Anhang: Aus den Träumen eines Melancholikers


Ein 40jähriger Beamter wird in ein anderes Büro versetzt. Vor 13 Jahren war aus dem gleichen Erlebnis heraus eine Melancholie entstanden. Auch diesmal fand er sich unfähig, den ihm bevorstehenden Dienst zu versehen. Nebenbei kamen auch noch Gedanken zum Vorschein, in denen er andeutungsweise den anderen die Schuld gab. Sie nähmen sich seiner nicht an, legten ihm Schwierigkeiten in den Weg, kurz die Bahn zur Paranoia war in schwacher Andeutung wie fast immer bei M. wahrzunehmen. Von mir verlangte er Gift, um seinen Qualen zu entgehen. Was immer sich ereignete, er gewann ihm die schwärzeste Seite ab. Schlaflosigkeit, Verdauungs­beschwerden, vor allem aber ununterbrochene Depression und die ärgsten Befürchtungen für die Zukunft, von Tag zu Tag steigend, ließen die Diagnose unzweideutig sicherstellen.

Ich habe gezeigt, wie die Melancholie als das »Restproblem« zu ver­stehen ist, bei dem die Individualität des Kranken, um den Krankheitsbeweis bemüht, darauf verfällt, sich die Schuld zu geben, sich zu verkleinern, um der offenen Entscheidung auszuweichen. Unser Patient z. B. wird es auf seine Art erreichen, entweder einen ungünstigen Erfolg zu hintertreiben oder durch seine Krankheitslegitimation abzuschwächen oder einen günstigen Erfolg als kleine Abschlagszahlung erscheinen zu lassen für eine fiktive Leistungsfähigkeit, die alles bisher Dagewesene übersteigt. Niemals fehlt auch die vergewaltigende Inanspruchnahme anderer Personen, die durch die Krankheit erschüttert werden sollen und zu größeren Anstrengungen im Dienste des Patienten angepeitscht werden. Reduzieren wir diese Position auf eine kindliche, so geraten wir auf das Bild des weinenden Kindes. Die ersten Kindheitserinnerungen dieses Patienten nun sind folgende: Er sieht sich auf einem Sofa als weinendes Knäblein. Eine zweite: seine Tante schlug ihn einmal, als er acht Jahre alt war; da lief er in die Küche und rief unter Tränen aus: »Du hast mir meine Ehre geraubt!« Mit diesem individuellen, in der Kindheit bereits vorbereiteten Kunstgriff, andere durch sein Klagen zu erschüttern (zu vergewaltigen?), steht er auch jetzt der neuen Situation gegenüber. Nicht zu übersehen ist dabei, daß dieser Kunstgriff seines Lebens nur verständlich wird, wenn man annimmt, daß hier ein überaus ehrgeiziger Mensch nicht soweit an sich glaubt, als könnte er auf geradem Wege sein Ziel der Überlegenheit erreichen. Drittens sieht man deutlich, wie er, was mit all dem Früheren zusammenhängt, unter dem Drucke seiner heimlichen Gottähnlichkeitsidee in der Wirklichkeit der Verantwortung für seine Leistungen enthoben sein möchte, um seinen Gott nicht auf die Probe stellen zu müssen. So erklärt sich seine zögernde Attitüde und das unbewußte Arrangement des »Restes«, der Distanz von seinem Ziele der Überlegenheit, das er bei jeder neuen Entscheidung zu verlieren fürchtet.

In der ersten Woche der Behandlung träumte er den in Kapitel 19 berichteten Traum vom Weltuntergang. Hier finden wir alle oben hervorgehobenen Mechanismen der Melancholie. Er setzt den Fall einer vollkommenen Unverantwortlichkeit in seinem Sinne, er zeigt sich als der Stärkere, und seine Phantasie spielt wie ein Gott mit dem Schicksal der Welt. Alles ist erlaubt, wenn alles verloren geht!8) Ist nicht die gleiche Melodie in seinem: du hast mir die Ehre geraubt? Wie er sich klein macht — müssen wir da nicht als Fortsetzung denken: jetzt komme ich mit dem ärgsten Gegenzug? Liegt nicht die Selbstmorddrohung in der Luft, ist nicht die Depression als Pression benützt?

Alles soll sich seinem Willen beugen! Darauf zielt die Konstruktion seiner Melancholie. Hier der zweite Traum: »Ein Mädchen, das ich auf der Gasse sah, kam zu mir ins Zimmer und gab sich mir hin.« Der Hintergrund dieses Traumes? Wie fern scheint er aller offenen Aggression! Aber es muß ein Zauber in ihm wohnen, der alle gefügig macht. Außerdem hilft er aber wie ein Taschenspieler nach und drückt mit dem Weltuntergang, mit seiner Depression auf die anderen.

Ein dritter Traum zeigt uns das Arrangement seiner Depressionen. »In einem anderen Bureau, das er in Wirklichkeit bereits ausgeschlagen hatte, findet er sich leicht in die Arbeit. Alles geht gut und schön. Das heißt, dort, wo ich nicht bin, dort ist das Glück.« Eine Annahme, durch seine Tendenz aufgeworfen, um die gegenwärtige Situation schmerzlich zu empfinden. Eine Widerlegung ist nicht möglich, denn es handelt sich um eine unerfüllbare Bedingung, wenn er sich anderswo sieht. Könnte man ihn dorthin versetzen, so fände er andere Ausflüchte.

 

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8) Gleichzeitig erfolgt die Enthebung von Gemeinschaftsgefühl.


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