[Kinderpsychologie und Neurosenforschung]

Schlußbetrachtung


I. Im Begriff des »Lebens« ist der organische und seelische Modus bereits vorgebaut, der uns als »Zwang zur Zielsetzung« überall entgegentritt. Denn das Leben verlangt von uns Handeln. Damit ist der finale Charakter des Seelenlebens festgelegt.

II. Der ununterbrochene Anreiz zur Zielstrebigkeit ist beim Menschen durch Gefühle der Insuffizienz gegeben. Was wir Triebe nennen, ist schon der Weg und erweist sich als durch das Ziel orientiert; und die Fähigkeit des Wollens sammelt sich trotz scheinbarer Widersprüche, um zu diesem einheitlichen Ziele durchzudringen.

III. Genauso wie ein insuffizientes Organ eine unerträgliche Situation schafft, aus der zahlreiche Kompensationsversuche ihren Ursprung nehmen, bis sich der Organismus den Anforderungen seiner Umwelt wieder gewachsen fühlt — ebenso sucht die Seele des Kindes in ihrer Unsicherheit jenen Fond von Kraftzuschüssen, die seine Gefühle der Unsicherheit überbauen sollen.

IV. Die Erforschung des Seelenlebens hat in erster Linie mit diesen tastenden Versuchen und Kraftanstrengungen zu rechnen, die aus den konstitutionell gegebenen Realien und unter probeweisen, schließlich erprobten Ausnützungen des Milieus erwachsen.

V. Jedes seelische Phänomen kann deshalb nur als Teilerscheinung eines einheitlichen Lebensplanes verstanden werden. Alle Erklärungsversuche, die davon Abstand nehmen, um durch Analyse der Erscheinung, nicht ihres Zusammenhanges in das Wesen des kindlichen Seelenlebens einzudringen, sind deshalb als verfehlt zu erklären. Denn die »Tatsachen« des Kinderlebens sind nie als fertige Tatsachen, sondern im Hinblick auf ein Ziel als vorbereitende Bewegungen zu sehen.

VI. Nach diesem Konspekt aber geht nichts ohne Tendenz vor sich. Wir wollen es hier unternehmen, folgende Leitlinien als die wichtigsten hervorzuheben.

 

 

Realtätigkeit          

a) Ausbildung von Fähigkeiten, um zur Überlegenheit zu gelangen

b) Sich messen mit seiner Umgebung

c) Erkenntnisse und Fertigkeiten sammeln

d) Empfinden eines feindseligen Charakters der Welt

e) Verwendung von Liebe und Gehorsam, Haß und Trotz, von Gemeinschaftsgefühl und Streben nach Macht, um zur Überlegenheit zu gelangen: 

Imagination  

f) Ausbildung des Als-Ob (Phantasie, symbolische Erfolge)

g) Verwendung der Schwäche

h) Hinausschieben von Entscheidungen; — Suchen nach Deckung 

 

VII. Als unbedingte Voraussetzung dieser Richtungslinien findet man einzig ein hoch angesetztes Ziel, der Allmacht und Gottähnlichkeit, das im Unbewußten bleiben muß, um wirksam zu sein. Sobald Sinn und Bedeutung dieses Zieles und sein Gegensatz zur Wahrheit völlig begriffen, verstanden wird, ist der Mensch ihm nicht mehr überlassen, kann er dessen mechanisierenden, schabionisierenden Einfluß durch verständnisvolle Annäherung an die sachlichen Forderungen der Gemeinschaft aufheben. Dieses Ziel ist nach Konstitution und Erfahrung mannigfach konkret eingekleidet und kann in dieser Form, regelmäßig in der Psychose, bewußt werden. Die Unbewußtheit dieses Machtziels ist erzwungen durch den unüberbrückbaren Widerspruch mit dem realen Gemeinschaftsgefühl. Eine Einkehr ist mangels verständnisvoller Durchdringung und wegen der allgemeinen Besessenheit der Menschen vom Machtstreben ohne fremdes, sachverständiges Zutun kaum zu erwarten.

VIII. Die regelmäßigste Einkleidung des Machtstrebens, neben der im Bedarfsfalle andere oft scheinbar widersprechende zu finden sind, ist nach dem Schema »Mann — Weib«, »Unten — oben«, »Alles oder nichts« gebildet und deutet auf die Summe aller Macht, deren das Kind teilhaft werden will. Der darin erfaßte Gegensatz, in der Regel das Schwache, wird als das feindliche Element, zugleich als das zu unterwerfende bekämpft.

IX. Alle diese Erscheinungen treten beim Nervösen scharf hervor, weil der Patient sich bis zu einem gewissen Grade durch seine Kampfstellung und sein eigenartiges Apperzeptionsschema jeder weitergehenden Revision seiner kindlichen Fehlurteile entzogen hat. Dabei kommt ihm sein dadurch gefestigter solipsistischer Standpunkt sehr zu Hilfe.

X. So kann es uns nicht wundernehmen zu erfahren, daß jeder Nervöse sich derart benimmt, als ob er den Beweis seiner Überlegenheit, fast immer auch den über die Frau, ununterbrochen zu erbringen hätte.


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