Schlußwort


Wir haben in dieser Arbeit auseinanderzusetzen versucht, daß das seelische Organ aus einer angeborenen, seelisch und körperlich funktionierenden Substanz hervorgeht, daß seine Entfaltung völlig unter soziale Bedingungen gestellt ist, was bedeutet, daß einerseits die Forderungen des Organismus, anderseits die der menschlichen Gesellschaft Erfüllung finden müssen. Das ist der Rahmen, in dem sich das seelische Organ entwickelt und in dem ihm sein Weg angewiesen wird.

Wir haben diese Entwicklung weiter verfolgt, haben die Fähigkeit der Wahrnehmung, Vorstellung, Erinnerung, des Fühlens und Denkens erörtert und sind schließlich zur Besprechung der Charakterzüge und Affekte übergegangen. Wir haben festgestellt, daß alle diese Erscheinungen miteinander in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, daß sie einerseits einem Gesetz der Gemeinschaft unterworfen sind, anderseits durch das Streben des einzelnen Individuums nach Macht und Überlegenheit in eine bestimmte, eigenartige Bahn gelenkt und ausgestaltet werden. Wir haben gesehen, daß die Überlegenheitsziele des Menschen im Verein mit seinem Gemeinschaftsgefühl je nach der gradweisen Abstufung der Entwicklung im konkreten Fall zu bestimmten Charakterzügen führen, die somit gleichfalls nicht angeboren sind sondern sich dergestalt entwickeln, daß sie vom Ursprung der seelischen Entwicklung bis zu dem Ziel, das jedem Menschen mehr oder weniger bewußt vorschwebt, wie in einer Leitlinie angeordnet sind.

Eine Anzahl solcher Charakterzüge und Affekte, die uns wertvolle Wegweiser zum Verständnis des Menschen sind, haben wir ausführlich besprochen, andere haben wir gestreift. Der letztgebotene Ausblick war der, daß entsprechend dem Machtstreben jedes Einzelnen in jedem Menschen Ehrgeiz und Eitelkeit aufgespeichert sind, an deren Erscheinungsformen man dieses Streben und seine Wirkungsweise klar erkennen kann. Wir haben gezeigt, wie gerade die übergroße Entwicklung des Ehrgeizes und der Eitelkeit das ordnungsmäßige Fortschreiten des Einzelnen hindert, die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls drosselt, ja unmöglich macht, wie sie regelmäßig in einer die menschliche Gemeinschaft störenden Weise eingreift, gleichzeitig aber auch den Einzelnen und sein Streben zum Scheitern bringt.

Dieses Gesetz der seelischen Entwicklung erscheint uns unwiderleglich und als der wichtigste Wegweiser für jeden, der nicht dunklen Regungen verfallen will, sondern bewußt sein Schicksal aufzubauen bestrebt ist. Wir treiben mit diesen Untersuchungen Menschenkenntnis, eine Wissenschaft, die kaum sonst irgendwie gepflegt wird, die uns aber als die wichtigste und für alle Schichten der Bevölkerung unerläßliche Beschäftigung erscheint.


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Seite zuletzt aktualisiert: 19.12.2009 
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