[Kinderpsychologie und Neurosenforschung]

Erster Teil


Der Ursprung der Neurose läßt sich immer bis zum 1. und 2. Lebensjahr zurückverfolgen. In dieser Zeit gestaltet sich die Haltung des Kindes zur Umgebung aus, und was dort als »Unart« oder als »Nervosität« auffällig wird, wächst sich später unter dem Einfluß einer unrichtigen Erziehung zur Neurose aus.

Wenn man das Gemeinsame in den Beziehungen des Kindes und des Nervösen zur Umgebung bezeichnen will, so ergibt es sich als deren Unselbständigkeit im Leben. Beide haben es nicht so weit gebracht, den Aufgaben des Lebens gerecht zu werden, ohne sich der Dienstleistungen anderer zu versichern. Und zwar fordert dies der Nervöse in viel höherem Maße, als durch das Gesetz der Gemeinschaft sonst erheischt wird. Nur was im Falle des Kindes naturgemäß die Familie, das leistet im Falle des Nervösen Familie, Arzt und weitere Umgebung. Ist es beim Kinde die Hilflosigkeit und Schwäche, so wird in der Neurose das Mittel des »Krankseins« erfaßt, um die entsprechenden Personen vor erhöhte Aufgaben zu stellen und ihnen größere Leistungen oder Verzichte aufzuerlegen, zugunsten eigener Privilegien.

Die Ähnlichkeit in den »verstärkten Forderungen« also kann uns schon den Vergleich nahelegen. Wichtiger sind die Erkenntnisse der »vergleichenden Individualpsychologie«, die uns zeigen, daß wir in der Individualität eines Menschen seine Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und sein Ziel wie in einem Brennpunkt sehen. Ja wir sind gezwungen anzunehmen, wenngleich wir erst nach längerem Studium Beweise hierfür erlangen, daß wir in den Haltungen und Ausdrucksbewegungen, kurz im modus vivendi einer Person auch die Spuren der äußeren Einwirkungen aus ihren Reaktionen zu erkennen vermögen.

Mit dieser Anschauung sagen wir nun: daß es eigentlich in der Individualpsychologie nicht angeht, fertige Begriffsbestimmungen wie Wille, Charakter, Affekt, Temperament, ja jede seelische Eigenschaft anders zu verstehen, denn als Mittel, die einem geformten Lebensplan entsprechen und ihn ausführen. So wird als Wille eines Patienten erscheinen, in die Behandlung zu kommen, sobald ihm dies als Krankheitsbeweis erforderlich wird, wodurch sein Lebensplan, etwa die Einschränkung seines Kampfplatzes auf das Haus, z. B. bei der Platzangst, ganz erhebliche Förderung erfährt. Derselbe Patient wird gelegentlich später den Willen zeigen, die Behandlung zu verlassen, wenn ihm ein Mißerfolg der Kur als Mittel zur Fortführung desselben Planes nötig erscheint. Das heißt aber: wenn einer zwei gegenteilige Zwecke verfolgt, so kann er doch dasselbe wollen! Oder wenn Sie die beiden Willensstrebungen auf zwei Personen verteilen: wenn zwei nicht dasselbe tun, ist es doch oft dasselbe (Freschl, Schulhof). Daß in diesem Falle durch Analyse der Erscheinungen kein Verständnis zu gewinnen ist, kann sicher behauptet werden. Was uns dabei interessiert, das planvoll Individuelle, das persönliche Wesen, liegt als Vorbereitung vor der Erscheinung, als Ziel hinter ihr und ist in der Erscheinung selbst nur in einem Durchschnittspunkt getroffen. In beiden Fällen wird aber auch die ganze Summe der notwendig dazugehörigen Erscheinungen, Energie, Temperament, Liebe, Haß, Verständnis, Unverstand, Leid und Freude, Besserung und Verschlimmerung, so weit und in solchem Ausmaße vorhanden sein, daß der vom Patienten gewollte Ausgang sichergestellt erscheint! Daß auch die Bewußtheit und Unbewußtheit des Denkens, Fühlens und Wollehs durch diesen Zwang zur Gestaltung der Persönlichkeit diktiert wird, kann leicht nachgewiesen werden, und so ergibt sich auch die Verdrängung als ein Mittel und als eine Schablone des individuellen Seins, nicht etwa als dessen Ursache.

Die gleichen Zusammenhänge gelten, wie ich gezeigt habe,1) von der Determination des Charakters und seiner Stellung als Mittel im Dienste der Persönlichkeit. Die Abstufungen der konstitutionell gegebenen Kräfte, ihre Abschätzung durch das Kind, die Erfahrungen des Milieus beeinflussen Zielsetzung und Lebenslinien. Stehen diese einmal fest, dann paßt der Charakter ebenso wie die Triebe ganz genau zu ihnen. Freilich darf man eine Gegensätzlichkeit oder Verschiedenheit in den Mitteln nicht ohne weiteres als grundlegende Unterschiede des zweckvollen Seelenlebens ansehen. So sehr sich auch ein Hammer von einer Zange unterscheiden mag, einen Nagel einzuschlagen glückt mit beiden. Bei nervös disponierten Kindern einer Familie sieht man zuweilen das eine im Trotz, das andre durch Unterwerfung um die Herrschaft in der Familie ringen. Ein fünfjähriger Knabe litt an der nicht seltenen Erscheinung, alles, dessen er habhaft werden konnte, zum Fenster hinauszuwerfen. Als er genug geprügelt war, erkrankte er an der Angst, er könne wieder etwas hinauswerfen. Durch beide Symptome gelang es ihm, die Eltern an sich zu fesseln, sie mit sich zu beschäftigen, als sie mit einem jüngeren Kinde zu tun hatten, und sich zu ihrem Herrn zu machen. — Einer meiner Patienten war bis zur Ankunft eines jüngeren Bruders das verhätschelte Kind der Familie. Seine Rivalität gegen den Jüngeren ging eine Zeitlang auf den Linien des Trotzes und der Indolenz, und um das Interesse der Eltern für sich zu gewinnen und wieder zu befestigen, kam er zur Enuresis und zur Nahrungsverweigerung. Es gelang ihm auf diese Weise nicht, den jüngeren Bruder auszustechen. Da wurde er ein äußerst netter, fleißiger Knabe, mußte aber, um dauernd an erster Stelle zu stehen, seine Haltung derart überspannen, daß eine schwere Zwangsneurose sich daraus entwickelte. Ein stark ausgesprochener Fetischismus verriet leicht die Hauptoperationsbasis dieses Patienten: das Arrangement der Entwertung der Frau als Folge der Furcht vor derselben. Was dieser Patient in einer wütenden Aggression von seinen Nebenmenschen zu erringen sucht, die Vormacht, erwarb sich sein jüngerer, dereinst vorgezogener Bruder leichter durch einen hohen Grad von Liebenswürdigkeit; ein leichter Grad von Stottern verriet aber auch bei letzterem die Linien des Trotzes, des Ehrgeizes und der zugrunde liegenden Unsicherheit.2)

So tritt uns der ganze Ablauf des Seelenlebens, so auch das neurotische Wollen, Fühlen und Denken, und der Zusammenhang der Neurose und Psychose als ein von langer Hand gefertigtes Arrangement, als ein Mittel zur siegreichen Bewältigung des Lebens entgegen. Die Anfänge aber führen uns regelmäßig in die früheste Kindheit zurück, in der mit den Ausweisen der Konstitution, im psychischen Rahmen eines Milieus die ersten tastenden Versuche unternommen wurden, um zu einem sich aufdrängenden Ziel der Überlegenheit zu gelangen.

Um zu verstehen, worin das Arrangement des Lebenssystems besteht, wollen wir uns vor Augen führen, wie das Kind an das Leben herantritt. Wo immer wir nun die Entstehung seines Bewußtseins ansetzen wollen, es muß wohl ein Stadium sein, in welchem das Kind bereits Erfahrungen gesammelt hat. Es ist aber im höchsten Grade bemerkenswert, daß dieses Sammeln von Erfahrungen nur gelingen kann, wenn das Kind bereits ein Ziel vor Augen hat. Sonst wäre alles Leben ein wahlloses Herumtasten, jede Wertung wäre unmöglich, und von notwendigen Gruppierungen, Heranbringung höherer Gesichtspunkte, Aneinanderreihung und Ausnützung könnte keine Rede sein. Jede Wertung ginge verloren, wenn das fiktive Maß, eben das fix angesetzte Ziel fehlte. Und so sehen wir denn auch, daß niemand seine Erfahrungen tendenzlos erleidet, sondern daß er sie macht. Das aber heißt wohl so viel, daß er ihnen den Gesichtspunkt abgewinnt, ob sie und wie sie seinen Endzielen förderlich oder hinderlich sein können. Was in den Erfahrungen und Erlebnissen wirkt und sich wirksam zeigt, ist ein auf ein Ziel gerichteter Lebensplan, der es auch ausmacht, daß wir unsere Erinnerungen immer in einer aufmunternden oder abschreckenden Stimme reden hören. Oder daß wir sie erst verstehen und richtig werten können, wenn wir diese Stimme in ihnen entdeckt haben.

Wo immer wir im Leben des Kindes oder anamnestisch ein Erlebnis, eine Erinnerung einer Untersuchung unterziehen, sagt uns die Erscheinung selbst gar nichts; sie ist an und für sich vieldeutig, jede Deutung aber muß erst hineingetragen werden und harrt ihres Beweises. Das heißt aber, daß das, was uns daran interessiert, gar nicht in dem Phänomen selbst liegt, sondern sozusagen vor und hinter dem Phänomen, und daß wir eine seelische Erscheinung nur verstehen können, wenn wir bereits intuitiv den Eindruck einer Lebenslinie gewonnen haben. Eine Lebenslinie aber ist erst durch mindestens zwei Punkte bestimmt. Und so ist auch vorzugehen, daß man anfangs zwei Punkte eines Seelenlebens verbindet. Dadurch erhält man den Eindruck eines Systems, das durch Hinzuziehung weiterer Erlebnisse erweitert oder eingeschränkt wird. Was dabei vorgeht, ist am ehesten einer Porträtmalerei zu vergleichen und wie diese nur an ihrer Leistung, nicht aber an Regeln zu bemessen. Oft hat man den Eindruck einer plastischen Attitüde, wie in dem Falle einer meiner hysterischen Patientinnen, die an hysterischen Anfällen mit Bewußtseinsschwund, Armlähmung und Amaurose litt. Es ergab sich, daß sie, um ihren Mann sicher festhalten zu können, außer ihren täglich mehrmals auftretenden Anfällen äußerst scharfe Züge von Mißtrauen gegen jedermann, insbesondere gegen Ärzte an den Tag legte. Um ihr diese gegen andere abwehrende Haltung plastisch vor Augen zu führen, zeigte ich ihr, daß sie wie mit abwehrend vorgestreckten Händen distanzierend dastehe. Darauf teilte mir ihr Gatte, in dessen Anwesenheit die Kur vor sich ging, mit, geradeso hätten die ersten Anfälle ausgesehen, indem die Patientin plötzlich wie zur Abwehr gegen irgend jemanden die Hände ausstreckte. Die ersten Anfälle der Patientin waren eingetreten, als sie eine Untreue des Gatten befürchtete. Wie anamnestisch zutage kam, benahm sich die Patientin so wie in ihrer Kindheit, als sie, auf kurze Zeit allein gelassen, fast einem sexuellen Attentat zum Opfer gefallen wäre. Wenn Sie diese zwei so entfernt liegenden Erscheinungen verbinden, erhalten Sie erst den Eindruck, der in keinem der beiden Phänomene an sich enthalten ist: Die Patientin fürchtet, allein gelassen zu werden! Und gegen dieses jetzt in Sicht tretende Erlebnis richtet sie sich mit der ganzen Wucht ihrer wertvollsten und brauchbarsten Erfahrungen. Nun erst erfahren wir, was wir schon voraussetzen konnten, daß sie auch bereits aus ihrem Kindheitserlebnis diese eine Nutzanwendung gezogen hatte: Ein Mädchen müsse immer jemanden um sich haben. Damals bot sich ihr nur der Vater, und dies um so mehr, als dieser, fern jeder sexuellen Beziehung zu ihr, der Mutter ein Gegengewicht bieten konnte, die der älteren Schwester weitaus den Vorzug gab.

Aus diesen von mir und meinen Mitarbeitern schon öfters vorgetragenen Anschauungen geht die Unhaltbarkeit der Auffassung hervor, die den Krankheitsprozeß aus den Erlebnissen erklären will, wie es die französische Schule tut, und wie später Freud und insbesondere Jung hervorhoben, »als ob der Patient an Reminiszenzen leide«. Auch die späteren Umarbeitungen dieser Theorie, die dem Aktualkonflikt schon besser Rechnung tragen und sich so unserer Anschauung fortwährend nähern, leiden noch an dem mangelhaften Verständnis der Lebenslinie des Patienten. Denn Erlebnis wie sog. Aktualkonflikt sind durch die wirkende Lebenslinie zusammengehalten, das unablässig hypnotisierende Ziel des Patienten hat es zustande gebracht, daß hier eine Erfahrung gemacht und dort ein Geschehnis zu einem Individualerlebnis und Konflikt erhoben wurde.

Für die Psychologie und insbesondere für die Psychologie des Kindes ergibt sich demgemäß die Notwendigkeit, nie aus einem einzelnen Detail, sondern immer nur aus dem ganzen Zusammenhang Schlüsse und Deutungen zu versuchen.

Wenn wir in der individualpsychologischen Deutung des obigen Krankheitsfalles weitergehen wollen, so genügt uns wieder die gewonnene Einsicht wenig, daß die Patientin das Alleinsein fürchtet. Denn auch diese Stimmungslage ist vieldeutig und sagt uns deshalb zu wenig. Wir wollen diesen Befund deshalb mit einem weiteren in Verbindung bringen. Die ersten Kindheitserinnerungen der Patientin sind durchtränkt von Gedanken und von Regungen der Rivalität gegen die Schwester. Insbesondere kommen immer wieder Erinnerungen an die Oberfläche, wie man ihre Schwester überallhin mitgenommen habe, während man sie allein gelassen habe. Wir sehen also auch in der Kindheitserinnerung, die Patientin als die früheste angibt, jenen gleichen Zug immer wiederkehren und sind dadurch sicherer geworden, unsere Vermutung über die Lebenslinie der Patientin sei berechtigt. Ob wir damit aber auch ein weiteres Symptom der Patientin, einen anfallsweise auftretenden Kopfschmerz, der als »reißend« beschrieben wird, verstehen? Und warum dieser Schmerz immer zur Zeit der Menses auftritt? Die anamnestischen Angaben der Patientin besagen, daß dieses Symptom kurz nach einer heftigen Szene mit der ungerecht handelnden Mutter aufgetreten sei. Die Mutter habe sie an den Haaren gerissen, und Patientin, die damals gerade die Menses hatte, lief voll Wut in den eiskalten Fluß, der an dem Gute vorüberfloß, in der Hoffnung, auf diese Weise krank zu werden oder zu sterben. Solche Wutanfälle, die, um den andern zu treffen, bis zur Hintansetzung des eigenen Lebens gingen, hatte sie bei ihren beiden älteren Brüdern öfters gesehen. Während sie aber wie die Brüder handelt, verletzt sie auffallenderweise gleichzeitig ein Gebot, das für sie als Mädchen unbedingte Geltung hat: Sie geht während des Menses im Winter in eiskaltes Wasser! Ihre Wut geht gegen ihre weibliche Natur! Und obwohl sie ihre Handlungsweise nicht versteht, sich an zunächst liegende Abfolgen von Ursachen und Wirkungen hält, zieht sie faktisch ein Resümee, das folgendermaßen lautet: meine Brüder revoltieren und sind die Herren im Hause; meine Schwester genießt die Gunst und Zärtlichkeit der Mutter; ich bin ein Mädchen, dazu die jüngere Schwester, mich läßt man allein, nur Krankheit oder den Tod können meine Erniedrigung aufhalten! In dieser Stimmungslage und in ihren Konsequenzen liegt so deutlich das Sehnen nach Gleichberechtigung ausgesprochen, daß ein Bewußtwerden desselben ganz überflüssig wäre. Das Resultat der Expansion genügt. Freilich hat es noch andere Gründe, daß dieser Vorgang im Unbewußten bleibt. Die Nötigung zum Bewußtwerden des Mechanismus besteht nicht, ja noch mehr! Das völlige Bewußtwerden des Vorganges müßte den erforderten Erfolg in Frage stellen: Es wäre ganz ausgeschlossen, daß dieses Mädchen in ihrer Persönlichkeit intakt bleiben könnte, wenn sie sich das vor Augen hielte, was wir von ihr verstehen, daß nämlich die Hauptvoraussetzung ihres Lebens und ihres Lebensplanes auf einer tiefwurzelnden Empfindung ruht von der Minderwertigkeit der Frau! Um gegen eine solche Bloßstellung sich zu wappnen, zieht sie aus allen Erlebnissen die hierhergehörige Moral: Um ihre Geltung zu bewahren, darf sie nicht allein bleiben! Und als sie die Geltung, den Einfluß, die Macht in bezug auf ihren Gatten zu verlieren fürchtet, tritt das indes herangewachsene Angriffs- und Verteidigungsorgan, als deren gewichtigsten Anteil wir die Neurose kennen, in Aktion und beweist und erzwingt, daß sie wenigstens zum Scheine ihre alte Macht behält: Sie darf nicht allein gelassen werden!

Sind wir so zum Zentralpunkt alles Wirkens, Fühlens und Denkens vorgedrungen, steht das seelische Porträt des Patienten klar vor uns, dann ergeben sich durch die Anschaulichkeit desselben eine Menge von weiteren Zügen und individuellen Eigenheiten von selbst. Die Furcht, allein gelassen zu werden, muß doch wohl auch zur nächstliegenden Waffe, zur Angst, gegriffen haben. Eine diesbezügliche Erkundigung ergibt natürlich die Bestätigung. So z. B. tritt regelmäßig ein Angstanfall auf, wenn sie im Fond des Wagens allein sitzt, während ihr Mann vom Kutschbock aus den Wagen lenkt. Dieser Symptomkomplex ist die Antwort auf die Unterordnung, auf die Ausschaltung des eigenen Willens und auf das Fehlen der geforderten Resonanz. Unsere Patientin beruhigte sich erst, wenn sie selbst auch auf dem Kutschbock saß. Die Plastik dieser Attitüde bedarf keiner weiteren Erörterung, wird übrigens von selbst noch deutlicher, wenn wir hören, daß auch dann noch Angstanfälle bei jeder Biegung des Weges sowie bei jeder Begegnung mit anderen Fahrzeugen auftraten. In allen diesen Fällen griff sie ihrem Mann flugs in die Zügel, sie, die ungeübte dem kundigen Lenker. — Auch wenn die Pferde schneller liefen, bekam sie Angst. Sobald ihr Mann dies bemerkte, trieb er im Scherz die Pferde noch mehr an. Ihre Waffe der Angst versagte! Was nun geschah, ist bemerkenswert und wichtig für das Verständnis scheinbarer Heilungen: Der Angstanfall trat nicht ein, damit ihr Mann die Pferde nicht antreiben könne!3)

Eine weitere, höchst bedeutungsvolle Einsicht ergibt sich jetzt mühelos bei der Beantwortung folgender, sehr berechtigter Frage: Warum kam diese Patientin bei ihrem Streben zur Manngleichheit nicht dahin, selbst die Zügel des Gefährtes zu ergreifen? Ihre ganze Vergangenheit gibt uns eine ungeheuer bestimmte Antwort: Sie traute sich diese Manngleichheit gar nicht zu, war vielmehr auf den Ausweg verfallen, sich des Mannes als Mittel, als Stütze, als Beschützer zu bedienen, um sich so über ihn zu erheben.

 

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1) A. Adler, Über den nervösen Charakter, 4. Aufl., München 1928.

2) Siehe Appelt, ›Fortschritte der Stottererbehandlung‹. In: Heilen und Bilden, l. c.

3) Auf die gleichen Scheinerfolge sind bei der Kriegsneurosenbehandlung die Starkstromspezialisten, Hypnotiseure und Überrumpler hineingefallen. Mit ihnen freilich auch Patienten und Wissenschaft.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 07:16:55 •
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