Psychischer Hermaphroditismus und männlicher Protest — ein Kernproblem der nervösen Erkrankungen


(1912)

 

Es war ein gewaltiger Schritt vorwärts, als sich in der Lehre von den nervösen Erkrankungen die einheitliche Anschauung Bahn brach, die nervösen Störungen seien durch seelische Alterationen hervorgerufen und müßten durch Einwirkungen auf die Psyche behandelt werden. Eine endgültige Entscheidung brachte das Eingreifen berufener Forscher, wie Charcot, Janet, Dubais, Dejerine, Breuer, Freud u. a. Dazu kamen von Frankreich die Erfahrungen des hypnotischen Experimentes und der hypnotischen Behandlung, welche die Wandelbarkeit nervöser Symptome und ihre Beeinflußbarkeit auf den Wegen der Psyche erwiesen. Die Heilerfolge blieben trotz dieses Fortschrittes unsicher, so daß auch namhafte Autoren, unbeeinflußt durch ihre theoretischen Erwägungen, Neurasthenie, Hysterie, Zwangs- und Angstneurosen mit den althergebrachten Arzneien, mittels Elektrizität und Hydrotherapie zu heilen versuchten. Die ganze Frucht der erweiterten Kennmisse war auf Jahre hinaus eine Anhäufung von Schlagworten, die den Sinn und das Wesen der komplizierten neurotischen Mechanismen erschöpfen und erschließen sollten. Für die einen lag der Schlüssel zum Verständnis in der »reizbaren Schwäche«, »sinkenden Spannung«, für die anderen in der »Suggestibilität«. »Erschütterbarkeit«, »hereditären Belastung«. »Degeneration«, »krankhafte Reaktion«, »Labilität des psychischen Gleichgewichts« und andere ähnliche Begriffe sollten das Geheimnis der nervösen Erkrankungen ausmachen. Zugunsten des Patienten ergab sich daraus im wesentlichen bloß eine etwas dürre Suggestivtherapie, meist fruchtlose Versuche, die Krankheit »auszureden«, »eingeklemmte Affekte abzureagieren«, und der nicht weniger fruchtlose Versuch, psychische Schädigungen dauernd fernzuhalten. Immerhin entwickelte sich dieses therapeutische Verfahren zu einem öfters nützlichen »traitement moral«, wenn der Patient unter der Leitung weltkundiger, mit Intuition begabter Ärzte stand. Aber unter den Laien wurde ein Vorurteil wach, genährt durch voreilige Schlüsse aus der Beobachtung der rasch sich vermehrenden Unfallneurosen, als ob der Nervöse an »Einbildungen« leide und sich willkürlicher Übertreibungen schuldig mache, und als ob es ihm möglich wäre, durch Kräftigung seiner Energie seine Krankheitserscheinungen zu überwinden.

Josef Breuer kam auf den Gedanken, dem Patienten Sinn und Entwicklung seines Krankheitssymptoms, etwa einer hysterischen Lähmung, abzufragen. Er, und mit ihm S. Freud, taten dies anfangs ohne jedwedes Vorurteil und bestätigten dabei die auffällige Tatsache von Erinnerungslücken, die dem Patienten sowohl als dem Arzt die Einsicht in die Ursache und den Verlauf der Erkrankung verwehrten. Die Versuche, aus der Kenntnis der Psyche, der krankhaften Charakterzüge, der Phantasien und des Traumlebens der Patienten auf das vergessene Material zu schließen, hatten Erfolg und führten zur Begründung der psychoanalytischen Methode und Anschauungs­weise. Dank dieser Methode gelang es Freud, die Wurzeln der nervösen Erkrankung bis in die früheste Kindheit zurückzuverfolgen und eine Anzahl ständiger psychischer Mechanismen aufzudecken, wie die der Verdrängung und der Verschiebung. Bei der Behandlung wurden regelmäßig früher unbewußte Regungen und Wünsche des Patienten erschlossen, in gleicher Weise bei den verschiedenartigsten nervösen Formen, von verschiedenen Autoren, die sich der psychoanalytischen Methode bedienten und oft unabhängig voneinander arbeiteten. Freud selbst hat die Ursachen der nervösen Erkrankungen in den Verwandlungen des Sexualtriebes und in einer besonderen Konstitution des Sexualtriebs gesucht, eine Theorie, die viel angefeindet wurde, aber nicht untrennbar mit der psychologischen Methode verbunden ist. —

Als Grundsatz für die Ausübung der individual-psychologischen Methode möchte ich geltend machen die Zurückführung aller bei einem einzelnen bestehenden nervösen Symptome auf ein »größtes gemeinschaftliches Maß«. Die Richtigkeit der so gemeinschaftlich mit dem Patienten durchgeführten Reduktion wird dadurch festgestellt, daß das in jedem Falle gewonnene psychische Bild mit einer wirklichen psychischen Situation aus der frühesten Kindheit des Patienten übereinstimmt. D. h. die psychische Grundlage, die Schablone der nervösen Erkrankung und des Symptoms ist aus der Kindheit unverändert übernommen, über dieser Grundlage aber hat sich im Laufe der Jahre ein vielverzweigter Überbau erhoben, die individuelle Neurose, die der Behandlung unzugänglich ist, sofern man nicht die Grundlage ändert. In diesen Überbau sind auch alle Entwicklungstendenzen, Charakterzüge und persönlichen Erlebnisse eingegangen, unter denen besonders hervorzu­heben sind: Stimmungsreste eines einmaligen oder wiederholten Mißerfolges auf einer Hauptlinie menschlichen Strebens — der unmittelbare Anlaß zum Ausbruch der nervösen Erkrankung. Nunmehr geht das Sinnen und Trachten des Patienten dahin, den Mißerfolg wett zu machen, anderen, meist untauglichen Triumphen gierig nachzujagen, vor allem aber, sich vor neuen Mißerfolgen und Schicksalsprüfungen zu sichern. Und dies ermöglicht ihm seine ausgebrochene Neurose, die ihm so zur Stütze wird. Die nervöse Angst, Schmerzen, Lähmungen und der nervöse Zweifel hindern ihn am aktiven Eingreifen ins Leben, der nervöse Zwang leiht ihm — im Zwangsdenken und Zwangshandeln — den Schein der verlorengegangenen Aktivität auf der unnützlichen Seite des Lebens, gibt ihm andererseits den Vorwand zur Passivität auf Grund der Krankheitslegitimation. —

Ich selbst sah mich gezwungen, bei Ausübung der individual­psychologischen Methode die krankmachende kindliche Situation weiter aufzulösen, und stieß dabei auf Quellen, die sich aus nachteiligen Einflüssen des Organismus und des Familienlebens herschrieben. Darüber hinaus aber kamen Ursachen zutage, die zum Teil dieses schädliche Milieu formen halfen — die familiäre organische Konstitution. Ich wurde regelmäßig und unerbittlich auf den Umstand hingewiesen, daß der Besitz hereditär minderwertiger Organe, Organsysteme und Drüsen mit innerer Sekretion für das Kind in den Anfängen seiner Entwicklung eine Position schaffe, in der das sonst normale Gefühl der Schwäche und Unselbständigkeit ganz ungeheuer vertieft wird und sich zu einem tief empfundenen Gefühl der Minderwertigkeit auswächst.1) Aus der verlangsamten oder fehlerhaften inadäquaten Einrichtung der minderwertigen Organe ergeben sich nämlich anfangs Zustände von Schwäche, Kränklichkeit, Plumpheit, Häßlichkeit (oft infolge von äußeren Degenerationszeichen), Ungeschicklichkeit und eine große Anzahl von Kinderfehlern wie Augenblinzeln, Schielen, Linkshändigkeit, Hörstummheit, Stottern, Sprachfehler, Erbrechen, Bettnässen und Stuhlanomalien, derentwegen das Kind recht häufig Zurücksetzungen erfährt oder dem allgemeinen Spotte und der Strafe verfällt und gesellschaftsunfähig wird. Das psychische Bild dieser Kinder weist bald auffallende Verstärkungen sonst normaler Züge von kindlicher Unselbständigkeit, von Anlehnungs- und Zärtlichkeitsbedürfnis auf und artet aus in Ängstlichkeit, Furcht vor dem Alleinsein, Schüchternheit, Scheu, Furcht vor allem Fremden und Unbekannten, in übergroße Schmerzempfindlichkeit, Prüderie und dauernde Furcht vor Strafe und vor Folgen jedes Handelns — Charakterzüge, die insbesondere den Knaben einen scheinbar weiblichen Einschlag geben.

Bald aber sieht man bei diesen zur Nervosität disponierten Kindern das Gefühl der Zurückgesetztheit auffallend im Vordergrunde. Und damit im Zusammenhange stellt sich eine Überempfindlichkeit ein, welche ein ruhiges Gleichmaß der Psyche ununterbrochen stört. Solche Kinder wollen alles besitzen, alles essen, alles hören, alles sehen, alles wissen. Sie wollen alle anderen übertreffen und alles allein vollbringen. Ihre Phantasie spielt mit allerlei Größenideen: sie wollen die anderen retten, sehen sich als Helden, glauben an eine fürstliche Abkunft, halten sich für verfolgt, bedrängt, für Aschenbrödel. Der Grund zu einem brennenden, unersättlichen Ehrgeiz ist gelegt, dessen Scheitern man mit Sicherheit voraussagen kann. Nun erwachen auch und verstärken sich böse Instinkte. Geiz und Neid wachsen ins Unermeßliche, weil das Kind nicht imstande ist, auf die Befriedigung seiner Wünsche zu warten. Gierig und hastig jagt es jedem Triumph nach, wird unerziehbar, iähzornig, gewalttätig gegen die Kleineren, lügenhaft den Großen gegenüber und belauert alle mit zähem Mißtrauen. Es ist klar, wieviel ein guter Erzieher bei solcher keimenden Selbstsucht bessern, ein schlechter verschlimmern kann. Im günstigsten Falle entwickelt sich ein unstillbarer Wissensdurst oder das Treibhausgewächs eines Wunderkindes, ungünstigen Falles erwachen verbrecherische Neigungen oder das Bild eines abgekämpften Menschen, der seinen Rückzug vor den Forderungen des Lebens durch die arrangierte Neurose zu verschleiern sucht.

Als Ergebnis solcher direkter Beobachtungen aus dem Kinderleben ist also anzuführen, daß die kindlichen Züge von Unterwürfigkeit, Unselbständigkeit und Gehorsam, kurz der Passivität des Kindes sehr bald — und zumal bei neurotischer Disposition sehr schroff — durch heimliche Züge von Trotz und Auflehnung, Zeichen des Ressentiments, ergänzt werden. Ein genauer Einblick ergibt ein Gemisch von passiven und aktiven Zügen, aber stets waltet die Tendenz vor, vom mädchenhaften Gehorsam zum knabenhaften Trotz durchzubrechen. Ja man gewinnt genug Anhaltspunkte für die Einsicht, daß die Züge des Trotzes als Reaktion, als Protest gegen die gleichzeitigen Regungen des Gehorsams oder gegen die erzwungene Unterwerfung zu gelten haben, und daß sie den Zweck haben, dem Kinde raschere Triebbefriedigung, Geltung, Aufmerksamkeit, Privilegien zu verschaffen. Ist dieser fatale Entwicklungsstandpunkt erreicht, so fühlt sich das Kind allenthalben vom Zwang zur Unterwerfung bedroht und obstruiert in allen Verrichtungen des täglichen Lebens, im Essen, Trinken, Einschlafen, in den Stuhl- und Harnfunktionen, sowie bei der Körperreinigung. Die Forderungen des Gemeinschaftsgefühls werden gedrosselt. Das Streben nach Macht entfaltet sich zumeist in einer öden, dürftigen Spiegelfechterei und Plusmacherei.

Ein anderer, vielleicht der gefährlichste Typus von nervös disponierten Kindern zeigt diese kontrastierenden Anlagen von Unterwerfung und aktivem Protest in einem engeren Zusammenhang, wie im Verhältnis von Mittel zum Zweck. Sie haben scheinbar ein Weniges aus der Dialektik des Lebens erraten und wollen durch die grenzenloseste Unterwerfung (Masochismus) ihre maßlosen Wünsche befriedigen. Gerade sie vertragen Herabsetzung, Mißerfolg, Zwang und Warten, vor allem das Ausbleiben des Sieges am allerschlechtesten und schrecken wie die anderen Disponierten vor Handlungen, Entscheidungen, vor allem Fremden, Neuen zurück. Sie stellen meist das Bewußtsein einer fatalistischen Schwäche durch ein selbstgeschaffenes Krankheitsalibi fest — um dann vor den Forderungen der Gemeinschaft Halt zu machen und sich zu isolieren. —

Dieses scheinbare Doppelleben, eigentlich ein verkapptes, einheitliches Halt! oder zurück!, das bei normalen Kindern innerhalb mäßiger Grenzen bleibt und auch den Charakter des Erwachsenen formt, läßt beim Nervösen die einheitliche Verfolgung eines nützlichen Zieles nicht zu und hemmt seine Entschließungen durch die Konstruktion von Angst und Zweifel.2)

Andere Typen retten sich aus Angst und Zweifel in den Zwang und jagen unablässig nach Erfolgen, wittern überall Angriffe, Beeinträchtigungen und Ungerechtigkeiten und suchen krampfhaft eine Retter- und Heldenrolle zu spielen, nicht selten, indem sie ihre Kräfte an ungeeignete Objekte wenden (Don Quixoterie). Unersättlich und lüstern nach dem Schein der Macht begehren sie Liebesbeweise, ohne sich befriedigt zu fühlen (Don Juan, Messalina). Stets bleibt die Harmonie ihres Strebens aus, denn die doppelte Artung ihres Wesens, das scheinbare Doppelleben der Nervösen (»double vie«, »Dissoziation«, »Bewußtseinsspaltung« der Autoren) ist durch einen weiblich und männlich empfundenen Anteil der Psyche fest gegründet, die nach einer Einheit zu streben scheinen, ihre Synthese aber planvoll verfehlen, um die Persönlichkeit vor dem Anprall an die Wirklichkeit zu retten. An diesem Punkte hat die Individualpsychologie belehrend einzugreifen und durch vertiefte Introspektion und Bewußtseinserweiterung die Herrschaft des Intellekts über divergierende, bisher unverstandene, nicht unbewußte Regungen zu sichern.

Was als eine tiefwurzelnde Empfindung den Volksgeist durchzieht, was seit jeher das Interesse von Dichtern und Denkern geweckt, die gewaltsame, aber mit unserem sozialen Leben noch übereinstimmende Wertung und Symbolisierung von Erscheinungsformen durch »Männlich« und »Weiblich«,3) drängt sich auch frühzeitig dem kindlichen Geiste auf. So stellt sich dem Kinde, im einzelnen zuweilen verschieden, als männlich dar: Kraft, Größe, Reichtum, Wissen, Sieg, Roheit, Grausamkeit, Gewalttätigkeit, Aktivität, das Gegenteil aber als weiblich.

Das normale Anlehnungsbedürfnis des Kindes, die übertriebene Unterwürfigkeit des zur Nervosität Disponierten, das Schwächegefühl und das durch Überempfindlichkeit geschützte Minderwertigkeitsgefühl, die Wahrnehmung seiner natürlichen Unzulänglichkeit und sein Gefühl der dauernden Zurückgesetztheit und Benachteiligung fließen alle zusammen in die Empfindung der Weiblichkeit, während sein aktives Streben, bei Mädchen gleicherweise wie bei Knaben, sein Jagen nach Befriedigung, die Aufpeitschung seiner Triebe und Begierden als sein männlicher Protest in die Waagschale geworfen sind. So entwickelt sich, auf der Grundlage einer falschen Wertung, die aber aus unserem gesellschaftlichen Leben reichlich genährt wird, ein psychischer Hermaphroditismus des Kindes, der sich »dialektisch«, durch seine innere Gegensätzlichkeit stützt und aus sich heraus eine Dynamik entwickelt, den unverstandenen Zwang zum verstärkten männlichen Protest als einer Lösung der Disharmonie.

Die unvermeidliche Bekanntschaft mit dem Sexualproblem steigert in erster Linie den männlichen Protest, speist den disharmonischen Komplex mit Sexualphantasien und Sexualregungen, gestaltet sexuelle Frühreife aus und kann durch Furcht vor »weibischer« Liebeshörigkeit zu allen Perversionen Anlaß geben. Insbesondere aber wird der psychische Hermaphroditismus des Kindes vertieft, damit auch die innere psychische Spannung vermehrt, wenn die Geschlechtsrolle dem Kinde unklar bleibt oder im unklaren gehalten wird.4) Dann wird die natürliche Unsicherheit, das Schwanken, der Zweifel fixiert, und an beiden Polen des Hermaphroditen werden Verstärkungen aufgetragen. Die Schwierigkeit, der wachsenden Bewußtseinsspaltung Herr zu werden, vergrößert sich ungemein und gelingt nur durch den Kunstgriff der nervösen Symptome, durch seelischen Rückzug und Isolierung. — Die Energie und Willensanstrengung von Arzt, Patient und Erzieher scheitert an diesem Problem. Dann gelingt es nur noch der individualpsychologischen Methode, Licht in diese Vorgänge des Unbewußten hineinzubringen und die Korrektur einer falschen Entwicklung vorzunehmen. — Vieles von dem hier Gesagten wurde später als »Kastrationskomplex« vorgetragen.

 

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1) Siehe Adler, Studie über die Minderwertigkeit von Organen. München 1927 — und als Fortsetzung: Adler, ›Über neurotische Disposition‹, In: Heilen und Bilden, l. c.

2) In der sozialen Rolle des Individuums, aus der man niemals den einzelnen isolieren kann, heißt der Zweifel immer: Nein!

3) Man denke nur an Sprichwörter wie: »ein Mann, ein Wort«, an Gesinnungen von Dichtern (Schillers »Männerschwäche« — »Schwachheit, dein Name ist Weib!«), an hervorragende Autoren wie Moebius, Fließ, Weininger usw.

4) Adler ›Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose‹. In: Heilen und Bilden, l. c. und Adler, Das Problem der Homosexualität.


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