Das organische Substrat der Psychoneurosen


Zur Ätiologie der Neurosen und Psychosen

 

(1912)

 

Wer sich mit den Phänomenen des Lebens, der Psyche, des Charakters, der Nervosität befaßt, mag oft über die Flüchtigkeit der Ausdrucksbewegungen Klage führen. Nicht ganz mit Recht! Denn eine tiefere Betrachtung kann uns belehren, daß jede verschwindende Gebärde von einer neuen gefolgt wird, die in sich, wie der einzelne Ton einer Melodie oder wie das einzelne Bild eines Kinematographenfilms Spuren der Vergangenheit und Ansätze für die Zukunft enthält. Und auch was alle diese Ausdrucksbewegungen innerlich verbindet, entgeht unserer Intuition und unserer vergleichenden psychologischen Erforschung nur zum Teil: die unverrückbar gewordene Lebenslinie, der Habitus der Persönlichkeit.1 )

Der Habitus des Nervösen nun läßt nach kurzer Zeit der Betrachtung regelmäßig erkennen, daß er kategorischer und prinzipieller als der annähernd Normale seine persönliche Überlegenheit innerhalb eines Milieus in irgendeiner, oft absonderlichen Form durchzusetzen sucht. Geht man den Ursachen dieses angespannten Strebens nach, so findet man regelmäßig ein Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit, der Entmutigung, auf dem sich eine Bewegung aufbaut, die man nicht anders als planmäßig bezeichnen kann. Mit anderen Worten: es ist kein blindes Drängen, etwa eine ziellose Flucht vor Herabsetzungen irgendwelcher Art, was uns die Analyse des neurotischen Phänomens, sofern wir den Zusammenhang nicht übersehen, erschließt, sondern ein Weg, ein modus vivendi, der aus der Unsicherheit herausführen soll, sie verkleinern soll, der aber freilich der Kritik des Lebens nicht standhält. Eine Aktion, und keine Reaktion.

In den seltensten Fällen geht die Einsicht des Patienten so weit, daß man von einer Lebensanschauung, von einer Privatphilosophie desselben sprechen könnte. Man sieht vielmehr, sobald man die Linie des neurotischen Bestrebens erkannt hat, Attitüden, gewohnheitsmäßige psychische Allüren und Gebärden, deren Dynamik für den Patienten im dunkeln bleibt, wenngleich die Handlungen und Gesten den Eindruck machen, »als ob« der Patient ein Ziel vor Augen hätte. So wird eine Hysterika bei der Ankunft einer bevorzugten Schwester die neurotische Attitüde der Gereiztheit annehmen, während sie äußerlich zuweilen von Liebe überströmt. Ein Neurotiker, der seit früher Kindheit mit dem älteren Bruder rivalisiert, wird einen Suizidversuch unternehmen, bevor er die Stelle antritt, für deren Erlangung er sich kurz vorher bei seinem Bruder bedankt hat. Eine Patientin mit Platzangst, die sich selbst nichts zutraut, wird so viel Angst entwickeln als nötig ist, um ihre Angehörigen in ihren Dienst zu stellen und zu beherrschen. Patienten mit Masturbationszwang und Perversionsneigung werden so viel Libido zeigen, als zur Ausübung ihrer abnormen Sexualbetätigung gehört. Schmerzanfälle wie Migräne, Neuralgien, neurotische Herz- und Leibschmerzen treten immer motiviert auf, und zwar wenn die Nötigung besteht, das bedrohte Persönlichkeitsgefühl zu schützen. Ebenso ereignen sich Ohnmachtsanfälle und psychogene epileptische Insulte immer in einer Situation, in der der Patient — eben aus seiner psychischen Situation heraus — zur Sicherung seiner Herrschaft durch den Anfall schreiten muß. Es gelingt mit ziemlicher Sicherheit, sobald man die Einfühlung in die Psyche des Patienten gewonnen hat, aus der seelischen Nötigung des Patienten den Anfall vorherzusagen. So wird sich auch etwa Tremor einstellen, wenn der neurotisch Disponierte durch ihn einem Beruf und gewissen Entscheidungen ausweichen kann, ähnlich wie bei neurotischen Studenten Gedächtnisschwäche oder die arbeitstörende Schlaflosigkeit oft die ausbrechende Neurose einleitet. In allen ähnlichen Fällen steht der Patient körperlich und seelisch unter dem Zwang einer intendierten Aggressionshemmung, die immer planvoll und systematisch wirkt, die sprechen kann, wenn man sie richtig fragt. Im allgemeinen wird man finden, daß die psychische Richtung und die Ausdrucksbewegungen des Patienten einheitlich und prinzipiell geworden sind, und daß man sie als ein allgemeines Zögern, als »die zögernde Attitüde« begreifen kann.

Vom Standpunkt einer psychischen Dynamik sind diese Erscheinungen als »Sicherungen« eines Entmutigten zu verstehen, in die der Patient allmählich hineingewachsen ist, weil er mit ihrer Hilfe sein Persönlichkeitsgefühl am besten schützen kann. Sie drücken allesamt sozusagen körperlich ein »Nein« aus, während der Mund oft unaufhörlich zu einer bevorstehenden Frage des Lebens ein »Ja« sagt. Aber gerade dieser zwiespältige Gestus des Nervösen, die Grundlage des sogenannten double vie, zeigt uns, wie hier ein Mensch unter inneren Schwierigkeiten einen Weg gesucht hat, einen Weg, der in die Höhe führen soll, der aber immer in schwer zu durchschauenden Windungen verläuft.

Dieser unweigerliche Eindruck sowie die Tatsache der prinzipiell festgehaltenen Phänomenologie, die mit ihrer Vorausbestimmtheit und ihrem berechenbaren Abbrechen vor dem zu hoch gesteckten Ziel schablonenhaft anmutet und an die Technik einer Maschine erinnert, der Ausschluß und die psychische Entwertung von Betätigungsmöglichkeiten, die das Bild der Einschränkung und einer Ausschaltung notwendiger Betätigungen in der Gemeinschaft ergeben, zwingt uns zu dem Schlüsse, wie er regelmäßig zu erhärten ist: daß die Neurose ein Versuch ist, ein hochgespanntes Persönlichkeitsideal zu erreichen, während der Glaube an die eigene Bedeutung durch ein tiefsitzendes Minderwertigkeitsgefühl bereits erschüttert ist.

Um aber zu einer Handlung zu gelangen, sind drei Voraussetzungen nötig: 1. eine ungefähre, selbstbewußte Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, 2. ein Ziel, das mit diesen Fähigkeiten und mit realen Möglichkeiten rechnet, 3. eine optimistische Stimmungslage, die den Einsatz aller Kräfte ermöglicht. — Von der Selbsteinschätzung des Neurotikers können wir mit Bestimmtheit sagen, daß sie ursprünglich eine besonders niedrige ist. Vom Ziel wissen wir, daß es zu hoch gespannt ist. Nähere Erläuterungen über das neurotische — man kann auch sagen über das menschliche, unbewußte — Ziel finden sich in meinem Buche Über den nervösen Charakter (1. c), und ich bin zu dem Ergebnis gelangt, daß dieses im Unbewußten gesetzte und immer wirksame Ziel einer Kompensation- oder Sicherungstendenz des Unsicheren entspringt, daß die auf dieses Ziel gerichtete Leitlinie kategorischer und dogmatischer als die Leitlinien des Gesunden innegehalten wird und daß sie auf den unausweichlichen Wegen der nervösen Bereitschaften, der nervösen Charaktere und Symptome die Versuche in jene Richtung weist, von der der Patient im Chaos der Welt statt der angenommenen Unsicherheit Sicherung, statt des Gefühls der Minderwertigkeit: das Empfinden der eigenen Überlegenheit über die anderen, die Erfüllung seines Persönlichkeitsideals erwartet.

Solange man von dieser Zielstrebigkeit, von dieser Anbetung eines selbstgeschaffenen Götzen nichts weiß, ist es naheliegend, in den Irrtum einer von außen geschaffenen teleologischen Abhängigkeit des Seelenlebens zu verfallen, ein Irrtum, der durch die Tatsache verschuldet wird, daß schon der erste unscheinbarste Akt jeder Handlung unbewußt und unmerklich von einer Zielsetzung begleitet wird, so wie auch der elan vital, der »Strom des Lebens« unter dem Zwang eines in der Kindheit gesetzten, in seiner Urform im Unbewußten bleibenden fiktiven Endziels abläuft. Und die Erfassung dieses Zusammenhanges gibt auch auf die Frage nach der Auswahl des Symptoms eine erschöpfende Erklärung. Es gereicht mir zur besonderen Ehre, daß ich bei Besprechung dieser seelischen Phänomene neben meinen Befunden und Anschauungen die fundamentalen Lehren Vaihingers und Bergsons zitieren kann und daß ich auf manche Berührungspunkte mit Darstellungen Klages' verweisen darf.

Sind wir so über die Zielsetzung und ihr Besonderes in der Seele des Nervösen ins reine gekommen, so bedarf es noch weiterer Ausführungen betreffs der Ursachen dieser Besonderheiten. Wie ich schon hervorgehoben habe, liegen diese Ursachen in einem stark vertieften Minderwertigkeitsgefühl des dermaßen disponierten Kindes, und es erübrigt uns noch, dessen Entstehung und Entwicklung klarzulegen. Ich habe seit meiner Studie über Minderwertigkeit von Organen die Anschauung vertreten, daß die uns aus der Pathologie bekannte Organminderwertigkeit den Anstoß gibt zu einem Gefühl der Minderwertigkeit, und ich konnte aus dieser verstärkten Unsicherheit des Kindes, einer Relation zwischen eigenem Unvermögen und der Größe der äußeren Anforderungen,2) jene erhöhte Anspannung ableiten, die unter anderem zu den neurotischen Kompensationsversuchen den Anlaß gibt. Hierher gehören alle Infantilismen und Organminderwertigkeiten, Konstitutionsanomalien, Keimverschlechterungen und Störungen der inneren Drüsensekretionen usw. Es würde zu weit führen, wollte ich das psychische Bild beschreiben, das solche konstitutionell minderwertige Kinder in den ersten Lebensjahren bieten. Summarisch 3) läßt sich anführen, daß sie alle die Schwierigkeiten des Lebens stärker und schwerer empfinden, was durch eine unvernünftige Erziehung erheblich vermehrt werden kann, indem bald durch Strenge, bald durch Verzärtelung die Situation erschwert wird. Ein ganzes Heer von Übeln bedroht diese Kinder mit Schmerzen, Schwächen, Kinder- und Entwicklungsfehlern, mit Häßlichkeit, Plumpheit und verminderter geistiger Entwicklung. Zu dem vermeintlichen Gefühl der Zurückgesetztheit gesellt sich — meist als Folge ihrer Unleidigkeit — eine wirkliche Zurücksetzung, die ihnen recht zu geben scheint, und drängt sie auf den Weg der seelischen Kunstgriffe und Finten. Der natürliche Wettkampf des Kindes um seine Geltung wird ins Ungeheure übertrieben, das Ziel des persönlichen Strebens wird überaus hoch angesetzt, ihre Seele zeigt sich dem Pläneschmieden, den Anschlägen und Träumereien ungemein geneigt, die starke Benützung fiktiver Anhaltspunkte drängt zum trügerischen, analogischen und symbolischen Denken, und jeder Schritt des Kindes verrät seine übergroße Vorsicht und übertriebene Geltungssucht. Alle Unbefangenheit geht verloren, das Messen mit jedermann nimmt kein Ende, die Erwartungen werden aufs höchste gespannt, und die geringfügigsten Entscheidungen gelten als Urteil über Leben und Tod. Immer sucht es nach Stützen, immer verlangt es die Unterwerfung der andern. Seine Fehler werden ihm zu Hilfen, denn die andern müssen nun eingreifen. Seine Ängste werden ihm zu Angriffswaffen, denn die anderen müssen ihm beistehen. Seine Schüchternheit, seine Ungeschicklichkeit und Plumpheit werden ihm zu Vorwänden, um die anderen in seinen Dienst zu stellen. Und alles wird ihm zur Ausrede, wie ihm die Krankheit zur Notwendigkeit wird, damit sein Stolz und sein Größenwahn durch den Mangel des Erreichten und durch die Dürftigkeit des Erreichbaren nicht empfindlich verletzt werden. Ich werde nicht weiter auf die Schilderung dieses ungemein packenden Seelenzustandes eingehen, von dem ich das Maßgebende bereits in meinem Nervösen Charakter beschrieben habe.

Nun bliebe mir noch die Aufgabe, jene pathologischen Momente zu schildern, die es ausmachen, daß das Begehren aller Kinder, mehr zu sein als ihre Erzieher, sich so maßlos steigern kann. Was ich davon im speziellen sah, betraf alle möglichen Konstitutionsanomalien, und zwar begreiflicherweise zumeist die leichteren Formen, die lymphatische Konstitution mit ihren Konsequenzen, wie körperliche Schwäche, adenoide Vegetationen usw., ferner Formen von exsudativer Diathese mit Krankheitsbereitschaften in den Atmungs- und Verdauungsorganen wie in der Haut (Czerny), Hypo- und Hyperfunktionen der Schilddrüsen, der Epithelkörperchen, der Keimdrüsen und der Hypophyse, betraf Rachitis, Hydrocephalus und Dysplasie der blutbereitenden Organe, alle mit einer Unzahl von Krankheitsbereitschaften, die körperliche oder geistige Minderwertigkeit bedeuten. Alle Organminderwertigkeiten ferner, die das Größenwachstum und die körperliche Schönheit beeinträchtigen, können wie die bereits genannten das Minderwertigkeitsgefühl vergrößern und so stärkere Kompensationstendenzen erzwingen. Häufig findet man Insuffizienz der Sinnesorgane, meist verbunden mit organischer Überempfindlichkeit oder Funktionsanomalien der Exkretionsorgane mit den Kinderfehlern der Enuresis oder mit unwillkürlichem Stuhlabgang. Von großer Bedeutung ist der Mangel einer exquisit männlichen Ausbildung, die es zuwege bringt, daß alle Mädchen sowie Knaben mit mädchenhaftem Aussehen, mit Dysplasien oder Hypoplasien der Genitalorgane an verstärkten Minderwertigkeitsgefühlen leiden. Zu den gleichen Konsequenzen geben Erziehungsfehler Anlaß, von denen ich einige in meiner Arbeit: ›Zur Erziehung der Erzieher‹ (Heilen und Bilden, l. c.) geschildert habe.

Von den mannigfachen Kunstgriffen und Konstruktionen des großenteils unbewußten Seelenlebens, die sich hier anschließen, sind besonders zwei leicht zu verstehen und zu studieren: Sicherungen und Ausschaltungen. An einem einfachen Fall von nervöser Angst will ich diesen Mechanismus aufzudecken versuchen.

Dieser Fall betrifft eine 32jährige Frau, die nach achtjähriger Ehe in die Hoffnung kam und nach schwieriger Geburt ein Kind zur Welt bringt. Schon zu Beginn der Schwangerschaft wurde die Patientin schlaflos und erkrankte an Angstzuständen. Dabei betonte sie immer, wie sehr sie sich nach einem Kinde sehne und wie peinlich ihr die gelegentlichen Hinweise und Bemerkungen ihrer Angehörigen wegen ihrer Kinderlosigkeit seien. Der erste Angstanfall trat ein, als ihr Mann, ein Reisender, sie wieder verlassen sollte. Seine Abreise war geradezu in Frage gestellt. Selbst des Nachts mußte er öfters seinen Schlaf unterbrechen, um seine Frau zu beruhigen, die zeitweise durch unbestimmte Angstgefühle getrieben nach ihm rief. Als Erklärung für diesen Zustand ergab sich, daß Patientin auf ihre körperliche Veränderung durch die Gravidität, die sie als vollkommene Verweiblichung, demgemäß als Minderwertigkeit empfand und wertete, mit der Konstruktion der Angst reagierte, die ihr ermöglichte, den Mann stärker als bisher in ihren Dienst zu stellen. Er mußte nunmehr seine Gewohnheiten einschränken, mußte auch seine Sexualwünsche fast ganz in das Belieben seiner Frau, d. h. zurückstellen, und durfte auch gewärtig sein, daß er auf seiner bevorstehenden Reise nicht mehr wie früher sexuelle Freiheit genießen werde.

Dieser letztere Umstand verdient eine genauere Betrachtung; er kann uns nämlich durch seine Aufhellung über das Maß und die Bedeutung der »Libido« dieser Patientin belehren. Sie hatte nach langjährigem Brautstand angeblich aus Liebe geheiratet und war auch keineswegs unaufgeklärt in die Ehe getreten, wehrte sich aber nichtsdestoweniger heftig gegen den Geschlechtsverkehr und erinnert sich, wochenlang an einem nervösen Zittern gelitten zu haben, ähnlich wie es sich bei ihren gegenwärtigen Zuständen zeigte. Auch Angstgefühle hatte sie in gleicher Weise wie jetzt.

Hier kann ich einen methodologischen Irrtum der Freudschen Schule berichtigen, der als eine falsche Grundanschauung in seinen Konsequenzen schwere Fehler zeitigen mußte. Meine Auflösung dieser Erscheinungen sowie der weiter zutage getretenen ergab, daß Patientin seit jeher mit ihrer weiblichen Rolle unzufrieden sich aller Wege und Umwege zu bedienen geneigt war, die ihr die Folgen dieser nie angenommenen Rolle ersparen konnten. Als sie nach achtjähriger Ehe gefühlsmäßig das Zutrauen gewann, sie werde wenigstens vor Schwangerschaft und Entbindung behütet bleiben, war es ihr möglich, einen weniger auffälligen Weg der Manngleichheit zu gehen: sie errang die faktische Herrschaft über ihren Mann, über die Schwester und über die im Hause lebende Mutter und wehrte sich auch mit gutem Erfolg gegen den Sexualverkehr, der ihr ihre weibliche Rolle stets vor Augen führte. Ja sie kam in der Entwertung der Sexualität so weit, daß sie es ohne Bedenken merkte, wenn ihr Mann auf seinen Reisen die Schranken der ehelichen Treue überschritt. Von Charakterzügen, die sie zum Zweck ihrer führenden Rolle, also im Sinne ihrer Manngleichheit ausbaute, waren insbesondere zu merken: Überhebung über ihre Angehörigen und Verwandten, herabsetzende Kritik gegen dieselben und Sparsamkeit, der sie es verdankte, daß ihr Ansehen in der ärmlichen Familie ständig wuchs, da die Patientin es zu einigem Vermögen brachte. Entsprechend unserer Auffassung vom »männlichen Protest« ist es verständlich, daß sie immer frigid geblieben ist. Als sie nun durch die Schwangerschaft gezwungen war, weiter in die weibliche Rolle einzurücken, brauchte sie stärkere Kompensationen und fand den Griff, ihrem Manne weitere Verpflichtungen aufzuerlegen. Dies konnte sie aber nur durchsetzen durch das Arrangement der Angst. Folglich hatte sie Angst! Nicht infolge unterdrückter Sexual — libido, sondern infolge der Eignung für ihr Ziel.

Der weitere Verlauf erwies die Richtigkeit dieses Befundes. Bis zur Geburt des Kindes verschwanden im Zusammenhang mit unseren Besprechungen die Angstanfälle. Als letzte Ursache ihrer zur Sicherung und zum männlichen Protest drängenden Minderwertigkeitsgefühle erwies sich kindliche körperliche Schwäche, die sich besonders im Verhältnis zu ihrer um fünf Jahre älteren Schwester, dem Liebling des Vaters, ungünstig fühlbar gemacht hatte. Ebenso schlecht wirkten starke materielle Einbußen der Familie in der Kindheit der Patientin, die es mit sich brachten, daß sie diese Verschlechterung mitempfand und mit fortdauerndem Neid auf ihre gutsituierten Verwandten blickte. Eine Minderwertigkeit des Harnapparates ließ sich durch den Kinderfehler der Enuresis erschließen. Wieweit Keimdrüsenanomalien im Spiele waren, wage ich nicht zu entscheiden, doch möchte ich im gegebenen Zusammenhang auf die späte Schwangerschaft, auf die übernormale Größe der Patientin sowie auf einen frühzeitig sichtbar gewordenen Schnurrbart hinweisen.

Als ihr Kind — es war eine schwere Geburt vorhergegangen — einige Wochen alt war, erschien die Patientin wieder mit Klagen über neuerliche Angst, über Mattigkeit und Depression. Um kurz zu sein, übergehe ich den Ablauf der Aufklärungen und komme zum Endergebnis der Analyse: Patientin handelte jetzt abermals im Sinne ihres männlichen Protestes, indem sie sich durch ihre gegenwärtigen Symptome gegen ein zweites Kind zu schützen suchte. Durch ihre Angst — ich habe nie einen Unterschied zwischen Angstneurose und Angsthysterie gefunden — bekam sie den Schlüssel zur Situation in die Hand, ihres Leidens wegen konnte ihr niemand eine erneute Schwangerschaft zumuten, ihre Müdigkeit zeigte ihr und ihrer Umgebung, daß schon ein einziges Kind und seine Pflege für diese Mutter zu viel war, und ihre Depression vollends setzte dem Manne eine Fleißaufgabe: jederzeit bedacht zu sein, daß er den Willen seiner Frau nicht verletze. Mit anderen Worten: da das Ziel, ein Mann zu sein, unverrückbar feststand, geschah im Rahmen der Möglichkeit alles, was sie diesem Ziele näher bringen konnte. Und dies um so kraftvoller, je größer die Distanz zur Manngleichheit anwuchs.

Die Freudsche Schule findet in allen Fällen von Neurosen und Psychosen als ausschlaggebendes Moment eine in mystisches Dunkel gehüllte angeborene sexuelle Konstitution. Es wäre ein leichtes, in diesem Fall eine solche hineinzukonstruieren: den männlichen sekundären Sexualcharakteren (Größe, Bart, späte Gravidität, schwieriger Partus) müßte eine männliche psychosexuelle Konstitution entsprechen. Mit einer kleinen Abänderung müßte man annehmen, um den Freudschen Gedankengängen näher zu kommen: die Patientin habe eine stärkere angeborene homosexuelle Komponente. Und aus dem Material der Analyse müßten nun alle Punkte derart gruppiert werden, daß die homosexuelle Verliebtheit in die Schwester aus dem Unbewußten zutage käme.

Dies wäre bis zu einem gewissen Grade möglich. Beide Schwestern liebten sich nach anfänglicher Gegnerschaft, zwar ohne jemals an das sexuelle Gebiet zu streifen; aber bei der Dehnbarkeit der Freudschen Terminologie, bei der Eignung des Begriffs der Sublimierung, alle Beziehungen des menschlichen Lebens auf ein sexuelles Bild zurückzuführen, könnte man der Diskussion zuliebe diesem Gedanken nähertreten. Ich zweifle auch nicht, daß man es beiden Schwestern — die eine hatte ich kurz vorher geheilt aus der Behandlung entlassen — hätte plausibel machen können: sie wären in dieser Art homosexuell ineinander verliebt. Leider zeigte sich bei beiden, daß sie in dieser Welt, wenn sie Objekte ihrer Herrschsucht finden wollten, aufeinander angewiesen waren. Und sie suchten einander lange Zeit durch Liebe und durch einseitig aus ihr abgeleitete Pflichten zu beherrschen, bis die ältere, die durch ihr Schicksal viel mehr eingeschränkt war, den Bann durchbrach und der Patientin den Gehorsam kündigte. Auf diese Änderung, die nicht ohne Zusammenhang mit der besprochenen Schwangerschaft war (Neid!), einer Senkung des Machtniveaus vergleichbar, schritt unsere Patientin zur Konstruktion von Angst. Zugleich konnte sie ja diese Angst, die sie aus der Krankheit der älteren Schwester als ein Mittel des Zwanges kennengelernt hätte, gegen den Gatten verwenden. Mit anderen Worten: die Angst mußte in dem Moment als stärkere Sicherung eintreten, als weder die Liebe noch Einschüchterungen imstande waren, die Unterordnung der Schwester zu erzwingen.

Setzen wir einmal den Fall, die Patientin wäre bis zur Ausübung der Homosexualität vorgedrungen. In dem geschilderten Zusammenhange wäre auch der sexuelle Impuls nur als Mittel der Macht verständlich. Wäre aber die Patientin dadurch gesund geworden? Keineswegs! Denn andere Patienten kommen gerade in diesem Stadium der Homosexualität zur Behandlung und zeigen neben diesem einen neurotischen Symptom der Inversion oder einer Perversion eine ganze Anzahl anderer Symptome.

Eine weitere hier noch mögliche Argumentation im Sinne Freuds, die Patientin sei an der Verdrängung der Homosexualität erkrankt, könne aber auch durch Freimachung derselben nicht gesund werden, weil sie sie nicht verträgt, ist durch und durch gekünstelt, fällt übrigens von selbst aus der Rechnung, sobald wir auf die falsche Prämisse seiner Lehre zu sprechen kommen werden.

Betrachten wir den zweiten Grundpfeiler der Freudschen Neurosenätiologie, den sog. »Kernkomplex der Neurose«, den Inzestkomplex.

Der Vater der beiden Mädchen stand intellektuell und an Bedeutung weit über der Mutter, die an anfallsweiser Dipsomanie litt und dabei ungeheure Quantitäten Alkohol zu sich nahm. Das Familienleben war das denkbar schlechteste, und die nervöse Familientradition, bei der jeder den andern zu beherrschen suchte, stand in Blüte. Kein Wunder, daß sich beide Mädchen zu dem Vater hingezogen fühlten, der die ältere verhätschelte. Kein Wunder auch, daß beide Mädchen — und dies bildete den Kern ihrer späteren Erkrankung — der Rolle einer Frau, einer Mutter wenig Neigung entgegenbrachten und lieber, soweit es ging, ihre leitende unbewußte Fiktion zu erfüllen suchten und sich in einen Mann zu verwandeln trachteten. Besser gelang dies der älteren, deren Kankheitsbild ich ausführlich geschildert habe. Unsere Patientin dagegen, die von Natur aus schwächlich, noch mit einer um fünf Jahre älteren Schwester um die Herrschaft ringen sollte, waren nur die stärkeren Umwege zum Ziel der Manngleichheit, durch weitgehende Versuche, die weibliche Rolle auszuschalten, offen geblieben. Also beschritt sie diese und wahrte ihren Vorteil durch List, scheinbare Nachgiebigkeit, Anlehnung mit folgender Fesselung ihrer Umgebung, durch ihr Streben nach Wohlstand mittels übertriebenen Geizes, verriet aber Schwachen gegenüber, im Kampfe mit der gealterten Mutter oder mit Dienstmädchen ihre herrschsüchtige Art ganz unverhüllt. Sie war auch liebenswürdig und freundlich gegen ihren Mann, bis sie seiner ganz sicher war; dann aber verdarb sie ihm gerne das Spiel und verbitterte ihm das Leben durch Nörgelei und zänkisches Wesen.

Und nun nehmen wir einmal an: diese Patientin hätte ein normales Sexualleben geführt. Hätte ihre Erkrankung jemals bei ihr eintreten können? Diese Frage ist ganz belanglos! Denn wie hätte sie denn ohne rechte Fähigkeit zur Kooperation ein solches führen können? Sie war ja schon lange vorher neurotisch, war in die Sicherungstendenz verstrickt und wollte die symbolische Verwandlung in einen Mann durchsetzen! So mußte das Symptom der abnormalen Psychosexualität zutage treten, die in gleicher Weise aufzufassen ist wie ihre ganze neurotische Leit- und Lebenslinie: tieferliegend! als ein Teil ihres neurotischen Systems, keine natura naturans, sondern naturata, nicht am Beginn, sondern am Wege gelegen zu ihrem fiktiven fünften Akt, zu ihrem unbewußt geschaffenen Finale, in welchem ihr männliches Persönlichkeitsideal zur Erfüllung kommen sollte.

 

• Zusammenfassung 

 

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1) Die Analogie mit der späteren »Gestaltpsychologie«, wohl der einzigen Richtung, die der Ganzheitsbetrachtung der Individualpsychologie nahekommt, dürfte allgemein bekannt sein.

2) Unbesonnene Kritiker, denen die Individualpsychologie eine ewig verschlossene Wissenschaft zu sein scheint, folgern im eigenen Unverstand, daß das »Minderwertigkeitsgefühl« die Kenntnis des Vollwertigkeitsgefühls voraussetze. In Wirklichkeit entstammt das Minderwertigkeitsgefühl einem positiven Erleben und Erleiden.

3) Siehe Osw. Schwarz, ›Sexualpsychologie‹. In: Internat. Zeitschr. f. Individualpsych., II. Jahrg., 3. Heft. Wien 1924.


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