Über männliche Einstellung bei weiblichen Neurotikern


(1911)

 

Die Herrschsucht fängt von der Furcht an, von andern beherrscht zu werden und ist darauf bedacht, sich beizeiten in den Vorteil der Gewalt über sie zu setzen.

Wenn der verfeinerte Luxus hoch gestiegen ist, so zeigt sich die Frau nur aus Irrung sittsam und hat kein Hehl zu wünschen, daß sie lieber Mann sein möchte: wo sie ihren Neigungen einen größeren und feineren Spielraum geben könnte; kein Mann aber wird ein Weib sein wollen.

Kant, Anthropologie

 

 

Nach den Erfahrungen der Individualpsychologie ist es ausgeschlossen, daß ein Mensch das Gefühl einer realen oder scheinbaren Minderwertigkeit glatt verträgt. Wo immer wir den Bestand von Minderwertigkeitsgefühlen feststellen können, finden wir auch Gefühle des Protestes und umgekehrt. Ja der Wille selbst, sofern er Handlungen vorausgeht — andernfalls ist er nur Scheinwille — geht immer in der Richtung von »unten« nach »oben«, was freilich zuweilen nur aus einer Zusammenhangsbetrachtung klar wird.

Ich habe in einer Reihe von Arbeiten über den Mechanismus der Neurose unter anderen einen einheitlichen Befund beschrieben, der als Hauptmotor der neurotischen Erkrankung anzusehen ist: der männliche Protest gegen weibliche oder weiblich scheinende Regungen und Empfindungen. Der Ausgangspunkt der neurotischen Disposition ist eine kindliche pathogene Situation, in der sich die einfachste Gestaltung dieses Kräftespiels kundtut: einerseits die Unsicherheit der zukünftigen Geschlechtsrolle, andererseits verstärkte Tendenzen, mit den verfügbaren Mitteln eine männliche (herrschende, aktive, heldenhafte) Rolle zu spielen.

Abgesehen von der Sicherheit, mit der sich ganz allgemein diese Abkehr von seinen »weiblichen« Linien und die Verstärkung der »männlichen« beim Neurotiker in Handlungen, Wünschen und Träumen nachweisen läßt, ist es auch sonst nicht verwunderlich, daß die Phase der Geschlechtsfindung beim Kinde unter starken Erregungen verläuft. Viele Patienten berichten von sonderbaren Unklarheiten bis in die späteren Kinderjahre. Andere tragen so deutliche Charakterzüge des übertriebenen männlichen Protests zeitlebens an sich, daß ihre Einfügung in das gesellschaftliche Niveau, sei es im Beruf, in der Familie, in der Liebe und Ehe daran scheitert. Alle aber, und bei den weiblichen Neurotikern fällt dieses Zeugnis nur deutlicher in die Augen, erklären mit Bestimmtheit, sie hätten sich immer danach gesehnt und diesem Wunsche in verschiedener Weise Ausdruck verliehen: ein voller Mann zu sein. Nach meinen Befunden halte ich die Behauptung für vollauf begründet, daß, was sich in diesen Bemerkungen unserer Neurotiker ziemlich kraftlos ins Bewußtsein drängt, mit dem größten Anteil seiner Kraft unverstanden die neurotischen Symptome, die Handlungen und Träume des Neurotikers erzwingt. Ich will im folgenden einige Bruchstücke aus gegenwärtigen und früheren Analysen vorlegen, die uns gestatten, wie von einer Warte aus die männliche Einstellung weiblicher Neurotiker zu überblicken.

 

•  I. Fall. — Tendenz, durch Klugheit, List und Courage den Mangel der Männlichkeit zu ersetzen  

•  II. Fall. — Erziehung durch eine neurotische Mutter. Furcht vor dem Gebären als Ursache von Erziehungsfehlern  

• III. Versuch der »Umkehrung« als männlicher Protest (1) 

• III. Versuch der »Umkehrung« als männlicher Protest (2) 

• V. Ausgangspunkt zur »Umkehrung« im Traum einer Manisch-Depressiven  

 


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