2. Mitleid.
Das Mitleid ist der reinste Ausdruck für das Gemeinschaftsgefühl. Wenn wir es bei einem Menschen vorfinden, so dürfen wir im allgemeinen über sein Gemeinschaftsgefühl beruhigt sein. Denn bei diesem Affekt zeigt sich, wie weit ein Mensch fähig ist, sich in die Lage seines Mitmenschen einzufühlen.
Vielleicht noch weiter verbreitet als dieser Affekt selbst, ist seine mißbräuchliche Anwendung. Sie besteht entweder darin, sich als ein Mensch darzutun, der ein besonders starkes Gemeinschaftsgefühl hat, also zu übertreiben. Das sind Menschen, die sich bei einem Unglück immer vordrängen, ohne aber etwas zu tun, die nur genannt sein wollen, um auf diese Weise billig den Ruhm in der Öffentlichkeit zu erlangen. Oder es sind Menschen, die mit einer wahren Wollust im Unglück anderer herumspüren und kaum davon loszubringen sind. Diese geschäftig wohltuenden Leute wollen sich durch ihre Tätigkeit in erster Linie das befreiende Gefühl der Überlegenheit über die Armen und Elenden verschaffen. Mit Bezug auf diesen Typus von Merischen sagt einmal der große Menschenkenner La Rochefoucault: »Wir sind immer bereit, im Unglück unserer Freunde eine Art Genugtuung zu empfinden.«
Man hat auf diese Erscheinung irrtümlich unsere Lustempfindung bei tragischen Schauspielen zurückzuführen versucht. Man hat es so dargestellt, als ob die Menschen das Gefühl hätten, in einer besseren Haut zu stecken. Für die Mehrzahl der Menschen dürfte das nicht zutreffen. Denn unser Interesse an den Vorgängen in der Tragödie stammt meist aus unserer Sehnsucht nach Selbsterkenntnis und Selbstbelehrung. Der Gedanke, daß es sich nur um ein Spiel handelt, verläßt uns nicht und wir erwarten daraus eine Förderung in unseren Vorbereitungen für das Leben.