3. Der Mensch als gesellschaftliches Wesen.


Wir waren bestrebt, darauf hinzuweisen, daß wir über die Persönlichkeit eines Individuums nur dann Aufschluß bekommen können, wenn wir es in seiner Situation beurteilen und darin verstehen. Unter Situation haben wir die Stellung des Menschen im Weltall und zu seiner näheren Umgebung verstanden, seine Stellung zu den Fragen, die ihm unausgesetzt begegnen, wie Fragen der Betätigung, des Anschlusses, der Beziehung zu den Mitmenschen. Wir haben auf diesem Wege festgestellt, daß es die auf den Menschen einstürmenden Eindrücke der Umgebung sind, die die Haltung des Säuglings und später des Kindes und des Erwachsenen zum Leben auf das nachhaltigste beeinflussen. Schon nach einigen Monaten der Säuglingszeit kann man feststellen, wie sich ein Kind zum Leben verhält. Eine Verwechslung zweier Säuglinge bezüglich ihrer Haltung zum Leben ist von jetzt an nicht mehr möglich, weil jeder schon einen ausgeprägten Typus vorstellt, der immer deutlicher wird, ohne die Richtung, die ihm einmal anhaftet, zu verlieren. Was sich in der Seele des Kindes entwickelt, wird immer mehr von den Beziehungen der Gesellschaft zum Kinde durchdrungen, es kommt zu den ersten Anzeichen des angeborenen Gemeinschaftsgefühls, zum Aufblühen organisch bedingter Zärtlichkeitsregungen, die so weit gehen, daß das Kind die Nähe der Erwachsenen sucht. Man kann immer beobachten, daß das Kind Zärtlichkeitsbestrebungen auf andere — nicht, wie Freud meint, auf sich selbst — richtet. Diese sind verschieden abgestuft und bezüglich verschiedener Personen anders. Bei Kindern, die über das zweite Lebensjahr hinaus sind, kann man diese Verschiedenheit auch in den sprachlichen Äußerungen feststellen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Gemeinschaftsgefühl wird in der Seele des Kindes bodenständig und verläßt den Menschen nur unter den schwersten krankhaften Ausartungen seines Seelenlebens. Es bleibt durch das ganze Leben, nuanciert, beschränkt oder erweitert sich und erstreckt sich in günstigen Fällen nicht nur auf die Familienmitglieder, sondern auf den Stamm, das Volk, auf die ganze Menschheit. Es kann sogar über diese Grenzen hinausgehen und sich dann auch auf Tiere, Pflanzen und andere leblose Gegenstände, schließlich sogar auf den Kosmos überhaupt ausbreiten.

Wir haben hiermit in unserem Bestreben, zum Verständnis des Menschen zu gelangen, einen wichtigen Hilfspunkt gewonnen. Es ist das Verständnis für die Notwendigkeit, den Menschen als ein Gemeinschafiswesen zu betrachten.


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