5. Einfühlung.


Bei der Funktion des Voraussehens, die bei beweglichen Organismen eine unerläßliche Notwendigkeit ist, weil sie immer vor Fragen der Zukunft gestellt sind, kommt dem seelischen Organ noch die Fähigkeit zu Hilfe, nicht nur zu empfinden, was in der Wirklichkeit ist, sondern auch zu fühlen, zu erraten, was etwa in der Zukunft sein wird. Man nennt diesen Vorgang »Einfühlung«. Diese Fähigkeit ist bei den Menschen außerordentlich stark entwik-kelt. Sie ist ein so weit reichender Vorgang, daß man sie an jeder Stelle des Seelenlebens findet. Bedingung ist auch hier die Notwendigkeit zur Voraussicht; denn wenn ich genötigt bin, mir vorzustellen, zu denken, wie ich mich im Falle einer auftauchenden Frage benehmen werde, so bin ich auch gezwungen, über jene Empfindungen ein festes Urteil zu bekommen, die sich aus der gegenwärtig noch nicht herangereiften Situation ergeben könnten. Erst durch das Zusammenfassen des Denkens, Fühlens und Empfindens einer erst zu erlebenden Situation kann wieder ein Standpunkt gewonnen werden, etwa der, einen bestimmten Punkt entweder mit besonderer Kraft anzustreben, oder ihm mit besonderer Vorsicht auszuweichen. Einfühlung kommt schön zustande, wenn man mit jemand spricht. Es ist unmöglich, mit einem Menschen Fühlung zu bekommen, wenn keine Einfühlung in die Lage des andern vorhanden ist. Eine besondere künstlerische Ausgestaltung erfährt die Einfühlung im Schauspiel. Weitere Erscheinungen der Einfühlung sind die Fälle, in denen den Menschen ein eigentümliches Gefühl überkommt, wenn er merkt, daß einem andern irgendeine Gefahr droht. Hier ist die Einfühlung manchmal so stark, daß man unwillkürlich selbst, obwohl nicht gefährdet, Abwehrbewegungen ausführt. Bekannt ist ferner die zurückziehende Bewegung, die man mit der Hand ausführt, wenn man z. B. ein Glas fallen läßt. Oft kann man beim Kegelschieben beobachten, wie einzelne Spieler gleichsam die Bewegung der Kugel mitmachen wollen, sie mit ihrem ganzen Körper vorwegnehmen, als ob sie deren Lauf dadurch beeinflussen wollten. Weitere Erscheinungen sind die Gefühle, von denen man befallen wird, wenn man jemand in einem hochgelegenen Stockwerk Fenster putzen sieht, oder wenn man erlebt, daß ein Redner das Unglück hat, stecken zu bleiben. Im Theater wird man es kaum vermeiden können, mitzufühlen und die verschiedensten Rollen in seinem Innern mitzuspielen. — Unser gesamtes Erleben hängt also mit der Einfühlung innig zusammen.

Suchen wir danach, wo diese Funktion ihren Ursprung hat, diese Möglichkeit, so zu empfinden, als ob man ein anderer wäre, so finden wir die Erklärung nur in der Tatsache des angeborenen Gemeinschaftsgefühls. Diese ist eigentlich ein kosmisches Gefühl, ein Abglanz des Zusammenhanges alles Kosmischen, das in uns lebt, dessen wir uns nicht ganz entschlagen können und das uns die Fähigkeit gibt, uns in Dinge einzufühlen, die außerhalb unseres Körpers liegen.

Wie es verschiedene Grade des Gemeinschaftsgefühls gibt, gibt es auch verschiedene Grade der Einfühlung, die man ebenfalls schon im Kindesalter beobachten kann. Es gibt Kinder, die sich mit Puppen so beschäftigen, als ob es lebendige Wesen wären, während andere vielleicht nur das Interesse haben, nachzusehen, was darinnen ist. Durch Ablenken der Gemeinschafts­beziehungen von den Mitmenschen auf leblose oder wenig wertvolle Dinge, kann die Entwicklung eines Menschen sogar völlig zum Scheitern gebracht werden. Fälle von Tierquälerei, die man so oft bei Kindern beobachtet, sind nur denkbar bei Annahme eines fast völligen Mangels von Einfühlung in das Empfinden anderer Wesen. In weiterer Folge können solche Kinder dazu gelangen, sich für Dinge zu interessieren, die für ihre Entwicklung zum Mitmenschen bedeutungslos sind, Interessen anderer völlig zu übersehen und nur an sich zu denken. Alle diese Erscheinungen hängen mit dem geringen Grade der Einfühlung zusammen. Schließlich kann Mangel an Einfühlung dazu führen, die Aufnahme der Mitarbeit völlig zu verweigern.


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