1. Die Lage des Säuglings.
Das Kind, das so sehr der Hilfe der Gemeinschaft bedarf, findet sich einer Umgebung gegenüber, die nimmt und gibt, fordert und erfüllt. Es sieht sich mit seinen Trieben vor gewissen Schwierigkeiten, deren Überwindung ihm Pein macht. Es lernt bald die Not kennen, die aus seiner Kindheit stammt, und bringt hierzu nun jenes seelische Organ mit, dessen Funktion es ist, vorauszusehen und Richtlinien ausfindig zu machen, bei denen die Befriedigung seiner Triebe ohne Reibung erfolgen kann, bei denen es möglich wird, ein erträgliches Leben zu führen. Stets bemerkt es Menschen, die ihre Triebe viel leichter befriedigen können, ihm also etwas voraushaben. So lernt es die Größe schätzen, die befähigt, eine Türe zu öffnen, die Kraft, die andere besitzen, um einen Gegenstand zu heben, die Stellung, die andere dazu legitimiert, Befehle zu geben und deren Befolgung zu fordern. In seinem seelischen Organ entsteht ein Strom von Sehnsucht, zu wachsen, um gleich oder stärker zu sein wie andere, jene zu überragen, die sich um das Kind gesammelt haben und mit ihm so umgehen, als ob es hier eine Unterordnung gäbe, die sich aber doch vor der Schwäche des Kindes beugt, so daß dieses zwei Operationsmöglichkeiten hat: einerseits sich mit jenen Mitteln durchzusetzen, die es bei den Erwachsenen als Mittel ihrer Macht empfindet, anderseits seine Schwäche darzustellen, die von den andern als unerbittliche Forderung empfunden wird. Diese Verzweigung menschlicher Seelenregungen werden wir bei Kindern immer wieder finden. Schon hier beginnt eine Typenbildung. Während die einen sich in der Richtung des Forderns von Anerkennung, der Kraftansammlung und der Kraftbetätigung entwickeln, finden wir bei anderen etwas, das aussieht wie eine Spekulation mit der eigenen Schwäche, eine Darbietung ihrer Schwäche in den verschiedensten Formen. Erinnert man sich an Haltung, Ausdruck und Blick einzelner Kinder, so wird man immer solche finden, die sich in die eine oder die andere Gruppe einreihen lassen. Alle diese Typen bekommen erst einen Sinn, wenn wir ihre Beziehung zur Umwelt verstehen. Ihre Bewegungen sind auch meist der Umwelt abgelauscht.
In diesen einfachen Bedingungen, in diesem Streben des Kindes, seinen Schwächezustand zu überwinden, was wieder den Anreiz zur Entfaltung einer Menge von Fähigkeiten abgibt, liegt seine Erziehbarkeit begründet.
Die Situationen der Kinder sind äußerst verschieden. Im einen Fall ist eine Umgebung vorhanden, die dem Kind feindliche Eindrücke vermittelt, Eindrücke, die ihm die Welt als feindlich gesinnt erscheinen lassen. Dieser Eindruck ist bei der Unzulänglichkeit des kindlichen Denkorgans erklärlich. Wenn die Erziehung hier nicht vorbeugt, dann kann sich die Seele dieses Kindes so entwickeln, daß es später die Außenwelt überhaupt nur als feindliches Gebiet betrachtet. Verstärkt wird der Eindruck der Feindseligkeit, sobald das Kind größeren Schwierigkeiten begegnet, wie es besonders bei Kindern mit minderwertigen Organen vorkommt. Diese Kinder werden ihre Umgebung anders empfinden als jene, die mit verhältnismäßig tragfähigen Organen zur Welt gekommen sind. Die Organminderwertigkeit kann sich äußern in Schwierigkeiten der Bewegungsfähigkeit, in Fehlern einzelner Organe, geringer Widerstandskraft des Organismus, so daß das Kind vielfach Krankheiten ausgesetzt ist.
Die Ursache von Schwierigkeiten muß aber nicht immer in der Unfertigkeit des kindlichen Organismus gelegen sein, sie kann auch in der Schwere der Aufgaben liegen, die dem Kind durch eine unverständige Umgebung gesetzt werden, oder in einer Unvorsichtigkeit bei der Stellung dieser Aufgaben, kurz, in einer Mangelhaftigkeit der Umgebung des Kindes, die als eine Erschwerung der Außenwelt entstammt. Denn das Kind, das sich seiner Umgebung anpassen will, findet auf einmal Hindernisse, die diese Anpassung erschweren. Das ist z. B. der Fall, wenn das Kind in einer Umgebung aufwächst, die selbst schon den Mut verloren hat und von Pessimismus erfüllt ist, der leicht auf das Kind übergehen kann.