Ätiologie



a) Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation


Das umfangreiche Gebiet der Psychotherapie in gedrängter Form zu behandeln, wo noch so viel prinzipieller Streit ihre Wertschätzung bedroht, erscheint mir als kein geringes Wagnis. Und ich möchte es nicht unterlassen, auf die Grundlagen meiner Anschauungen zu verweisen, auf das Material meiner Erfahrungen, die seit dem Jahre 1907 der Öffentlichkeit zur Prüfung vorliegen. Im Jahre 1907 habe ich in einer Studie über Minderwertigkeit von Organen den Nachweis erbracht, daß die angeborenen Konstitutions­anomalien nicht nur als Erscheinungen der Degeneration aufzufassen seien, sondern daß sie auch oft den Anlaß geben zu kompensatorischen Leistungen und Überleistungen sowie zu bedeutungsvollen Erscheinungen der Korrelation, zu denen die verstärkte psychische Leistung wesentlich beiträgt. Diese kompensatorische, seelische Anstrengung geht oft, um die Anspannungen im Leben bewältigen zu können, auf anderen, neuen Wegen, zeigt sich für den Betrachter ausgiebig geschult und erfüllt so den Zweck, ein gefühltes Defizit zu decken, in der wundervollsten Weise. Die weitverbreitetste Form, in der sich das in der Kindheit einbrechende Gefühl der Minderwertigkeit einer Entlarvung zu entziehen sucht, besteht in der Aufführung eines kompensatorischen seelischen Überbaus, der mit fertigen trainierten Bereitschaften und Sicherungen den Halt, die Überlegenheit im Leben wieder zu gewinnen sucht, im Gemeinschaftsgefühl oder im nervösen modus vivendi. Was jetzt von der Norm etwa abweicht, erklärt sich aus dem größeren Ehrgeiz und aus der stärkeren Vorsicht; alle die Kunstgriffe aber und Arrangements, nervöse Charakterzüge sowie die nervösen Symptome beziehen ihre Geltung aus Vorversuchen, Erlebnissen, Spannungen, Einfühlungen und Imitationen, wie sie dem Leben des gesunden Menschen nicht ganz fremd sind, und sie führen eine Sprache, die, richtig verstanden, immer erkennen läßt, daß hier ein Mensch um seine Geltung ringt, sie zu erzwingen versucht, der aus der Sphäre der Unsicherheit und des Minderwertigkeitsgefühls unaufhörlich nach einer gottähnlichen Herrschaft über seine Umgebung zu gelangen trachtet, oder der einer Lösung seiner Lebensaufgaben zu entrinnen trachtet.

Läßt man diese Wurzel des neurotischen Gebarens beiseite, so findet man dieses zusammengesetzt aus einer bunten Fülle von Erregungen und Erregbarkeiten, die nicht die Krankheit der Neurose verursachen, sondern eine Folge derselben darstellen. In einer kurzen Abhandlung: ›Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose‹ (Heilen und Bilden, l. c.) versuchte ich, diese oft gesteigerte »Affektivität« darzustellen und zu zeigen, wie sie, damit ein Zweck erreicht oder eine Gefahr umgangen werde, oft in eine scheinbare Aggressionshemmung umschlägt. Was man »Disposition zur Neurose« zu nennen pflegt (Neurotische Disposition, ibidem) ist bereits Neurose, und nur bei aktuellen Anlässen, wenn innere Not zu verstärkten Kunstgriffen treibt, kommen die geeigneteren neurotischen Symptome mit größerer Deutlichkeit und als Krankheitsbeweis zum Vorschein. Sie können untertauchen, solange der Patient sich in einer angenehmen Situation befindet, solange er nicht nach der richtigen Entwicklung, nach seinem Gemeinschaftsgefühl gefragt wird. Insbesondere sind dieser Krankheitsbeweis und alle zugehörigen Arrangements nötig, um 1. als Vorwände zu dienen, wenn das Leben die ersehnten Triumphe verweigert, 2. damit alle Entscheidungen hinausgeschoben werden können, 3. um etwaige erreichte Ziele in stärkerem Lichte erglänzen zu lassen, da sie trotz des Leidens erreicht wurden. Diese und andere Kunstgriffe zeigen mit Klarheit das Streben des Nervösen nach dem Schein der Überlegenheit, nicht nach dem Sein.

Es ergibt sich in jedem Falle mit Leichtigkeit, daß der Nervöse, um sein von einem fiktiven Ziel aus gelenktes Handeln zu sichern, für ihn typische Richtungslinien innehält, die er prinzipiell, geradezu wörtlich, verfolgt. Die nervöse Persönlichkeit bekommt auf diese Weise durch bestimmte Charakterzüge und passende, erprobte Affektbereitschaften, durch den einheitlichen Ausbau der Symptome und durch die neurotische Perspektive auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihre feste Form. Der Zwang zur Sicherung der Überlegenheit wirkt dermaßen stark, daß jedes seelische Phänomen bei vergleichender psychologischer Analyse neben der Oberfläche seiner Erscheinung noch den weiteren Zug in sich trägt: von einem Gefühl der Schwäche loszukommen, um die Höhe zu erreichen, sich von »unten« nach »oben« zu erheben, durch Anwendung oft schwer verfolgbarer Kunstgriffe allen überlegen zu werden.1) Um im Vorbauen, Denken und Erfassen der Welt pedantische Ordnung und damit Sicherungen zu schaffen, greift der Nervöse zu allerlei Regeln und Hilfsformeln, deren wichtigste dem primitiven antithetischen Schema entspricht. So läßt er nur Empfindungswerte gelten, die einem Oben und Unten entsprechen, und sucht diese — soweit ich mich überzeugen konnte — regelmäßig auch auf einen ihm real erscheinenden Gegensatz von »Männlich — Weiblich« zu beziehen. Durch diese Verfälschung bewußter und unbewußter Urteile ist, wie durch einen seelischen Akkumulator, der Anlaß zu Affektstörungen gegeben, die wieder jedesmal zur persönlichen Lebenslinie des Patienten passen. Den als »weiblich« empfundenen Zügen in seiner Seele — jedes passive Verhalten, Gehorsam, Weichheit, Feigheit, Erinnerungen an Niederlagen, Unkenntnis, Unvermögen, Zärtlichkeit — versucht er eine übertriebene Richtung ins »Männliche« zu geben, und er entwickelt Haß, Trotz, Grausamkeit, Egoismus und sucht Triumphe in jeder menschlichen Beziehung. Oder seine Schwächlichkeit wird von ihm auffallend unterstrichen, was dann immer andere Personen mit der Aufgabe belastet, sich in seinen Dienst zu stellen, regelmäßig auch die Vorsicht und das Voraussehen des Patienten unermeßlich steigert und zu planvollen Ausweichungen vor drohenden Entscheidungen führt. Wo der Patient den Beweis »männlicher Vorzüge« im Leben erbringen zu müssen glaubt, in Kämpfen jeder Art, im Beruf, in der Liebe, wo er, was auch für das männliche Geschlecht gilt, eine »Verweiblichung« durch ein Unterliegen befürchtet, wird er von weitem schon im Bogen um das Problem herumzukommen suchen. Man wird dann immer eine Lebenslinie finden, die vom geraden Wege abweicht, und, in der ewigen Furcht vor Fehlern und Niederlagen, sichere Umwege einzuschlagen sucht. Damit ist immer auch eine Verfälschung der Geschlechtsrolle gegeben, so daß der Nervöse einen Zug zum »psychischen Hermaphroditismus« aufzuweisen scheint, ihn auch meist zu haben glaubt. Von dieser Seite gesehen könnte die Neurose leicht einer sexuellen Ätiologie verdächtig erscheinen. In Wahrheit aber spielt sich auf dem Gebiete der Sexualität der gleiche Kampf ab wie im ganzen Seelenleben: Das ursprüngliche Minderwertigkeitsgefühl drängt auf Umwege (im Sexuellen auf den Weg der Masturbation, der Homosexualität, des Fetischismus, der Algolagnie, der Überschätzung der Sexualität usw.), sucht jede erotische Erprobung auszuschalten, um seine Orientierung nach einem Ziel der Überlegenheit nicht zu verlieren. Als abstraktes und zugleich konkretisiertes Ziel des Nervösen dient dann die schematische Formel: »ich will ein voller Mann sein!«, ein kompensierender Ausgang für das zugrunde liegende Gefühl einer als weiblich gesetzten Minderwertigkeit. Das Schema, nach dem hier apperzipiert und vorgegangen wird, ist als durchaus antithetisch und in planmäßiger, kindlicher Fälschung als in sich feindlich gefaßt, und wir können als unbewußte Voraussetzungen der nervösen Zielstrebigkeit regelmäßig folgende zwei erkennen: 1. die menschliche Beziehung ist unter allen Umständen ein Kampf um die Überlegenheit, 2. das weibliche Geschlecht ist minderwertig und dient in seinen Reaktionen als Maß der männlichen Kraft.

Diese beiden unbewußten Voraussetzungen, die sich in gleicher Weise bei männlichen und weiblichen Patienten entschleiern lassen, machen es aus, daß alle menschlichen Beziehungen entstellt und vergiftet werden, daß überraschende Affektverstärkungen und Affektstörungen zutage treten und daß an Stelle einer wünschenswerten Unbefangenheit eine dauernde Unzufriedenheit tritt, die bloß gelegentlich, meist nach Verstärkung der Symptome und nach geglückter Darstellung eines Krankheitsbeweises, gemildert erscheint. Das Symptom ersetzt sozusagen die nervöse, aufgepeitschte Gier nach Überlegenheit und den dazugehörigen Affekt und führt im Gefühlsleben des Patienten auch sicherer zu einem Scheinsieg über die Umgebung als etwa ein geradliniger Kampf, ein Charakterzug und ein Widerstehen. Diese Symptomsprache zu verstehen ist für mich die Hauptvoraussetzung der psychotherapeutischen Kur geworden.

Da die Neurose den Zweck hat, das Endziel der Überlegenheit erreichen zu helfen, wo doch im Gefühl der Minderwertigkeit eine direkte Aggression ausgeschlossen erscheint, sehen wir immer Umwege bevorzugt, die einen wenig aktiven, zuweilen masochistischen, immer selbstquälerischen Charakter tragen. Meist finden wir ein Gemisch von seelischen Regungen und Krankheitssymptomen gleichzeitig in einer Krankheitsperiode auftauchend oder einander ablösend, die aus dem Zusammenhang des Krankheits­mechanismus herausgerissen, manchmal wie gegensätzlich erscheinen oder an eine Spaltung der Persönlichkeit denken lassen. Der Zusammenhang ergibt, daß der Patient sich auch zweier in sich gegensätzlicher Linien bedienen kann, um in seine ideale Situation fiktiver Überlegenheit zu kommen, wie er ja auch zu dem gleichen Zwecke richtig und falsch argumentiert oder in voller Abhängigkeit von seinem Ziele, diesem entsprechend, wertet und empfindet. Man wird den Nervösen unter allen Umständen bei solchen Anschauungen, Empfindungen, Erinnerungen, Affekten, Charakterzügen und Symptomen antreffen und erwarten müssen, die kraft der bei ihm erkannten Lebenslinie und seinem Ziel vorauszusetzen sind.

So wird der Nervöse etwa, um auf der Linie des Gehorsams, der Unterwerfung, der »hysterischen Beeinflußbarkeit« zu siegen, andere durch seine Schwäche, Angst, durch seine Passivität, durch Zärtlichkeitsbedürfnis usw. zu fesseln, allerlei Memento, Furcht auslösende Schreckbilder, Affektbereitschaften, Einfühlungen in passende Gefühle und Charakterzüge bereit haben, ebenso wie etwa ein Zwangsneurotiker seine Prinzipien, Gesetze und Verbote hat, die scheinbar ihn selbst nur beschränken, in Wirklichkeit aber seinem Persönlichkeitsgefühl eine der Gottheit ähnliche Macht verleihen. Immer sehen wir als Ziel eine ideelle »Rente«, die, ebenso hartnäckig wie vom Unfallsneurotiker die materielle, mit jenen meist geeigneten Mitteln erkämpft wird, die der Erfahrung des Patienten nahe liegen. Ebenso dort, wo aktive Affekte, wie Wut, Zorn, Eifersucht, den Weg zur Höhe sichern sollen und oft durch Schmerzanfälle, Ohnmächten oder durch epileptische Insulte vertreten werden. (Siehe ›Trotz und Gehorsam‹, In: Heilen und Bilden.) — Alle neurotischen Symptome haben die Aufgabe, das Persönlichkeitsgefühl des Patienten und damit auch die Lebenslinie, in die er hineingewachsen ist, zu sichern. Um sich dem Leben gewachsen zu erweisen, erwachsen dem Nervösen auch alle die nötigen Arrangements und nervösen Symptome, als ein Notbehelf, als ein übergroß geratener Sicherungskoeffizient gegenüber den Gefahren, die er in seinem Minderwertigkeitsgefühl beim Ausbau seiner Zukunftspläne erwartet und unaufhörlich zu verhüten trachtet. In diesem Ausbau spielen oft körperliche Funktionsstörungen eine große Rolle, die durch die Spannung ausgelöst werden, in die der Patient jedesmal gerät, wenn knapp vor einem Lebensproblem sein Gemeinschaftsgefühl beansprucht wird, das er nicht hat.-

 

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1) Durch diese Klarstellung wird die Bedeutung des »Unbewußten« wesentlich eingeschränkt. Denn ein vertieftes Verständnis der »Oberflächenpsyche«, deren naive Betrachtung freilich das Dunkel nicht erhellt, zeigt uns, daß der Patient die wahre Absicht seines Weges durchzuführen trachtet, diese Absicht aber nicht versteht, sonach im »Bewußten« als im »Unbewußten« nach Überlegenheit strebt.


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