Lebenslüge und Verantwortlichkeit in der
Neurose und Psychose


Ein Beitrag zur Melancholie-Frage

 

(1914)

 

Gipfelt dieses Kapitel letzter Linie in der Anschauung, daß alle psychogenen Erkrankungen, die wir zu den Neurosen und Psychosen rechnen, offenbar Symptome höherer Ordnung sind und als solche Technik, Darstellungen und Ausgestaltungen individueller Lebenslinien, so soll einer ausführlichen Begründung eine spätere Arbeit gelten.1) Es wird sich aber auch im Laufe der vorliegenden Untersuchung nicht vermeiden lassen, mit dieser einstweiligen Voraussetzung zu rechnen, wobei ich mich gerne auf die Anschauung namhafter Autoren stütze. So haben einige Psychiater auf den Zusammenhang von Individualität und Psychose hingewiesen. Ebenso läßt die Entwicklung der Psychiatrie eine fortschreitende Grenzvermischung erkennen. Ideale Typen verschwinden aus der Literatur und Praxis. Die von mir betonte »Einheit der Neurosen« darf hier gleichfalls angeführt werden. Wir nähern uns wohl allgemein einer Grundanschauung, zu der unsere Individualpsychologie namhaft beigetragen hat: daß die nervöse Methode des Lebens mit unausweichlich scheinender und individuell begründeter Gesetzmäßigkeit nach den Mitteln einer brauchbaren Neurose oder Psychose greift, um sich durchsetzen zu können.

Die psychologischen Ergebnisse unserer Individualpsychologie nun sind sehr geeignet, diese Anschauung zu stützen. Denn sie weisen uns in einem ihrer Endergebnisse darauf hin, daß sich der Patient seine mit der Wirklichkeit kontrastierende Innenwelt auf Grundlage einer verfehlten individuellen Perspektive ausbaut. Immer aber ist letztere, die ihm seine Haltung zur Gesellschaft diktiert, uns menschlich begreiflich, in einem anderen Ausbau allgemein geläufig, und nicht selten erinnert man sich derer aus dem Leben oder aus der Dichtung, die nahe an solchen Abgründen vorbeigegangen sind. Es liegt bisher nicht der geringste Beweis vor, daß eine Heredität oder ein Erlebnis oder ein Milieu zur Neurose oder gar zu einer bestimmten Neurose verpflichtet. Diese ätiologische Verpflichtung, die nie der persönlichen Tendenz und Mithilfe entbehrt, existiert vielmehr nur in der starr gewordenen Annahme des Patienten oder der Autoren, der seine neurotische oder psychotische Konsequenz, damit den Zusammenhalt seiner Erkrankung kausal zu sichern versucht, indem er irgendwelchen Eindrücken, die er zu Ursachen macht, die Folgen — folgen läßt. Er könnte auch weniger ätiologisch denken, fühlen und handeln, wenn er nicht durch sein Ziel, durch den ihm vorschwebenden fünften Akt auf diese Fährte gedrängt wäre. Unter anderem aber verlangt sein Lebensplan kategorisch, daß er durch fremde Schuld scheitere, daß seine persönliche Verantwortung dabei aufgehoben sei,2) oder daß nur eine fatale Kleinigkeit seinen Triumph verhindere.

Das Allgemein-Menschliche an dieser Sehnsucht tritt auffallend hervor. Das Individuum hilft mit seinen Mitteln nach, und so durchfließt den ganzen Inhalt des Lebens der beruhigende, narkotisierende, das Selbstgefühl sichernde Strom der Lebenslüge. Jede therapeutische Kur, noch mehr jeder ungeschickt brüske Versuch, dem Patienten die Wahrheit zu zeigen, entreißt den Patienten der Wiege seiner Unverantwortlichkeit und hat mit dem heftigsten Widerstand zu rechnen.

Diese von uns oft dargelegte Haltung entspringt der »Sicherungs­tendenz« des Patienten und zeigt seine Neigung zu Umwegen, Stillständen und Rückzügen, Listen und Hinterlist, sobald es sich um gesellschaftlich notwendige Entscheidungen und um Kooperation handelt. Dem Individualpsychologen sind alle die Ausflüchte und Vorwände geläufig, deren sich der Kranke bedient, um seinen Aufgaben oder seinen eigenen Erwartungen den Rücken zu kehren. Unsere Arbeiten haben diese Probleme scharf beleuchtet und herausgekehrt. Und wir finden nur wenige Fälle, in denen die fremde Schuld zu fehlen scheint. Unter diesen drängen sich vor allem die Krankheitsbilder der Hypochondrie und der Melancholie auf.

Als einen überaus brauchbaren Leitfaden, ein psychogenes Krankheitsbild durchsichtiger zu machen, darf ich es ansehen, die Frage nach dem »Gegenspieler« zu erheben. Die Lösung dieser Frage zeigt uns den psychogen erkrankten Menschen nicht mehr in einer künstlichen Isolierung, sondern in seinem gesellschaftlich gegebenen System. Leicht ergibt sich dann die Kampftendenz der Neurose und Psychose, und was sonst als Abschluß der Betrachtung gelten konnte, die spezielle Erkrankung, wird jetzt an die gehörige Stelle eingesetzt als ein Mittel, eine Methode des Lebens, als ein Symptom zugleich für den Weg, den der Patient geht, um zum Ziele der Überlegenheit zu kommen, oder um es als ihm zukommend zu empfinden.

In manchen Psychosen, aber auch bei neurotisch erkrankten Patienten gilt der Angriff und zugleich die Beschuldigung nicht einer einzelnen Person, sondern einer Vielheit, zuweilen auch der ganzen Menschheit, der Zweigeschlechtlichkeit oder der Weltordnung. Ganz scharf tritt dieses Verhalten bei der Paranoia zutage. Die volle Abgekehrtheit von der Welt, damit aber zugleich die Verurteilung derselben, wird in der Dementia praecox intendiert. Versteckter und auf einige wenige Personen beschränkt, spielt sich der Kampf des Hypochonders und des Melancholikers ab. Dort gewährt uns der Standpunkt der Individualpsychologie ein genügend großes Blickfeld, um auch in diesen Fällen die zugehörigen Kunstgriffe zu verstehen. So, wenn ein alternder Hypochonder den Erfolg erzielt, sich der Arbeit zu entziehen, bei der er Enttäuschungen fürchtet, gleichzeitig eine Verwandte ans Haus fesselt und ihre Aufopferung erzwingt. Die Distanz zur Entscheidung — über seine schriftstellerische Begabung — ist groß genug, um nicht übersehen zu werden. Es unterstreicht sie durch eine außerordentlich wirksame Platzangst. Wer trägt die Schuld? Er wurde im Revolutionsjahre geboren und schwört auf diese hereditäre Belastung. Seine Verdauungsbeschwerden sind in der Hierarchie der Mittel (Stern) wesentliche Hilfen seiner Herrschsucht über die Umgebung, die so Fleißaufgaben bekommt, und seiner Aufgabe der Zeitvertrödelung. Sie werden durch Luftschlucken und durch tendenziöse Obstipation erzeugt.

Bei einem 52jährigen Gewerbetreibenden kommt eine Melancholie zum Ausbruch, als eines Abends seine älteste Tochter in Gesellschaft geht, ohne sich von ihm zu verabschieden. Dieser Mann hat immer darauf gesehen, daß seine Familie ihn als Oberhaupt der Familie anerkenne, hat auch seit jeher durch hypochondrische Beschwerden exakte Dienstleistungen und strengen Gehorsam erzwungen. Sein nervöser Magen vertrug nicht die Wirtshauskost. Also war seine Frau genötigt, wenn er Ausflüge machte, »zu denen ihn sein Gesundheitszustand veranlaßte«, in einer am Lande gemieteten Küche seine Speisen zu bereiten, während er spazierenging. Sein Altern erschien ihm anläßlich des »unkindlichen« Vorgehens seiner Tochter wie ein Schwächezustand. Sein Prestige drohte zu sinken. Da zeigte die hereinbrechende Melancholie der Tochter ihre Schuld und der ganzen Familie die Bedeutung seiner Arbeitskraft im hellsten Lichte. Er hatte den Weg gefunden, den Nimbus zu erdichten und zu erzwingen, der ihm kraft der Tatsachen auszubleiben schien. Und er war auf dem Wege zur Unverantwortlichkeit, falls seine persönliche Rolle versagen sollte. Einer Patientin, die ihren gutmütigen Mann immer beherrschte, starb die Mutter. Sie war die einzige von den Geschwistern gewesen, die mit der Mutter inniger zusammenhing. Sie wollte auch die alternde Frau zu sich nehmen, aber ihr Mann opponierte sanft unter Hinweis auf die beengten räumlichen Verhältnisse. Nach dem Tode der Mutter verfiel die Patientin in Melancholie. Ihre Krankheit war Anklage gegen die Geschwister und ein erzieherischer Hinweis für den Mann, künftig besser zu folgen.

Ein 70jähriger Fabrikant hatte bei zunehmendem Alter fast jedes zweite Jahr einen Zustand von Melancholie gezeigt, der immer einige Wochen währte. Wie der obige Fall begann auch dieser Patient zu erkranken, als durch ein mißliches Abenteuer sein Prestige zu sinken drohte; auch er vernachlässigte seinen Beruf und alarmierte seine Familie, die auf seine Arbeit angewiesen war, durch unausgesetzte Klagen über drohende Verarmung. Die Situation, die er auf diese Weise schuf, glich einer Vergewaltigung seiner Umgebung auf ein Haar. Jeder Tadel und jede Kritik verstummte ihm gegenüber, der Verantwortung für sein leichtsinniges Abenteuer blieb er entzogen und seine Bedeutung als Erhalter der Familie wurde nun jedem klar. Je stärker seine Melancholie sich geltend machte, je heftiger er klagte, um so höher stieg er im Werte. Er wurde gesund, als die Verstimmung über sein Abenteuer geschwunden war. — In der Folge trat die Melancholie immer dann auf, wenn er in eine finanziell nicht ganz sichere Situation geriet, einmal auch anläßlich einer Intervention der Steuerbehörde, und sein Zustand besserte sich, sobald die Schatten vorübergezogen waren. Man konnte leicht ersehen, daß er vor seiner Familie eine Prestigepolitik betrieb, indem er bei gefahrvollen Entscheidungen Deckung in der Melancholie suchte. So war er entschuldigt und ohne Verantwortlichkeit, wenn etwas schiefgehen sollte, fand auch die stärkste Resonanz bei den Seinen, insbesondere, wenn alles glücklich endete. Auch dieser Fall zeigt deutlich das beschriebene Symptom der »zögernden Attitüde« und die Konstruktion der »Distanz« im Falle einer Entscheidung.

Bevor ich in die Schilderung eines weiteren Falles von Melancholie eingehe, will ich versuchen, vom Standpunkt der Individualpsychologie den Mechanismus der Melancholie schärfer zu zeichnen und den Gegensatz zur Paranoia in einem bestimmten Punkte zu beleuchten. Ist einmal die soziale Bedingtheit und die Kampfstellung der Melancholie festgestellt, so sieht man bald auch das Ziel der Überlegenheit, das den Kranken hypnotisiert. Der Weg, den er dabei einschlägt, ist allerdings anfangs befremdend: Er macht sich klein, antizipiert eine Situation des tiefsten Elends und schöpft aus der Einfühlung in diese den Affekt der Trauer und die Gebärde des Gebrochenseins.3) Dies scheint ein Widerspruch gegenüber der Behauptung eines Größenideals. In der Tat aber wird ihm die bis zur Vernichtung gehende Schwäche eine furchtbare Waffe, um sich Geltung zu verschaffen und um sich der Verantwortlichkeit zu entziehen. Es gibt keine psychische Erkrankung, unter der die Umgebung mehr leidet und auf ihren Unwert mehr hingewiesen wird, als die Melancholie. Eine Leistung wie die der reinen Melancholie scheint mir deshalb ein hervorragendes Kunstwerk; nur daß die Bewußtheit der Schöpfung fehlt, und daß der Patient seit Kindheit in diese Haltung hineingewachsen ist. Diese melancholische Haltung, die sich bis in die früheste Zeit des Patienten verfolgen läßt und sich als ein Kunstgriff, als eine von selbst sich ergebende Methode des Lebens entpuppt, die in einer Phase der Unsicherheit des Patienten als starre, wohl vorbereitete Leitlinie hervortritt, besteht eigentlich in dem Bestreben, durch Antizipation des Zugrundegehens den anderen seinen Willen aufzuzwingen und das Prestige zu wahren.4) Zu diesem Zwecke trägt der Patient alle Kosten, trägt sie mit seinen ganzen körperlichen und seelischen Möglichkeiten, stört seinen Schlaf und seine Ernährung,5) um herunterzukommen und so die Krankheitslegitimation zu erbringen, ebenso die Stuhl- und Harnfunktion und geht folgerichtig in diesem Streben bis zum Selbstmord. Einen weiteren Beweis für die aggressive Natur der Melancholie finden wir in den gelegentlich auftretenden Mordimpulsen und in der häufigen Durchbrechung der melancholischen Haltung durch Wut und durch paranoische Züge. Dann tritt die »Schuld der anderen« deutlich hervor, wie etwa in dem Falle einer Patientin, die sich dem Krebstod verfallen glaubte, weil ihr Mann sie gezwungen hatte, eine an Krebs erkrankte Verwandte zu besuchen. Fassen wir das Obige zusammen, so erscheint uns als Unterschied zwischen melancholischer und paranoischer Haltung, daß bei erster der Patient scheinbar in sich die Schuld fühlt, während der Paranoiker den anderen anschuldigt. Wir ergänzen, um zum Verständnis zu gelangen: wenn er seine Überlegenheit anders nicht durchzusetzen vermag. Daß diese zwei Typen allgemein menschliche sind und sich weit verbreitet zeigen, soferne man seinen Blick für sie schärft, sei nebenbei bemerkt.

Die psychische Beeinflußbarkeit der Psychosen scheitert oft an ihrem stärker erfaßten Ziel der Überlegenheit.6) Die nur mit teilweisem Recht betonte »Unkorrigierbarkeit« der Wahnideen aber ergibt sich folgerichtig aus dem hypnotisierenden Ziel. Und wir konnten bereits zeigen, wie es dem psychologisch Erkrankten regelmäßig durch die Distanzsetzung gelingt, mittels einer Lebenslüge sein Persönlichkeitsgefühl zu sichern. Auch die Heilung der Neurose gelingt nur, wenn der Patient es vermag, seine leitende Idee durch ein »beiläufig« abzuschwächen. Eine »Persuasion«, die sich gegen Symptome richtet, kann demnach teilweisen Erfolg haben (Symptomheilung), wenn der Patient aus anderen Gründen bereits die Geneigtheit hat, sich heilen zu lassen, oder wenn es ihm gelingt, unbemerkt vor sich und dem Arzt und unmerklich sein Ziel zu lockern. An der Wahnidee aber ist, soweit wir sehen, kein Fehler im Intellekt. Sie ist von der leitenden Idee erzwungen und genügt ihrem Endzweck: unverantwortlich zu machen und durch die Distanz das Persönlichkeitsgefühl zu sichern. Eine logische Prüfung der aus dem Zusammenhang gerissenen Wahnidee kann ihr nicht leicht etwas anhaben, weil sie als ein erprobter Modus dicendi et vivendi ihren Zweck im Bezugssystem des Patienten erfüllt, und weil sich der Patient in einem eingeschränkten Gemeinschaftsgefühl der Logik und der Kooperation entschlägt, die uns alle bindet.

Der zuletzt von mir untersuchte Melancholiker deckte in einem zu Anfang der Kur geträumten Traum das ganze Arrangement seiner Krankheit auf. Er war erkrankt, als er aus einer leitenden Stelle anderswohin versetzt wurde, wo er sich erst bewähren sollte. Zwölf Jahre vorher, er war damals 26 Jahre alt, war er bei einem ähnlichen Anlaß an Melancholie erkrankt. Der Traum lautete: »Ich bin in der Pension, wo ich immer zu Mittag speise. Ein Mädchen, das mich seit langem interessiert, trägt die Speisen auf. Plötzlich bemerke ich, daß die Welt untergeht. Da durchzuckt mich der Gedanke, jetzt könnte ich das Mädchen vergewaltigen. Denn ich wäre ohne Verantwortung. Nach geschehener Tat zeigte es sich, daß die Welt doch nicht untergegangen war.« — Die Deutung liegt nahe. Wir erfahren, daß der Patient auch jeder Entscheidung im Liebesleben ausweicht, weil er die Verantwortung fürchtet. Mit Gedanken des Weltunterganges (Menschenfeind!) hat er öfters gespielt. Der Traum deutet in sexueller Verkleidung darauf hin, daß er an den Weltuntergang glauben müsse, um triumphieren zu können. Dadurch stellt er eine Situation der Unverantwortlichkeit her. Der Schlußsatz zeigt den Patienten auf dem Wege, durch ein fiktives Arrangement, durch ein »Als — Ob«, durch einen probeweisen Anschlag,7) durch eine Vergewaltigung anderer sein Ziel zu erreichen.

Nun können wir an die Konstruktion der Leitlinie dieses Patienten gehen! Er verrät sich uns als ein Mensch, der nicht an sich glaubt, der nicht die Erwartung hat, auf geradem Wege durchzudringen. Wir werden demnach aus seinem früheren Leben sowohl wie im Bereiche des gegenwärtigen melancholischen Stadiums gefaßt sein müssen, ihn vom geraden Wege auf sein Ziel abbiegen zu sehen. Und wir werden vermuten dürfen, daß er zwischen sich und den geraden Weg zum Ziele eine Distanz errichten wird. Vielleicht ist auch die Vermutung gerechtfertigt, daß er im Falle einer Entscheidung einer »idealen Situation« zustreben wird, wo er sich durch die sichere Erwartung eines drohenden Unterganges jeder Verantwortlichkeit entziehen kann, und daß er erst wieder Lebensmut gewinnen wird, wenn ihm der Sieg gewiß ist. Diese aus der Dynamik des Traums gewonnene Betrachtung deckt sich aber mit der oben entwickelten Anschauung über die Melancholie. Gleichzeitig wollen wir darauf hinweisen, daß diese Haltung für einen Großteil der Menschen bis zu einem gewissen Grade typisch ist und auch bei Neurotikern häufig zu finden ist. Es liegt in der besonderen Stärke und Ausschließlichkeit der leitenden Überlegenheitsidee, zudem in der geringeren Bindung an die Logik, wenn die Unverantwortlichkeit, damit auch die unkorrigierbaren Ideen bis zur Höhe der Psychose emporgetrieben werden. Demnach dürfen wir wohl auch einen besonderen Grad von Eigensinn und asozialer Herrschsucht vorläufig voraussetzen. Auf unsere Fragen leugnet der Patient derartige Charakterzüge.

Aus seinen Erinnerungen will ich folgende erwähnen: Als Jüngling fiel er einst mit seiner Tänzerin zu Boden, wobei ihm die Brille von der Nase glitt. Er greift noch im Liegen danach, hielt aber aus Vorsicht mit der anderen Hand seine Tänzerin am Boden fest, was zu einer unangenehmen Szene führte. An diesem Falle läßt sich schon der asoziale Zug und die Tendenz zur Vergewaltigung abschätzen. Die gewohnheitsmäßigen Mittel werden uns aus einer ältesten Kindheitserinnerung wieder entgegenleuchten. Diese lautet: »Ich liege am Diwan und weine unermeßlich lange.«8) Zu dieser Erinnerung weiß der Patient nichts anzugeben. Wohl aber sein älterer Bruder, der den Eigensinn und die Herrschsucht des Patienten lebhaft bestätigt und, nach Beweisen gefragt, spontan erzählt, wie ihn der Patient schon als Kind durch sein unaufhörliches Weinen gezwungen, vergewaltigt habe, ihm den ganzen Diwan einzuräumen.

Ich kann hier nicht ausführlich darauf eingehen, wie dieser Patient seinen Schlaf, seine Ernährung und seine Darmfunktion so weit störte, daß er herabkam und den sichtbaren Krankheitsbeweis erbrachte. Ebensowenig, wie er durch Aufstellung unerfüllbarer Bedingungen und Garantien seine Lage als aussichtslos sich und anderen zur Empfindung zu bringen suchte und wie er jeden Schritt seiner Angehörigen und das Eingreifen des Arztes als weitere Schädigung empfand. Er ging auch so weit, sich jede Befähigung und Existenzmöglichkeit abzusprechen, erreichte aber gerade dadurch, daß sich seine Familie und alle seine Bekannten in seinen Dienst stellten und sich vergewaltigen ließen, indem sie gezwungen wurden, seine Vorgesetzten gefügig zu machen und ihm eine Stelle zu besorgen, in der er wieder den großen Herrn spielen konnte. Sein Kampf ging demnach gegen die ihm übergeordenten Beamten, deren Forderungen er durchkreuzte, und sein Weg führte über ein Stadium der Unverantwortlichkeit zu deren Vergewaltigung. Dann, nach Erreichung seines Zieles, wird er sich überzeugen lassen, daß die Welt nicht untergegangen sei.

In meinem Buch Über den nervösen Charakter habe ich als Vorbedingungen der Wahnbildung an vereinzelten Fällen hingewiesen:

1. Verstärktes Gefühl der Unsicherheit und Unzulänglichkeit einer bevorstehenden Entscheidung gegenüber. Starke Entmutigung. Mangel an Kooperationsfähigkeit.

Als Mechanismus: 2. Stärkere Abstraktion von der Wirklichkeit und Entwertung der Realität (u. a. Durchbrechung der Logik als einer Funktion der Gemeinschaft).

3. Verstärkung der zum fiktiven Ziel der Überlegenheit führenden Leitlinie. Übermenschlicher Ehrgeiz im Falle einer Niederlage.

4. Antizipation des Leitbildes.

Bezüglich der Melancholie darf im Anschluß an unsere Ausführungen ad 4 ergänzt werden, daß der Kranke sich dem von ihm erprobten Leitbild des hilflosen, schwachen, bedürftigen Kindes zu nähern sucht, das er nach seiner individuellen Erfahrung als die stärkste und zwingendste Macht empfindet. Dementsprechend formen sich ihm Haltung, Symptome und Unverantwortlichkeit. Die Ausschaltung und Entwertung fast aller menschlichen Beziehungen tritt stark hervor. Dadurch auch die Überlegenheit des Patienten.

Die psychiatrische Wissenschaft findet als den wesentlichsten Charakter der »endogenen« Psychosen den Mangel einer »Veranlassung« oder einer »genügenden Veranlassung«. Diese einheitliche Stellungnahme macht uns stutzig. Denn das Problem der »Veranlassung« ist nun in der Individualpsychologie genauestens bekannt und verschwindet fast nie aus unseren Diskussionen. Ein weiterer Fortschritt der modernen Psychiatrie, die maßgebende Stellung, die sie der Individualität und dem Charakter einräumt, führt zu unseren Problemen und muß unseren Anschauungen später gerecht werden.

Denn die wichtigste Frage des gesunden und kranken Seelenlebens lautet nicht: woher?, sondern: wohin? Und erst wenn wir das wirkende, richtende Ziel eines Menschen kennen, dürfen wir uns anheischig machen, seine Bewegungen, die uns als individuelle Vorbereitungen gelten, zu verstehen. In diesem Wohin? aber steckt die Veranlassung.

In der Fassung der Wiener psychiatrischen Schule lautet die Definition der Melancholie9) folgendermaßen: »Das Wesentliche der Melancholie ist eine primäre, d. h. nicht durch äußere Ereignisse motivierte, traurig-ängstliche Verstimmung mit Hemmung des Denkprozesses.« Es liegt im Ergebnis unserer Betrachtung, die Motivierung durch das Ziel und durch die eigenartigen, individuell zu verstehenden Leitlinien, somit auch die versteckte Aktivität der Melancholie hervorzuheben. In ihrem Bilde finden sich die »zögernde Attitüde« und die »Avance nach rückwärts« in der vollendetsten Gestalt, beide bedingt durch die »Furcht vor der Entscheidung«. Die Melancholie zeigt sich uns demnach als ein Versuch und Kunstgriff, den »Rest«, die »Distanz« des Individuums zu seinem realen Ziel der Überlegenheit auf Umwegen zu erledigen. Dies geschieht, wie bei jeder Neurose und Psychose, durch freiwillige Übernahme der »Kriegskosten«. Und so ähnelt diese Krankheit auch einem Selbstmordversuch, in den sie zuweilen mündet. Denk- und Sprachhemmungen, Stupor und körperliche Haltung machen das Bild der »zögernden Attitüde« besonders greifbar, weisen auch als intendierte Störungen sozialer Funktionen auf die Einschränkung des Gemeinschaftsgefühls hin. Die Angst dient, wie immer, als Sicherung, Waffe und Krankheitsbeweis, Paroxysmen der Wut, der Raptus melancholicus brechen zuweilen als Äußerungen des Fanatismus der Schwäche und Zeichen der versteckten Aktivität hervor, die Wahnideen wiesen auf die Quellen der tendenziösen Phantasie hin, die im Dienste der Krankheit dem Patienten die Affekte liefert und arrangiert. Unverkennbar scheint uns ferner der Mechanismus der Antizipation, die Einführung in die Rolle des bereits zugrunde gehenden Menschen. Am stärksten äußert sich das Leiden in den Morgenstunden, das heißt: sobald der Kranke in das Leben eintreten soll.

Den erfahrenen Beobachtern ist die »Kampfposition« des Melancholikers nicht ganz entgangen. Pilz z. B. (l. c.) führt unter anderem an, wie die Gewissensqualen der Kranken manchmal unsinnige Schenkungen und Testamentbestimmungen zur Folge haben. Wir leugnen bloß das »Unsinnige«. Diese scheinbar so passive Psychose strotzt von Gehässigkeit und von Entwertungstendenz, und der Kranke hat dann, wenn er seine Angehörigen strafen soll, auch die dazu nötigen, aber wirkungslosen Gewissensbisse, um seiner Verantwortlichkeit zu entgehen.

Die Vorgeschichte unserer Patienten zeigt uns mit großer Eindeutigkeit, daß alle Melancholiker einem Typus angehören, der an nichts wirklich sein Herz hängt, der sich bald entwurzelt fühlt und den Glauben an sich und an die anderen leicht verliert. Schon in gesunden Tagen zeigen sie ein ehrgeiziges, aber zögerndes Verhalten, scheuen vor jeder Verantwortung zurück und zimmern an einer Lebenslüge, deren Inhalt die eigene Schwäche, deren Effekt aber der Kampf gegen andere ist. Es ist eine arge Verkennung, der Melancholie Wohlwollen und Güte zuzusprechen. Sie sind vielmehr Zeichen einer imperialistischen Tendenz, die gelegentlich, bei gutem Fahrwind, zu großen Leistungen des Melancholikers führt.

 

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1) Siehe ›Fortschritte der Individualpsychologie‹, In: Internat Zeitsohr. f. Individualpsych., II. Jahrg., 1. und 3. Heft. Wien 1923.

2) Siehe ›Das Problem der Distanz‹.

3) Etwa wie der Schauspieler in Hamlet: »Er weint! Um Hekuba! Was ist ihm Hekuba?« Der Psychotiker verrät uns also, übrigens nicht anders wie der Nervöse, in seinen Klagen zugleich auch sein »Arrangement«.

4) Nicht selten zeigt sich die melancholische Technik nebenbei oder vorwiegend als Racheimpuls einer sonst ohnmächtigen Wut. Später von Freud nachdrücklich bestätigt.

5) Daß dabei Toxine mitsprechen, die durch den Affekt der Wut und der Trauer durch Vermittlung des vegetativen Systems aus den endokrinen Drüsen gelöst werden, wollen wir nachdrücklich hervorheben. Siehe auch ›Psych. Behandl. der Trigeminusneuralgie‹ in diesem Band.

6) Ich sehe hier ab von zwischenlaufenden Zuständen höhergradiger Verworrenheit und abschließendem Blödsinn nach längerdauernder lnaktivität der Vernunft. Letztere wird immer auch geschädigt, wenn sie von ihren Quellen, dem Gemeinschaftsgefühl, abgesperrt ist.

7) Siehe ›Traum und Traumdeutung‹ in diesem Band und die Traumtheorie des Autors im Nervösen Charakter, l. c.

8) Auf die tendenziöse Gestaltung oder Festhaltung erster Kindheitserinnerungen habe ich (Nervöse Charakter, l. c, und Schrecker) hingewiesen. Siehe auch Menschenkenntnis 3. Aufl. Leipzig 1929.

9) Siehe Pilz, Spezielle gerichtliche Psychiatrie. 1908.


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Seite zuletzt aktualisiert: 23.12.2009 
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