1. Die frühkindliche Situation.


Wir sind bereits so weit um zu wissen, daß Kinder, die von der Natur stiefmütterlich bedacht sind, zum Leben und zu den Menschen eine andere Haltung einzunehmen geneigt sind als solche, denen die Freuden des Daseins schon frühzeitig nähergebracht worden sind. Man kann als einen Grundsatz aufstellen, daß alle Kinder mit minderwertigen Organen leicht in einen Kampf mit dem Leben verwickelt werden, der sie zu einer Drosselung ihres Gemeinschaftsgefühls verleitet, so daß diese Menschen leicht die Schablone annehmen, sich immer mehr mit sich selbst und mit dem Eindruck, den sie auf die Umwelt machen, zu beschäftigen, als mit den Interessen der andern. Was von den minderwertigen Organen gilt, gilt auch von äußeren Einwirkungen auf das Kind, die sich als ein mehr oder weniger schwer auf ihm lastender Druck fühlbar machen und eine feindselige Einstellung zur Umwelt hervorrufen können. Die entscheidende Wendung tritt schon sehr früh ein. Bereits im zweiten Lebensjahr kann man feststellen, daß solche Kinder wenig geneigt sind, sich als gleichermaßen ausgestattet wie die andern und ihnen ebenbürtig und gleichberechtigt zu fühlen, sich ihnen anzuschließen und mit ihnen gemeinsame Sache zu machen, sondern daß sie in einem durch mannigfache Entbehrungen entstandenen Gefühl der Verkürztheit dazu neigen, stärker als andere Kinder ein Gefühl der Erwartung, ein Recht auf Forderungen zu äußern. Bedenkt man, daß eigentlich jedes Kind dem Leben gegenüber minderwertig ist und ohne ein erhebliches Maß von Gemeinschaftsgefühl der ihm nahestehenden Menschen gar nicht bestehen könnte, faßt man die Kleinheit und Unbeholfenheit des Kindes ins Auge, die so lange anhält und ihm den Eindruck vermittelt, dem Leben nur schwer gewachsen zu sein, dann muß man annehmen, daß am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht. Dies ist die treibende Kraft, der Punkt, von dem alle Bestrebungen des Kindes ausgehen und sich entwickeln, sich ein Ziel zu setzen, von dem es alle Beruhigung und Sicherstellung seines Lebens für die Zukunft erwartet und einen Weg einzuschlagen, der ihm zur Erreichung dieses Zieles geeignet erscheint.

In dieser eigenartigen Stellungsnahme des Kindes, die auch enge mit seinen organischen Fähigkeiten verknüpft und von ihnen mitbeeinflußt ist, liegt die Basis für seine Erziehbarkeit. Diese wird, so allgemein auch das Minderwertigkeitsgefühl bei jedem Kind ist, besonders durch zwei Momente erschüttert. Das eine ist ein verstärktes, intensiveres und länger anhaltendes Minderwertigkeitsgefühl, das andere ein Ziel, das nicht mehr bloß Beruhigung, Sicherheit, Gleichwertigkeit gewährleisten soll, sondern ein Streben nach Macht entwickelt, das bestimmt ist, zur Überlegenheit über die Umwelt zu führen. Auf diesem Weg sind sie weiterhin jederzeit zu erkennen. Ihre Erziehbarkeit ist erschwert, weil sie sich unter allen Umständen immer zurückgesetzt fühlen, sich von der Natur benachteiligt glauben und sich oft auch von den Menschen, mit Recht oder Unrecht, zurückgesetzt sehen. Wenn man all diese Beziehungen genauer durchschaut, dann kann man ermessen, mit welcher Zwangsläufigkeit sich eine schiefe, von allerhand Fehlschlägen begleitete Entwicklung vollziehen kann.

Dieser Gefahr ist eigentlich jedes Kind ausgesetzt, weil sich alle Kinder in derartigen Situationen befinden. Jedes Kind ist dadurch, daß es in die Umgebung von Erwachsenen gesetzt ist, verleitet, sich als klein und schwach zu betrachten, sich als unzulänglich, minderwertig einzuschätzen. In dieser Stimmung ist es nicht imstande, sich zuzutrauen, den Aufgaben, die ihm gestellt werden, so glatt und fehlerlos zu genügen, wie man es ihm zumutet. Schon an dieser Stelle setzen meist Erziehungsfehler ein. Dadurch, daß man vom Kind zuviel verlangt, rückt man ihm das Gefühl seiner Nichtigkeit schärfer vor die Seele. Andere Kinder werden sogar ständig auf ihre geringe Bedeutung, auf ihre Kleinheit und Minderwertigkeit aufmerksam gemacht. Wieder andere Kinder werden als Spielbälle benutzt, als Lustbarkeit, oder sie werden als ein Gut angesehen, das man ganz besonders behüten muß, oder man betrachtet sie als lästigen Ballast. Oft auch finden sich alle diese Bestrebungen vereint, das Kind wird bald von der einen, bald von der andern Seite darauf aufmerksam gemacht, daß es entweder zum Vergnügen oder zum Mißvergnügen der Erwachsenen da sei. Das tiefe Minderwertigkeits­gefühl, das auf diese Weise in den Kindern gezüchtet wird, kann durch gewisse Eigenarten unseres Lebens noch eine weitere Steigerung erfahren. Hierher gehört die Gewohnheit, Kinder nicht ernst zu nehmen, dem Kind zu bedeuten, daß es eigentlich ein Niemand sei, daß es keine Rechte habe, daß es vor Erwachsenen immer zurückzustehen habe, daß es still sein müsse u. dgl. mehr. Was daran etwa wahr ist, kann man den Kindern in einer so undelikaten Weise bieten, daß es begreiflich ist, wenn sie darüber in Erregung geraten. Eine Unzahl Kinder wächst ferner in dem ständigen Gefühl der Furcht auf, bei allem, was sie unternehmen, ausgelacht zu werden. Die Unsitte, Kinder auszulachen, ist der Entwicklung des Kindes überaus abträglich. Man kann die Furcht solcher Menschen vor dem Ausgelachtwerden bis in die späteste Zeit ihres Lebens verfolgen, sie können oft auch als Erwachsene von dieser Furcht nie loskommen. Sehr schädlich ist auch die Neigung, Kinder in der Weise nicht ernst zu nehmen, daß man ihnen Unwahrheiten sagt, so daß sie leicht dazu gelangen, am Ernst ihrer Umgebung und auch des Lebens zu zweifeln. Es gibt Fälle, daß Kinder in der ersten Zeit, da sie die Schule besuchten, lächelnd auf der Bank saßen und gelegentlich endlich mitteilten, sie hielten die ganze Angelegenheit mit der Schule für einen Scherz der Eltern, den sie gar nicht ernst nähmen.


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