Dostojewski


(1918)

 

Tief unter der Erde, in den Erzhöhlen Sibiriens, hofft Dimitri Karamasow sein Lied auf die ewige Harmonie zu singen. Der schuldig-unschuldige Vatermörder nimmt das Kreuz auf sich und findet das Heil in der ausgleichenden Harmonie.

»15 Jahre lang war ich ein Idiot«, sagt Fürst Mischkin in seiner liebenswürdigen lächelnden Weise, der jeden Schnörkel einer Schrift deuten konnte, der seine eigenen Hintergedanken unbefangen aussprach und die Hintergedanken jedes anderen sofort erriet! Ein Gegensatz, wie wir ihn uns größer nicht denken können.

»Bin ich Napoleon oder bin ich eine Laus?« brütete Raskolnikow einen Monat lang in seinem Bette, um die Grenze zu überschreiten, die ihm durch sein bisheriges Leben, durch sein Gemeinschaftsgefühl und durch seine Lebenserfahrungen gesetzt war. Auch hier wieder der große Gegensatz, den wir staunend miterleben.

Nicht anders bei seinen anderen Helden und in seinem eigenen Leben. »Wie ein Feuerbrand wirbelte der junge Dostojewski im Hause seiner Eltern umher«, und wenn wir seine Briefe an seinen Vater und an seine Freunde lesen, so finden wir erheblich viel Demut, Unterwürfigkeit und Unterordnung unter sein trauriges Schicksal. Hunger, Qual, Elend waren ihm auf seinen Wegen genug verstreut. Er ist seinen Weg gegangen wie seine Pilger. Der junge Feuerbrand hatte das Kreuz auf sich genommen wie der weise Sossima, wie der alles wissende Pilger im Jüngling, Schritt für Schritt alle Erfahrungen sammelnd und in einem weiten Bogen den ganzen Lebenskreis umfassend, um wissend zu werden, das Leben auszutasten und nach Wahrheit zu suchen, nach dem neuen Wort.

Wer solche Gegensätze in sich birgt und solche Gegensätze zu überbrücken genötigt ist, der muß tief schürfen, um einen Ruhepunkt zu gewinnen. Ihm bleibt keine Mühe, keine Pein des Lebens erspart, er kann am kleinsten Wesen nicht vorübergehen, ohne es auf seine Formel zu prüfen. Alles in ihm drängt zu einer einheitlichen Auffassung des Lebens, damit er in seinem ewigen Schwanken, in dieser Zwiespältigkeit, in seiner Unrast Sicherheit und Ruhe finden kann.

Die Wahrheit, das war es, was sich ihm erschließen mußte, wenn er zur Ruhe kommen sollte. Der Weg aber ist dornenvoll, bringt große Arbeit, große Mühe, ein gewaltiges Training des Geistes und der Gefühle. Kein Wunder, daß dieser rastlose Sucher der Natur dem wahren Leben, der Logik des Lebens, des Zusammenlebens erheblich näher kam als andere, denen Stellung zu nehmen viel leichter geworden war.

Aus dürftigen Verhältnissen war er gekommen, und als er starb, da folgte im Geiste ganz Rußland seinem Trauerzug. Er, der Schaffensfreudige, der Lebensmutige, der immer Trost für sich und seine Freunde wußte, er war der Arbeitsunfähigste unter allen, war mit der schrecklichen Krankheit der Epilepsie behaftet, die ihn für Tage, für Wochen oft an jedem Vorwärtsschreiten gehindert hat. Der Staatsverbrecher, der vier Jahre lang an seinen Beinen in Tobolsk Ketten trug, der weitere vier Jahre als Sträfling in einem sibirischen Linienregiment Dienste versah, dieser edle, unschuldige Dulder zieht aus seinem Kerker mit den Worten und dem Gefühl im Herzen: »Meine Strafe war gerecht, denn ich habe gegen die Regierung böse Absichten gehabt, aber es ist schade, daß ich jetzt für Theorien, für eine Sache leiden muß, die nicht mehr die meinen sind.« Ganz Rußland aber leugnete seine Schuld und begann zu ahnen, daß ein Wort, ein Ding sein eigenes Gegenteil bedeuten kann.

Auch der Gegensätze in seinem Vaterlande waren nicht wenige. Als Dostojewski in die Öffentlichkeit trat, gärte es gewaltig, und insbesondere die Frage der Bauernbefreiung regte alle Gemüter auf. Dostojewski trieb es immer zu den »Armen und Erniedrigten«, zu den Kindern, zu den Leidenden. Und seine Freunde wissen viel davon zu erzählen, wie er sich leicht mit jedem Bettler befreundete, der etwa als Patient zu einem seiner Freunde kam, wie er ihn in seine Stube zog, um ihn zu bewirten, ihn kennenzulernen. In der Katorga war es seine stärkste Pein, daß ihn die anderen Sträflinge als den Edelmann mieden, und es war seine immerwährende Sehnsucht, den Sinn der Katorga, ihr inneres Gesetz für sich zu zergliedern, zu erkennen und die Grenzen zu gewinnen, innerhalb deren ihm Verständnis und Freundschaft mit den andern möglich würde. Er hat übrigens seine Verbannung dazu benützt — wie es ja großen Männern eigen ist — auch in kleinen, in drückenden Verhältnissen das Feingefühl für seine Umgebung zu gewinnen, seinen Scharfblick zu üben, um den Zusammenhang des Lebens zu finden, um für den Begriff Mensch eine seelische Unterlage zu schaffen, um in einem synthetischen Akt gegenüber den Gegensätzen, die ihn erschütterten und zu verwirren drohten, einen Halt zu erraffen.

Wonach es ihn drängte in dieser Unsicherheit seiner seelischen Widersprüche — der bald Rebell, bald gehorsamer Knecht war, den es zu Abgründen zog, vor denen er erschauerte —, das war das Auffinden einer bündigen Wahrheit. Und da machte er kühn den Irrtum zu seinem Wegführer. Sein Grundsatz war schon lange, bevor er ihn ausgesprochen hatte, durch die Lüge der Wahrheit näher zu kommen, da wir ja die Wahrheit nie völlig erkennen können und immer mit der kleinsten Lüge rechnen müssen. So erwuchs er zum Feinde des »Westens«, dessen tiefster Kern sich ihm enthüllte im Streben der europäischen Kultur, durch die Wahrheit zur Lüge zu kommen. Seine Wahrheit konnte er nur finden durch Vereinigung der in ihm tobenden Gegensätze, die sich auch in seinen Schöpfungen immer wieder äußerten und ihn wie seine Helden zu zersplittern drohten. So empfing er die Weihe als Dichter und Prophet und ging hin, der Eigenliebe eine Grenze zu setzen. Die Grenze des Machtrausches fand er in der Nächstenliebe. Was ihn selbst ursprünglich getrieben hatte, war unverfälschtes Streben nach Macht, nach Herrschaft, und selbst in seinem Versuch, das Leben in eine einzige Formel zu bannen, steckt noch viel von diesem Drang nach Überlegenheit. In allen Taten seiner Helden finden wir diesen Auftakt, der sie jagt, sich über alle anderen zu erheben, Napoleonswerke zu verrichten, sich bis an die Grenze des Abgrunds zu bewegen, ja über ihn hinaus zu hängen, auf die Gefahr hin, in die Tiefe zu stürzen und zu zerschmettern. Er selbst sagt von sich: »Ich bin in unerlaubter Weise ehrgeizig.« Aber es war ihm gelungen, seinen Ehrgeiz für die Gesamtheit nutzbar zu machen. Und also verfuhr er auch mit seinen Helden: Er ließ sie alle wie toll die Grenze überschreiten, die sich ihm aus der Logik des Zusammenlebens erschlossen hatte. Er trieb sie mit dem Stachel des Ehrgeizes, der Eitelkeit und der Eigenliebe bis in die äußersten Sphären, hetzte ihnen dann aber den Chor der Eumeniden an den Hals und jagte sie zurück bis an die Grenze, die ihm durch die menschliche Natur gegeben erschien, um sie dort in Harmonie ihre Hymne singen zu lassen. Es gibt bei Dostojewski kaum ein Bild, das so oft wiederkehrt als das Bild von der Grenze, gelegentlich auch das Bild von der Wand. Von sich sagt er: »Ich liebe es unsinnig, bis an die Grenze des Realen vorzudringen, wo bereits das Phantastische beginnt.« Seine Anfälle schildert er so, daß ein Wonnegefühl ihn verlockt, bis an die äußerste Grenze des Lebensgefühls zu gelangen, wo er sich Gott nahe fühlt, so nahe, daß kaum ein Schritt mehr nötig wäre, um ihn vom Leben zu scheiden. Bei jedem seiner Helden kehrt dieses Bild wieder und immer wieder mit tiefer Bedeutung. Wir vernehmen sein neues messianisches Wort: Die große Synthese aus Heldentum und Nächstenliebe ist gelungen. An dieser Grenze schien ihm das Los seiner Helden, ihr Schicksal zu enden. Dorthin lockte es ihn, dort ahnte er die köstlichste Erfüllung der Menschenwürde in der Mitmenschlichkeit, und diese Grenze zog er äußerst scharf, mit einer Schärfe wie selten jemand vor ihm. Dieses sein Ziel ward für seine Gestaltungskraft und seine ethischen Standpunkte von ganz besonderer Bedeutung.

Immer wieder zog es ihn und seine Helden bis zur Peripherie des Erlebens, wo er dann tastend und zögernd die Verschmelzung mit der Allmenschheit in tiefer Demut vor Gott, Kaiser, Rußland vollzieht. Das Gefühl, das ihn bannte — man könnte es das Grenzgefühl nennen, ein Grenzgefühl, das ihn Halt machen heißt, das sich bei ihm bereits zum sichernden Schuldgefühl umwandelte — seine Freunde berichten oft darüber — für das er aber keine Ursache weiß, und das er eigenartig mit seinen epileptischen Anfällen in Zusammenhang brachte. Die Hand Gottes langte abwehrend herüber, wenn der Mensch in verstiegener Eitelkeit die Grenze des Gemeinschaftsgefühls überschreiten wollte, warnende Stimmen wurden laut und mahnten zur Einkehr.

Raskolnikow, der rüstig in Gedanken an seinem Mord arbeitet, der in dem Impuls, daß alles erlaubt sei, wenn man zu den auserlesenen Naturen gehöre, bereits an das scharf geschlif-gene Beil denkt, liegt monatelang im Bett, bevor er die Grenze überschreitet. Und als er dann, das Beil unter seinem Rock versteckt, die letzte Treppe hinaufsteigt, um den Mord zu vollführen, spürt er Herzklopfen. In diesem Herzklopfen spricht die Logik des menschlichen Lebens, drückt sich das feine Grenzgefühl Dostojewskis aus.

Es gibt eine Anzahl von Schöpfungen Dostojewskis, in denen nicht isoliertes Heldentum über die Linie der Nächstenliebe hinaustreibt, wo umgekehrt sich der Mensch aus seiner Kleinheit erhebt, um in fruchtbarem Heldentum zu enden. Ich habe die Vorliebe des Dichters für das Kleine, Unbedeutende bereits erwähnt. Hier wird zum Helden der Mann im Keller, der Mann aus dem grauen Alltag, eine Dirne, ein Kind, die plötzlich alle riesenhaft zu wachsen beginnen, bis sie jene Grenze des allmenschlichen Heldentums erreichen, zu dem sie Dostojewski führen will.

Aus seinem ganzen Kindheitsleben war ihm der Begriff des Erlaubten und Unerlaubten, der Grenze, deutlich nahegebracht worden. Es war in seinem frühen Mannesalter nicht anders. Gehemmt war er durch seine Krankheit und wurde frühzeitig in seinem Elan geschädigt durch den Gang zur Hinrichtung und durch die Verbannung. In seiner Kindheit scheint ein strenger pedantischer Vater bereits mit dem Mutwillen, mit der Ungebrochenheit seines Feuergeistes gerungen und den Sohn allzu scharf auf die Grenze verwiesen zu haben.

Ein kurzes Bruchstück, »Petersburger Träume«, stammt aus früher Zeit und läßt uns schon aus diesem Grunde eine deutliche Linienführung erwarten. Wenn etwas folgerichtig aus der Entwicklung einer Künstlerseele erfaßt werden kann, so muß es die Linie betreffen, die von früheren Arbeiten, Entwürfen, Plänen zu den späteren Ausgestaltungen seiner Schöpferkraft führt. Da gilt es aber vor allem festzuhalten, daß sich die Bahn des Kunstschaffens abseits von dem Getümmel der Welt bewegt. Und wir können bei jedem Künstler eine Abbiegung, ein Halt! oder eine Umkehr voraussetzen, sobald die gesellschaftlich durchschnittlichen Erwartungen an ihn herantreten. Er, der sich aus dem Nichts, oder sagen wir aus seiner bevorzugten Anschauung von den Dingen eine Welt erschafft und uns anstatt einer Antwort im Sinne des praktischen Lebens die Verblüffung einer Kunstschöpfung zuteil werden läßt, zeigt sich dem Leben abgeneigt und seinen Forderungen. »Nun, ich bin ja ein Phantast und Mystiker!« belehrt uns Dostojewski. —

Es wird sich ungefähr ein Bild seines Angriffs gewinnen lassen, sobald wir erfahren, an welchem Punkte des Handelns Dostojewski stehenbleibt. In der obigen Skizze spricht er deutlich genug. »Als ich an die Newa herantrat, blieb ich einen Augenblick stehen und warf einen Blick den Fluß entlang, in die dunstige, frostig-trübe Ferne, wo der letzte Purpur der Dämmerung verglomm.« Es war, als er nach Hause eilte, um dort als Säkularmensch von Schillerschen Heldinnen zu träumen. »Die wirkliche Amalie aber habe ich ebenfalls nicht bemerkt; sie lebte ganz in meiner Nähe ...« Lieber wollte er trunken leiden und diese Leiden süßer empfinden als alle Genüsse der Welt, »denn hätte ich die Amalie geheiratet, ich wäre sicher unglücklich«. Ist es nicht die einfachste Sache der Welt? Man ist ein Dichter, träumt in der gehörigen Distanz vom Weltgetriebe, bleibt einen Augenblick stehen, findet die Süßigkeit geträumten Leides unübertrefflich und weiß, »wie die Wirklichkeit jede ideale Höhe vernichtet. Ich will doch auf den Mond reisen!« Das aber heißt: allein bleiben, sein Herz an nichts Irdisches hängen!

Und so wird des Dichters Erdenwallen zu einem Protest gegen die Wirklichkeit mit ihren Forderungen. Anders wie beim Idiot, anders wie bei jenem Kranken, in dem »weder Protest, noch Stimme war«. Vielmehr: der wußte nur nicht, daß seine Übung im Ertragen alles Elends ihn auszeichnen sollte. Nun, als man ihn durch Quälereien und Vorwürfe aus seiner Bahn drängte, da entdeckte er den Säkularmenschen in sich, den Umstürzler und Revolutionär Garibaldi. Da war es gesagt, was die anderen nie verstanden hatten: Die Demut und Unterwerfung bedeuten keinen Abschluß, sie sind immer die Revolte, denn sie deuten auf die zu überwindende Distanz. — Tolstoi wußte auch um dieses Geheimnis und hat es oft tauben Ohren gepredigt.

Aber es kann in der Zeitung stehen und niemand weiß etwas davon, wenn es sich um ein wirkliches Geheimnis handelt. Niemand wußte es, an wem sich Harpagon Solowjew rächen wollte, der hungerte und im Elend starb und ein Vermögen von 170 000 Rubel in seinen schmutzigen Papieren verbarg. Wie mag er sich innerlich gefreut haben, wenn er sich traurig und hilflos seiner Katze, seiner Köchin, seiner Quartierfrau verschloß und alles schuldig blieb! Er hatte sie in der Hand, er zwang sie alle zum Betteln, sie alle, die nur das Geld als Macht kannten und anbeteten. Freilich, ihm erwuchs daraus eine sonderbare Verpflichtung, eine methodische Vergewaltigung seines Lebens. Er mußte selbst hungern und darben, um seinen Anschlag durchzuführen. »Er ist über alle Wünsche erhaben.« Wie? Dazu müßte man verrückt sein? Nun, Solowjew bringt auch dieses Opfer. Denn nun kann er in voller Unverantwortlichkeit seine Verachtung der Menschheit und ihrer eingebildeten Glücksgüter zeigen und er kann jeden, der ihm nahe kommt, quälen. Alles hat er in seinen Händen, was ihm den Weg in die beste Gesellschaft ebnet. Da bleibt er einen Augenblick stehen, wirft seinen Zauberstab in die Schmutzkiste und fühlt sich groß und erhaben über alle Menschen.

Das scheint uns die stärkste Linie im Leben Dostojewskis zu sein, und alle seine großartigen Schöpfungen sollten ihm auf diesem Wege erstehen: die Tat ist unnütz, verderblich oder verbrecherisch; das Heil liegt nur in der Unterwerfung, wenn sie den heimlichen Genuß der Überlegenheit über andere verbürgt.

Von allen Biographen, die sich eifrig mit Dostojewski beschäftigen, wird eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen berichtet und gedeutet, die er selbst in den Memoiren aus dem Totenhaus erzählt. Zum besseren Verständnis trägt einiges aus der Stimmung bei, in der ihm diese Erinnerung aufstieg.

Als er bereits daran verzweifelt hatte, den Anschluß an seine Kameraden im Gefangenenhaus zu finden, wirft er sich resigniert auf sein Lager und überdenkt seine ganze Kindheit, seine ganze Entwicklung und seinen ganzen Lebensinhalt. Da bleibt seine Aufmerksamkeit plötzlich an folgender Erinnerung haften: Er entfernte sich einst etwas zu weit vom Gute seines Vaters, ging querfeldein, als er plötzlich erschrocken stehen blieb, da er einen Ruf vernommen hatte: »Der Wolf kommt!« Rasch eilte er zurück in die schützende Nähe des Vaterhauses und erblickte auf dem vorliegenden Acker einen Bauern, zu dem er sich flüchtete. Weinend und ängstlich umklammerte er dessen Arm und berichtete von dem Schrecken, der ihm widerfahren war. Der Bauer machte mit seinen Fingern das Kreuz über den Knaben, tröstete ihn und versprach, er werde ihn nicht vom Wolf fressen lassen. Diese Erinnerung wird vielfach so aufgefaßt, als ob sie Dostojewskis Bund mit dem Bauerntum charakterisieren sollte, mit dem Bauerntum und der Religion des Bauerntums zugleich. Es ist aber vielmehr der Wolf, der hier in Trage kommt, der Wolf, der ihn zu den Menschen zurücktreibt. Dieses Erlebnis wurde als symbolische Darstellung seines ganzen Strebens festgehalten, weil in ihm die Richtungslinie seiner Aktivität lag. Was ihn erzittern machte vor dem isolierten Heldentum, glich dem Wolf aus seinem Erlebnis. Der trieb ihn zurück zu den Armen und Erniedrigten, dort versuchte er im Zeichen des Kreuzes den Anschluß zu finden, dort wollte er helfen. Und er spricht diese Gesinnung aus, wenn er sagt: »Meine ganze Liebe gehört dem Volk, meine ganze Gesinnung ist die des Allmenschentums.«

Wenn wir noch hervorheben müssen, daß Dostojewski ein Russe und Gegner des »Westlertums« war, daß in ihm der panslavistische Gedanke feste Wurzel und Boden gefaßt hatte, so steht dies auch durchaus nicht im Widerspruch mit dem Geist, der durch Irrtum zur Wahrheit reisen wollte.

In einer seiner größten Kundgebungen, in der Rede zu Puschkins Gedächtnis, versuchte er dennoch, den Panslavisten zugerechnet, die Synthese herzustellen zwischen den Westlern und den Russophilen. Das Ergebnis war am selben Abend ein glänzendes. Anhänger beider Parteien stürzten auf ihn zu, umarmten ihn und erklärten sich mit seinem Standpunkt einverstanden. Aber diese Einigkeit dauerte nicht lange. Es lag noch zuviel Schlaf auf den Lidern.

Wie Dostojewski die Sehnsucht seines Herzens, die Vollendung des Allmenschentums — eine Aufgabe, die er dem russischen Volk vor allem zuweist — intensiv verfolgt und in die Masse tragen will, so formt sich ihm das greifbare Symbol der Nächstenliebe, dann liegt ihm, der sich selbst und die anderen erlösen wollte, der Begriff des Heilandes, des russischen Christus, allmenschlich und weltlicher Macht abgewandt, ganz nahe. Sein Glaubensbekenntnis war einfach: »Für mich ist Christus die schönste, die erhabenste Person in der ganzen Weltgeschichte.« Hier enthüllt uns Dostojewski in unheimlicher Schärfe sein leitendes Ziel. So hat er seine Anfälle der Epilepsie geschildert, wie er unter Wonnegefühl seinen Aufstieg bewerkstelligte, zur ewigen Harmonie gelangte und sich der Gottheit nahe fühlte. Sein Ziel war: jederzeit bei Christus zu sein, seine Wunden zu tragen und seine Aufgabe zu erfüllen. Dem isolierten Heldentum, das er schärfer als jeder andere als krankhaften Eigendünkel ansprach, der Eigenliebe im Gegensatz zum Gemeinsinn, der ihm aus der Logik des Zusammenlebens, aus der Nächstenliebe entgegenquoll, diesem Heldentum trat er entgegen: »Beuge dich, stolzer Mensch!« Dem Resignierten aber, der gleichfalls in seiner Eigenliebe verletzt nach Befriedigung derselben strebte, rief er zu: »Arbeite, müßiger Mensch!« Und wer ihn auf die menschliche Natur verwies und ihre scheinbar ewigen Gesetze, um ihn zu erschüttern, dem hielt er entgegen: »Die Biene und die Ameise, die kennen ihre Formel, der Mensch aber kennt seine Formel nicht!« Wir müssen aus dem Wesen Dostojewskis ergänzen: Der Mensch muß seine Formel suchen, und er findet sie in der Hilfsbereitschaft für andere, in der Hingabe an das Volk.

So war Dostojewski ein Rätsellöser geworden und ein Gottsucher und hat seinen Gott stärker gefühlt als die anderen Halbschläfer und Träumer. »Ich bin kein Psychologe«, sagt er einmal, »ich bin ein Realist«, und trifft damit den Punkt, der ihn von allen Dichtern der Neuzeit und von allen Psychologen am schärfsten unterscheidet. Er stand mit dem Urgründe des gesellschaftlichen Lebens, mit der einzigen Realität, die wir nicht ganz kennen, aber zu ahnen vermögen, mit dem Gemeinschaftsgefühl, im innigen Zusammenhange. Und darum durfte er sich einen Realisten nennen.

Nun zur Frage, wodurch die Gestalten Dostojewskis auf uns eine so starke Wirkung ausüben. Die wesentliche Grundlage für ihre Wirksamkeit auf uns liegt in ihrer geschlossenen Einheit. Sie können einen Helden Dostojewskis an welchem Punkte immer fassen und untersuchen, Sie finden das gesamte Rüstzeug seines Lebens und Strebens immer wieder beisammen. Wenn wir vergleichen wollten, müßten wir bis zur Musik gehen, wo wir ähnliches finden, daß in einer Melodie im Laufe einer Harmonie sämtliche Strömungen, Bewegungen immer wieder zu finden sind. Ebenso bei Dostojewskis Gestalten. Raskolnikow ist derselbe, als er im Bette lag und über seinen Mord nachbrütete, als er mit Herzklopfen die Stiege hinaufging, und er ist derselbe, als er den Trunkenbold unter den Rädern des Wagens hervorholte und mit seinen letzten Kopeken dessen darbende Familie unterstützte. Diese Einheitlichkeit im Aufbau ist der Grund der starken Wirkung, und wir tragen unbewußt mit jedem Namen seiner Helden ein festgefügtes, plastisches Bild in uns, als ob es aus unvergänglichem Erz gemeißelt wäre, nicht anders als die biblischen Gestalten, als die homerischen Helden und als die Helden der griechischen Tragödien, deren Namen nur zu erklingen brauchen, um den ganzen Komplex ihrer Wirkungen in unserer Seele auszulösen.

Noch liegt eine zweite Schwierigkeit für unser Verständnis der Wirkung Dostojewskis verborgen. Aber die Vorbedingungen zur Lösung dieser Schwierigkeit sind bereits gegeben. Es ist die doppelte Bezogenheit jeder Figur auf zwei außerordentlich fixierte Punkte, die wir fühlen. Jeder Held Dostojewskis bewegt sich mit Sicherheit im Raum, der einerseits abgegrenzt wird durch das isolierte Heldentum, wo der Held sich in einen Wolf verwandelt, andererseits durch die Linie, die Dostojewski als Nächstenliebe so scharf gezogen hat. Diese doppelte Bezogenheit gibt jeder seiner Figuren einen so sicheren Halt und einen so festen Standpunkt, daß sie unerschütterlich in unserem Gedächtnis und in unserem Gefühl ruhen.

Noch ein Wort über Dostojewski als Ethiker. Er war durch die Umstände gedrängt, durch die Gegensätze in seinem eigenen Wesen, die er vereinen mußte, durch die großen Gegensätze in seiner Umgebung, die er zu überbrücken wagte, zu Formeln zu kommen, die sein tiefstes Sehnen nach einer aktiven Betätigung der Nächstenliebe umschlossen und förderten. So kam er auch zu jener Formel, die wir weit über den kategorischen Imperativ Kants stellen dürfen, »daß jeder teilhaftig ist an der Schuld des anderen«. Wir fühlen heute mehr als je, wie tief diese Formel geht und wie innig sie mit den sichersten Realitäten des Lebens in Zusammenhang steht. Wir können diese Formel leugnen, sie wird immer wieder hervortauchen und uns Lügen strafen. Sie löst aber auch eine unglaublich stärkere Aktivität aus als etwa der Begriff der Nächstenliebe, der oftmals mißverstanden oder in Eitelkeit geformt wird oder als der kategorische Imperativ, der auch in der Isoliertheit des persönlichen Strebens seine Geltung behält. Wenn ich teilhaftig bin an jeder Schuld des Nächsten und an der Schuld aller, dann trage ich ewig eine Verpflichtung, die mich treibt, die mich haftbar macht, die mir zu zahlen gebietet.

So steht Dostojewski als Künstler und als Ethiker groß und unerreicht vor unseren Augen.

Was er als Psychologe geleistet hat, ist heute noch unausgeschöpft. Wir wagen es zu behaupten, daß sein psychologisches Späherauge tiefer drang, weil er mit der Natur vertrauter war als jene Psychologie, die sich aus dem Begrifflichen gestaltet. Und wer Betrachtungen angestellt hat, wie es Dostojewski tat, über die Bedeutung des Lachens, über die Möglichkeit, einen Menschen besser aus seinem Lachen zu erkennen wie aus seiner ganzen Lebenshaltung, wer so weit gekommen ist, daß er den Begriff der zufälligen Familie findet, wo jedes Mitglied isoliert für sich lebt und in die Kinder die Tendenz zur weiteren Isolierung, zur Eigenliebe pflanzt, der hat mehr gesehen, als man heute noch von einem Psychologen verlangen und erwarten kann. Wer gesehen hat, wie Dostojewski in seinem »Schüler« schildert, daß der Knabe, unter seiner Decke eingehüllt, alle Phantasien ausströmen läßt in dem einen Begriff: Macht!, wer die Entstehung von Gemütskrankheiten im Leben zum Zwecke der Revolte so fein und treffend geschildert hat, wer in der menschlichen Seele die Neigung zur Despotie so erkannt hat wie Dostojewski, der darf heute noch als unser Lehrer gelten, als den ihn auch Nietzsche gefeiert hat. Sein Verständnis und seine Erörterungen über den Traum sind heute noch nicht überholt, und sein Begriff, daß niemand handelt und denkt, ohne daß ein Ziel, ein Finale vor seinen Augen steht, trifft mit den modernsten Leistungen der Individualpsychologie zusammen.

So sind es die verschiedensten Gebiete, auf denen uns Dostojewski ein teurer und großer Lehrer geworden ist. Die Realität des Lebens macht es, daß sie auf uns wirkt wie ein Strahl, der das Auge des Schläfers trifft. Der Schlafende reibt sich die Augen, wendet sich um und weiß vom ganzen Vorgang nichts. Dostojewski hat wenig geschlafen und hat viele erweckt. Seine Gestalten, seine Ethik und seine Kunst führen uns tief in das Begreifen des menschlichen Zusammenlebens.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 10:00:46 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.12.2009 
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