3. Entwicklungsrichtungen des Charakters.


Entsprechend der Richtung, die das Kind in seiner seelischen Entwicklung einschlägt, werden auch die Charakterzüge ausfallen, die es entwickelt. Wir werden diese Richtung entweder als gerade empfinden oder sie wird Abbiegungen aufweisen. Im ersten Fall wird das Kind geradlinig der Verwirklichung seines Zieles zustreben, somit einen aggressiven, mutigen Charakter entwickeln. Man kann sagen, daß die Anfänge der Charakterentwicklung jedenfalls etwas von diesem Aggressiven, Zugreifenden haben, daß diese Linie aber durch die Schwierigkeiten des Lebens leicht umgebogen werden kann. Diese Schwierigkeiten liegen bekanntlich in einer großen Widerstandskraft der Gegner, so daß das Kind auf der geraden Linie nicht zum Ziel der Überlegenheit gelangen kann. Es wird irgendwie um diese Schwierigkeiten herumzukommen suchen. Auf diesem Umweg wird es wieder bestimmte Charakterzüge annehmen. In gleicher Weise wirken auch alle anderen Schwierigkeiten auf die Entwicklung des Charakters, die wir bereits kennengelernt haben, wie die mangelhafte Entwicklung von Organen, Verstöße, die sich die Umgebung des Kindes zuschulden kommen läßt u. dgl. Wichtig sind ferner die Einwirkungen der weiteren Umwelt, die als eine Erzieherin unwiderstehlichster Art auftritt. Denn das öffentliche Leben setzt sich in Forderungen, Gedanken und Gefühle der Erzieher selbst um, die dadurch bestimmt werden, die Erziehung so einzurichten, daß sie auf das gesellschaftliche Leben und auf die herrschende Kultur abgestimmt ist.

Schwierigkeiten aller Art bedeuten immer eine Gefahr für eine geradlinige Entwicklung des Charakters. Die Wege, die das Kind einschlägt, um zu seinem Machtziel zu gelangen, werden dann mehr oder weniger von der geraden Richtung abweichen. Während sich im ersten Fall die Haltung des Kindes unerschüttert zeigt, immer in einer Linie, sich einer Schwierigkeit direkt gegenüberzustellen, wird im zweiten Fall ein ganz anderes Kind sichtbar, ein Kind, das schon gelernt hat, daß das Feuer brennt, daß es Gegner gibt, daß man vorsichtig sein muß. Es wird versuchen, sich des Zieles der Geltung und Macht auf Umwegen, in listiger Weise zu bemächtigen. Seine weitere Entwicklung wird vom Grad dieser Abweichung abhängen, ob es allzu vorsichtig wird oder nicht, ob es sich mit den Notwendigkeiten des Lebens noch in Einklang befindet oder ob es ihn bereits vermissen läßt. Es wird nicht mehr geradlinig an seine Aufgaben herantreten, feige oder schüchtern werden, nicht mehr in die Augen sehen, nicht mehr die Wahrheit sprechen. Ein anderer Typus von Kindern, aber gleichwohl dasselbe Ziel. Wenn zwei nicht dasselbe tun, so kann es doch dasselbe sein.

Beide Entwicklungsrichtungen sind bis zu einem gewissen Grade tragfähig, besonders wenn das Kind noch keine zu starren Formen angenommen hat, wenn seine Prinzipien noch locker sind, so daß es nicht immer denselben Weg betritt, sondern genug Initiative behält und elastisch bleibt, um auch eine andere Form zu finden, wenn sich die eine als unzulänglich erweist.

Die Einfügung in die Forderungen der Gesamtheit hat also zur Voraussetzung ein ungestörtes Zusammenleben. Diese Einfügung kann man dem Kind leicht beibringen, solange es seiner Umgebung gegenüber noch keine Kampfstellung einnimmt. Und der Kampf innerhalb der Familie ist nur vermeidbar, wenn die Erzieher imstande sind, ihr eigenes Streben nach Macht so weit zurückzustellen, daß es nicht zu einer Last, zu einem Druck auf das Kind wird. Steht ihnen dabei auch ein volles Verständnis für die Entwicklung des Kindes zur Verfügung, dann werden sie auch vermeiden können, daß geradlinige Charakterzüge überspitzt werden, daß Mut in Frechheit, Selbständigkeit in rohen Egoismus ausartet. Ebenso werden sie verhüten können, daß durch eine irgendwie gewaltsam erzeugte Autorität aus der Einfügung sklavischer Gehorsam zustandekommt, daß das Kind verschlossen wird und die Wahrheit scheut, weil es sich vor den Folgen der Offenheit fürchtet. Denn der Druck, der oft in der Erziehung angewendet wird, ist ein verwegenes Mittel und erzeugt meist nur eine falsche Einfügung, der erzwungene Gehorsam ist nur ein scheinbarer. Mögen all die erdenklichen Schwierigkeiten, die hier mitspielen, unmittelbar oder nur mittelbar auf das Kind einwirken, immer wird ein Abglanz der allgemeinen Verhältnisse in die Kindesseele fallen und sie dementsprechend gestalten, ohne daß eine Kritik zu walten imstande ist, entweder weil das Kind dieselbe nicht aufbringen kann oder weil die erwachsene Umgebung von diesen Vorgängen nichts weiß oder sie nicht versteht.

Man kann die Menschen auch nach einer anderen Art, nämlich wie sie Schwierigkeiten entgegentreten, einteilen. Die Optimisten sind jene Menschen, bei denen die Charakterentwicklung eine im großen und ganzen gerade Richtung nimmt. Sie treten allen Schwierigkeiten mutig entgegen und nehmen sie nicht schwer. Sie haben den Glauben an sich bewahrt und eine günstige Stellung zum Leben leichter gefunden. Sie verlangen nicht allzuviel, weil sie eine gute Selbsteinschätzung haben und sich nicht verkürzt fühlen. So ertragen sie die Schwierigkeiten des Lebens leichter als andere, die darin immer einen Anlaß finden, sich für schwach und unzulänglich zu halten. In schwierigeren Situationen bleiben sie ruhig in der Überzeugung, daß man Fehler wieder gutmachen kann.

Auch an ihrer äußeren Erscheinung kann man die Optimisten erkennen. Sie fürchten sich nicht, sprechen offen und frei mit den andern und genieren sich nicht allzuviel. Plastisch könnte man sie etwa darstellen, wie sie mit offenen Armen dastehen, um den andern zu empfangen. Sie finden leicht Anschluß an andere Menschen, sie befreunden sich leicht, weil sie nicht mißtrauisch sind. Ihre Sprache ist unbehindert, Haltung und Gang unbefangen. Einen reinen Typus dieser Art findet man selten, fast nur in den ersten Kinderjahren. Es gibt aber schon Grade von Optimismus und Anschlußfreudigkeit, mit denen wir zufrieden sein können.

Anders der Typus des Pessimisten, der die schwersten Erziehungsprobleme stellt. Es sind jene, die aus den Erlebnissen und Eindrücken der Kindheit ein Minderwertigkeitsgefühl bezogen haben, denen durch allerhand Schwierigkeiten die Empfindung nahegelegt wurde, daß das Leben nicht leicht ist. Einmal im Bannkreis einer durch unrichtige Behandlung genährten pessimistischen Weltanschauung, wird ihr Blick immer auf die Schattenseiten des Lebens fallen. Sie sind sich der Schwierigkeiten des Lebens viel mehr bewußt als die Optimisten und verlieren leicht den Mut. Oft von einem Unsicherheitsgefühl erfüllt, suchen sie nach einer Stütze, was sich gewöhnlich schon äußerlich darin kundtut, daß sie nicht frei stehen können, als Kinder z. B. Anlehnung an die Mutter suchen oder nach der Mutter rufen. Dieser Schrei nach der Mutter ist manchmal bis ins späte Alter wiederzufinden.

Die besondere Vorsichtigkeit dieses Typus sieht man an seiner Haltung, die meist schüchtern, furchtsam, langsam sein wird, vorsichtig berechnend, weil sie immer Gefahren wittern. Sie werden auch schlechter schlafen. Der Schlaf ist überhaupt ein ausgezeichneter Gradmesser für die Entwicklung eines Menschen. Die Schlafstörungen sind immer ein Zeichen der größeren Vorsicht und Unsicherheit. Es ist, wie wenn diese Menschen fortwährend auf der Wacht wären, um sich vor den Feindseligkeiten des Lebens besser zu schützen. Daraus kann man auch ersehen, wie wenig Lebenskunst, wie wenig Verständnis für das Leben und seine Zusammenhänge in diesem Typus vorhanden ist, der nicht einmal eines guten Schlafes teilhaftig werden kann. Hätte er wirklich recht, dann dürfte er gar nicht schlafen. Wäre das Leben wirklich so schwer, wie dieser Typus es annimmt, dann wäre in der Tat der Schlaf eine schädliche Einrichtung. In der Neigung, gegen solche natürliche Einrichtungen Stellung zu nehmen, verrät sich die Lebensunfähigkeit dieses Typus. Manchmal findet man nicht gerade Schlafstörungen, sondern andere Kleinigkeiten, wie Nachsehen, ob die Tür gut verschlossen ist, häufige Träume von Einbrechern u. dgl. Sogar in Schlafstellungen ist dieser Typus zu erkennen. Es kommt oft vor, daß sich solche Menschen auf den kleinsten Raum zusammenringeln oder sich die Decke über den Kopf ziehen.

Nach anderen Gesichtspunkten kann man die Menschen einteilen in Angreifer und Angegriffene. Die Angriffsattitüde zeigt sich vor allem in größeren Bewegungen. Sie werden, wenn sie mutig sind, diesen Mut bis zum Übermut steigern, sich selbst und den andern immer mit einem besonderen Nachdruck zeigen wollen, daß sie doch etwas leisten können. So verraten sie das tiefe Unsicherheitsgefühl, das sie im Grunde beherrscht. Wenn sie furchtsam sind, werden sie sich gegen die Furcht abzuhärten suchen. Andere wieder werden bestrebt sein, Gefühle von Weichheit und Zärtlichkeit zu unterdrücken, weil sie ihnen wie eine Schwäche erscheinen. Sie werden immer den Starken herauskehren wollen, oft mit einer solchen Deutlichkeit, daß es auffällt. Diese Angreifer werden manchmal auch Züge von Roheit und Grausamkeit aufweisen. Neigen sie zu Pessimismus, dann sind oft alle ihre Beziehungen zur Umwelt verändert, weil sie nicht mitleben und nicht mitfühlen und allen feindlich gegenüberstehen. Ihre bewußte Selbsteinschätzung kann dabei einen sehr hohen Grad erreichen, sie können gebläht sein von Stolz, Arroganz und Eigendünkel. Sie können Eitelkeiten zur Schau tragen, als ob sie wirkliche Überwinder wären. Aber die Deutlichkeit, mit der sie das alles tun, und das Überflüssige daran stört nicht nur das Zusammenleben, sondern verrät uns auch, daß alles an ihnen nur ein künstlerischer Bau ist, der sich über einer unsicheren, schwankenden Grundlage erhebt. So kommt ihre Angriffsattitüde zustande, die einige Zeit anhält.

Die weitere Entwicklung solcher Menschen ist nicht leicht. Die menschliche Gesellschaft ist solchem Wesen nicht hold. Schon dadurch, daß sie auffallen, machen sie sich mißliebig. Bei ihren steten Anstrengungen, die Oberhand zu gewinnen, geraten sie mit den andern bald in Konflikt, besonders mit Gleichgesinnten, deren Konkurrenz sie erwecken. Ihr Leben wird zu einer fortgesetzten Kette von Kämpfen, und wenn sie, wie es fast unausbleiblich ist, Niederlagen erleiden, ist es oft mit ihrer Linie des Sieges und Triumphes zu Ende. Sie schrecken dann leicht zurück, verlieren die Ausdauer und können Rückschläge nur mehr schwer überwinden. Sie sind dann auch schwer wieder hervorzuholen. Das Mißlingen von Aufgaben beginnt nachhaltigen Einfluß auf sie zu gewinnen und sie enden in ihrer Entwicklung ungefähr dort, wo der andere Typus, jene, die sich immer angegriffen fühlen, beginnt.

Dieser zweite Typus, die »Angegriffenen«, sind jene, die in der Überwindung ihres Schwächegefühls nicht die Linie des Angriffs gesucht haben, sondern die der Ängstlichkeit, Vorsicht und Feigheit. Diese Einstellung kommt sicherlich nie zustande, ohne daß die beim ersteren Typus geschilderte Linie, wenn auch nur für kurze Zeit, beschritten wurde. Die »Angegriffenen« sind mit schlimmen Erfahrungen bald so beladen, sie ziehen derart vernichtende Schlußfolgerungen daraus, daß sie leicht auf den Weg der Flucht geraten. Manchen gelingt es, diese Fluchtbewegungen vor sich selbst zu verstecken, indem sie so tun, als ob hier ein fruchtbares, werktätiges Beginnen vorläge. So, wenn sie in die Vergangenheit zurückgreifen, sich intensiv mit ihren Erinnerungen beschäftigen und ihre Phantasie entwickeln, was aber in Wirklichkeit nur dem Zweck dient, von der Wirklichkeit, die ihnen bedrohlich erscheint, loszukommen. Wohl gelingt es dem einen oder andern, wenn noch nicht alle Initiative verlorengegangen ist, selbst auf diesem Weg etwas zu leisten, was für die Allgemeinheit nicht ohne Nutzen ist. Wer sich für die Psychologie des Künstlers interessiert, der wird unter Künstlern oft diesen Typus vorfinden, der sich von der Wirklichkeit abgewandt hat, um sich in der Phantasie, im Reich der Ideen, wo es keine Hindernisse gibt, eine zweite Welt zu errichten. Das sind aber Ausnahmen. Die meisten erleiden Fehlschläge. Sie fürchten alle und alles, werden ungeheuer mißtrauisch und erwarten vom andern nur Feindseligkeit. Leider werden sie in unserer Kultur nur zu häufig in ihrer Stellungsnahme bestärkt, verlieren dann völlig den Blick für die guten Eigenschaften der Menschen und für die Lichtseiten des Lebens. Ein häufiger Charakterzug dieser Menschen ist, daß sie außerordentlich kritisch werden können und einen Scharfblick bekommen, der jeden Fehler sofort wahrnimmt. Sie werfen sich zu Richtern auf, ohne selbst etwas zum Nutzen ihrer Umgebung beigetragen zu haben. Sie sind immer nur kritisch und schlechte Mitspieler, Spielverderber. Ihr Mißtrauen zwingt sie zu einer abwartenden, zögernden Haltung. Vor einer Aufgabe beginnen sie zu zweifeln und zu zögern, als ob sie die Entscheidung hinausrücken wollten. Will man sich auch diesen Typus symbolisch darstellen, dann würde er uns erscheinen als ein Mensch, der wie zur Abwehr die Hände vorstreckt, zuweilen mit abgewandtem Blick, wie um der Gefahr nicht ins Auge sehen zu müssen.

Auch andere Züge, die solchen Menschen anhaften, sind wenig sympathisch. Es ist eine allgemeine Erscheinung, daß Menschen, die sich selbst nichts zutrauen, die Neigung besitzen, auch andern nichts zuzutrauen. Bei dieser Haltung ist es aber unausweichlich, daß sich Züge des Neides und Geizes entwickeln. Die Zurückgezogenheit, in der sie oft leben, bedeutet, daß sie nicht gewillt sind, andern Freude zu bereiten und an den Freuden anderer teilzunehmen. Fremde Freude bereitet ihnen zuweilen Schmerz, sie fühlen sich durch sie geradezu verletzt. Einzelnen dieser Menschen gelingt recht häufig der Kunstgriff, sich über die andern erhaben zu fühlen, in einer Weise, daß dieses Gefühl im Leben schwer zu erschüttern ist. In ihrer Sehnsucht, sich erhaben zu zeigen, können Empfindungen wach werden, die so kompliziert sind, daß man sie auf den ersten Blick gar nicht als feindselig erkennt.


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