War diese tiefe Konzeption und Klarstellung des Wesens der Fiktion erst nötig, uns ganz mit den Kunstgriffen unseres Denkens vertraut zu machen — eine Einsicht, die unsere Weltanschauung entsprechend umgestalten wird — so liegt in der Tatsache ihrer »Entdeckung« bereits angedeutet, daß auch die leitende Fiktion des Seelenlebens dem Unbewußten angehört und daß ihr Auftauchen ins Bewußtsein für den Endzweck teils überflüssig, teils aber hinderlich sein kann.

An diese Tatsache kann die Psychotherapie anknüpfen, indem sie die leitende Größenidee ins Bewußtsein ruft und durch Kritik ihre Wirksamkeit für das Handeln unmöglich macht. Dementsprechend soll in folgendem gezeigt werden, daß nur die unbewußte leitende Persönlichkeitsidee das neurotische System ganz ermöglicht.5)

I. Die Nichte einer Patientin kündigt im Geschäft den Dienst. Patientin ist besorgt, daß diese — obwohl sie sie früher sehr gering gewertet hatte — unersetzlich wäre. Sie jammert, daß sie selbst nie fertig werde, zweifelt, ob sie die oder die Person anstellen solle. Der Mann ist unbrauchbar. Das Fräulein ist ein Papagei. Man hört heraus: »Nur ich, ich, ich!« — und: »wenn ich nicht wäre!«

Die Frau leidet an Platzangst. Das heißt: sie kann nicht fortgehen. Wie sollte sie auch fortgehen können, wenn sie sich immer »in die Auslage stellen muß«! Sie sichert sich durch die Platzangst, um zu Haus zu bleiben und ihre Unersetzlichkeit zu demonstrieren. Sie leidet an Schmerzen in den Beinen. Nimmt drei bis vier bis fünf Gramm Aspirin täglich. Des Nachts wacht sie oft vor Schmerzen auf, nimmt Pulver, denkt über geschäftliche Aufgaben nach und dies mehrere Male in einer Nacht. Sie hat Schmerzen, um sogar in der Nacht an das Geschäft denken zu können und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das überspannte Größenideal dieser Patientin, Mann, Königin, überall die erste zu sein, kann nur wirksam werden, solange es unbewußt bleibt. Reminiszenzen aus der Kindheit, wie die Knaben es besser hätten, decken sich mit ihrer heutigen Anschauung, daß die Frauen minderwertig seien, hat öfters Träume, in einem Königsschloß zu sein.

II. Traum eines 26jährigen Mädchens, die wegen Wutausbrüchen, Suizidgedanken, Weglaufen in Behandlung kam.

»Mir war, als ob ich verheiratet wäre. Mein Mann war ein schwarzer mittelgroßer Herr. Ich sagte: Wenn du mir nicht hilfst, mein Ziel zu erreichen, so werde ich alle Mittel versuchen, auch gegen deinen Willen.«

Das der Patient unbewußt gewesene Ziel aus der Kindheit war: sich in einen Mann zu verwandeln (siehe Kainois, Ovid)6), um immer die Herrschende zu sein.

Dieses Ziel war in der Kindheit nicht unbewußt, wenngleich es für das kleine Mädchen nicht alles bedeutete, was wir in dieser Aufstellung sehen, die psychologische und soziale Bedeutung ihres Wunsches konnte von dem Kinde nicht mit voller Klarheit erfaßt werden. Aber es äußerte sich in besonderer, übertriebener Wildheit, in nahezu zwangsmäßigem Antrieb, Knabenkleider anzulegen, Bäume hinaufzuklettern, in Kinderspielen die Rolle eines Mannes zu wählen, Knaben — um das Prinzip der Metamorphose zu erhalten — weibliche Rollen zuzumessen.

Unsere Patientin war ein kluges Kind und erkannte bald ihre leitende Fiktion als unhaltbar. Da geschah zweierlei: 1. Sie kam zum Formenwandel der Fiktion, die nunmehr lautete: Ich muß von allen verzärtelt werden! Auf die Kraftlinie reduziert: ich muß alle beherrschen, das Interesse aller auf mich ziehen. 2. Sie vergaß, »verdrängte« ihre ursprüngliche leitende Idee — damit sie sie weiter behalten konnte. — Dieser Kunstgriff der Psyche ist ungemein wichtig. Ich brauche kaum zu erwähnen, daß es sich nie dabei um die Verdrängung sexueller Regungen oder von »Komplexen« ins Unbewußte handelt, sondern immer nur um das Unbewußtwerden von Machtbestrebungen, die vom leitenden Persönlichkeitsideal abstammen, um Fiktionen, die in dessen Interesse festgehalten werden müssen, damit sie einer bewußten Anwendung und somit einer Erprobung und Beeinträchtigung entzogen werden. Auch die Verkleidung der Machtbestrebungen ins Sexuelle ist noch Oberflächenwirkung und Verheimlichung des tiefer liegenden Machtstrebens. So sichert sich das Persönlichkeitsideal, um nicht aufgelöst zu werden, damit nicht die über alles erstrebte und lebensnotwendige Einheit der Persönlichkeit verlorengehe: durch die Verschleierung seiner Fiktionen, indem es sie dem Bewußtsein entzieht! Die Technik dieser Verschleierung läuft darauf hinaus, die Voraussetzungen des Handelns nicht mit dem Verstände zu durchleuchten, weil das neurotische Handeln dem Patienten als unanfechtbar erscheinen muß und ihm die neurotische Machtstellung sichert, während die unverstandene Voraussetzung seines Handelns ein schweres Minderwertigkeitsgefühl enthält.

III. Traum eines Patienten, der wegen Suizidversuchs, wegen Untauglichkeit und Ungeschicklichkeit, wegen sadistischer Phantasien und Perversionen, wegen Zwangsmasturbation und wegen Verfolgungsideen in meine Behandlung kam.

»Ich teilte meiner Tante mit, mit Frau P. sei ich jetzt fertig. Ich kenne alle ihre guten und schlechten Charakterzüge, und ich zählte sie auf. Die Tante erwiderte: Auf einen Zug hast du vergessen: auf die Herrschsucht.«

Die Tante ist eine schlagfertige, etwas sarkastische Frau. Frau P. hat mit dem Patienten ein Spiel getrieben, durch das sie ihn zur Raserei brachte. Sie zeigte ihm durch ihre Haltung, daß sie ihn geringschätze, und stieß ihn zurück, um ihn nach einiger Zeit wieder an sich zu ziehen. Für den Patienten überwogen natürlich die Demütigungen. Sie waren, wie für viele Nervösen die Niederlagen, nur Anlässe, sich in diese Affäre zu verbeißen, um doch einen Umschwung herbeizuführen und zur Beherrschung der Situation zu kommen oder sich unnützerweise festzulegen, um andere Frauen auszuschalten. Das gereizte, gesteigerte Minderwertigkeitsgefühl sucht eine Überkompensation, und es ist ein typisch nervöser Zug, wie solche Patienten niemals von Menschen loskommen, die ihnen eine Niederlage bereitet haben. Das Verständnis dieses Charakters löst uns das ganze Geheimnis der Neurose, das »Ja — aber!« in seinem Wesen.

In der Literatur werden ähnliche Züge als masochistisch gewertet. Ich habe in der Arbeit ›Die psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie‹ diesen verwirrenden Irrtum bereits aufgeklärt. Man kann nur von pseudomasochistischen Zügen reden. Denn sie dienen in gleicher Weise wie der Sadismus dem Streben nach Überlegenheit, scheinen nur gegensätzlich, ambivalent, solange man nicht weiß, daß beide Formen des Lebens gleichwertig nach dem gleichen Ziele streben. Sie sind bloß für den Betrachter gegensätzlich, nicht aber für den Kranken, nicht aber in der Betrachtung vom Standpunkt eines richtig verstandenen neurotischen Lebensplanes aus.

Patient hatte seit jeher einen außerordentlich stärken Hang zu einer analysierenden Welt- und Menschenbetrachtung. Wie so oft stammte dieser Zug aus einer starken Entwertungstendenz. Der analysierende Neurotiker handelt förmlich nach dem Schlagwort: divide et impera! Er löst die oft reizvollsten Zusammenhänge auf und erhält dann ein wertloses Gemenge von Schablonen. Ecce homo! Ist dies aber wirklich der Mensch? Eine wirkliche, lebendige Psyche? Ist die schrullenhafte Antithetik, in die Bewußtsein gegen Unbewußtsein gesetzt ist, nicht der Ausdruck kindlicher Denkungsweise?

Sarkastisch wie die Tante möchte Patient selbst sein. Er hat aber nur den Treppenwitz und findet nie eine schlagfertige Antwort. Diese »zögernde Attitüde« verdankt er freilich seinem Lebensplan, der ihn zwingt, jede Antwort so zu geben, daß der »Gegner« — und jeder ist eigentlich sein Gegner — vernichtet ist, oder gar nicht oder so mangelhaft zu antworten, daß er und seine Angehörigen den Eindruck gewinnen, man müsse zart mit ihm umgehen, ihm in jeder Weise behilflich sein.

Patient stand am Tage, bevor er träumte, unter dem Eindruck einer Unterredung mit dem älteren Bruder, dem er sich nie gewachsen gefühlt hatte. Der Bruder versprach ihm, er wolle sich noch einmal für ihn bemühen und ihm zum letzten Male eine Stelle verschaffen. Solche Unternehmungen des stärkeren Bruders zum Scheitern zu bringen war aber gerade die Spezialität unseres Patienten gewesen. Und seine Behandlung wurde nötig, weil er einen Suizidversuch gemacht hatte, kurz nachdem er sich bei dem Bruder für die Erlangung einer Stelle bedankt hatte. — Als ihm der Bruder eines Tages wegen seiner schlechten Kleidung Vorwürfe machte, träumte er, er habe einen neuen Anzug an, den er mit Tinte übergössen hatte. Kennt man die psychische Situation eines Patienten, so sind auch seine Träume ohne viel Deutungsarbeit leicht verständlich. Wir sehen Gedanken und antizipierte Handlungen darauf abzielen, den Bruder um seine Geltung zu bringen, um seinen Einfluß, seine Leistungen hinterrücks und heimlich wieder aufzuheben. Dabei ist unser Patient ein gewaltiger Ethiker und Moralist, was ihn wieder über den Bruder hinaushebt.

Die gegen den Bruder gerichtete Entwertungstendenz arbeitet also verdeckt, sozusagen im Unbewußten. Nichtsdestoweniger leistet sie mehr, als sie im Bewußtsein erreichen könnte, weil der Einspruch des Gemeinschaftsgefühls unmöglich wird.

Woher sie kam, ist leicht zu sagen: Sie ist ein Abkömmling der überspannten, kompensierenden Größenidee des Patienten. Warum arbeitet sie im Unbewußten? Damit sie überhaupt arbeiten kann! Denn das Persönlichkeitsideal unseres Patienten würde durch ein derartiges bewußt herabsetzendes, beschimpfendes Wollen eine Beeinträchtigung erfahren, der Patient würde sich minderwertig fühlen. Deshalb der Umweg, deshalb die Charakterzüge der Unbeholfenheit und Ungeschicklichkeit, die Finessen und Raffinements ausgeübter Minderwertigkeit im Beruf und im Leben! Deshalb auch der Selbstmordversuch im äußersten Fall und die heimliche Drohung mit demselben, um den Druck gegen den Bruder zu verstärken! Um dessen Anspannung zu erhöhen, um ihn um die erhofften Früchte seiner Bemühungen zu bringen!

Daraus leiten wir den praktisch ungemein wichtigen Satz ab: Wir können das neurotische Handeln so betrachten, als ob es wie im Bewußten einem Ziel gehorchte.7) Und wir können vorläufig abschließend behaupten: die Unbewußtheit einer Fiktion, eines moralisierenden Erlebnisses oder einer Erinnerung kommt als ein Kunstgriff der Psyche zustande, wenn das Persönlichkeitsgefühl und die Einheit der Persönlichkeit durch das Bewußtwerden derselben bedroht wäre.

»Auf die Herrschsucht nicht vergessen!« lautet mein Warnungsruf an den Patienten. Ich werde im Traum mit der Tante in eine Linie gestellt, sowie der Bruder mit der Frau P., die immer überlegen war. Diese Verweiblichung von zwei Männern geschieht unter dem gleichen Impuls der Entwertung, von der oben die Rede war. Aber der Patient ermahnt sich im Traume bereits, durch die Worte der Tante, d. h. durch meine Worte, was bisher meine Aufgabe war, ja die wichtigste Aufgabe des Psychotherapeuten überhaupt ist. Man sieht das derzeitige Stadium der Neurose: Die durch den Bruder erlittene Herabsetzung beantwortet er durch Entwertung des Bruders. Da ruft er sich zur Ordnung, wie ich es sonst getan habe.

Am nächsten Tage schrieb er an die Schwester einen Brief, den er zu schreiben gezögert hatte. Er beschwert sich zum ersten Male offen über die Arroganz des Bruders. Zum Schlüsse fügte er allerdings hinzu, sie möge den Brief geheim halten. Der offene Kampf scheint ihm noch zu schwer, weil er die heimliche Herrschsucht des Patienten enthüllen würde.

 

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1) Siehe Furtmüller, Psychoanalyse und Ethik. München 1912.

2) Siehe ›Beitrag zum Verständnis des Widerstands in der Behandlung‹, in diesem Band.

3) Paul Schrecker, Bergsons Philosophie der Persönlichkeit. München 1912. Neuerdings haben besonders Furtmüller und W. Stern diese Tatsache bedeutsam hervorgehoben.

4) Siehe Individualpsychologische Betrachtung von Bergers ›Hofrat Eysenhardt‹ in diesem Band.

5) Der Gegensatz zur Auffassung Freuds und anderer Autoren liegt klar zutage. Tatsächlich beherrscht der Zwang zur Einheit der Persönlichkeit, also das fiktive Ziel den Umfang des Bewußten wie des Unbewußten.

6) Diesen wertvollen Hinweis verdanke ich Herrn Professor Oppenheim in Wien.

7) Diese Betrachtung stützt sich vor allem auf die Erkenntnis, daß der Patient teleologisth vorgehen muß.


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