6. Begabung.


Von den seelischen Erscheinungen, die uns die Möglichkeit geben, Schlüsse über das Wesen eines Menschen zu ziehen und Urteile darüber abzugeben, haben wir bisher eine außer acht gelassen, die in das Gebiet des menschlichen Denkens fällt, die sein Erkenntnisvermögen betreffen. Wir haben wenig Wert darauf gelegt, was ein Mensch von sich denkt oder aussagt, in der Überzeugung, daß jeder fehlgehen kann und jeder sich durch mannigfache Interessen und Erwägungen egoistischer, moralischer Natur u. dgl. bewogen fühlt, sein seelisches Bild dem andern gegenüber zu retuschieren. Trotzdem ist es uns erlaubt und möglich, auch aus gewissen Denkvorgängen und deren sprachlichem Ausdruck, wenn auch in beschränktem Ausmaß, Schlüsse zu ziehen. Wir können, wenn wir uns ein Urteil über einen Menschen machen wollen, das Gebiet des Denkens und Sprechens von unserer Betrachtung nicht ausschließen.

Nun gibt es über die Urteilsfähigkeit eines Menschen — man pflegt sie allgemein mit »Begabung« zu bezeichnen — eine Unzahl von Beobachtungen, Auseinandersetzungen, Prüfungen, die insbesondere von Versuchen her bekannt sind, die Intelligenz von Kindern und Erwachsenen festzustellen. Ich meine die Begabtenprüfungen. Bisher sind diesen Prüfungen Erfolge versagt geblieben. Denn wenn sich eine Anzahl von Schülern dazu meldet, so erfährt man als Ergebnis regelmäßig das, was der Lehrer auch ohne Prüfung bereits festgestellt hat, welcher Umstand anfangs von den Experimentalpsychologen mit besonderem Stolz aufgenommen wurde, obwohl damit eigentlich zutage trat, daß diese Prüfungen bis zu einem gewissen Grade überflüssig sind. Ein anderes Bedenken gegen die Vornahme dieser Prüfungen ist ferner der Umstand, daß sich die Denk- und Urteilsfähigkeit der Kinder nicht gleichmäßig entwickelt, so daß bei manchen Kindern, bei denen die Begabtenprüfung ein schlechtes Ergebnis hatte, nach einigen Jahren die Begabung plötzlich eine überaus gute Entwicklung zeigte. Ein weiteres Moment ist, daß Großstadtkinder oder Kinder aus gewissen Kreisen, die ein breiteres Leben führen, durch ihre Schlagfertigkeit, die bloß einer gewissen Übung entspringt, eine größere Begabung vortäuschen und dadurch andere Kinder in den Schatten stellen, die nicht über einen solchen Fond von Vorbereitungen verfügen. Es ist bekannt, daß bürgerliche Kinder in der Regel mit acht bis zehn Jahren über eine größere Schlagfertigkeit verfügen als proletarische. Das spricht aber nicht für eine größere Begabung der ersteren, sondern die Ursache liegt allein in der Vorgeschichte.

Man ist somit mit den Begabtenprüfungen nicht weit gekommen, besonders wenn man die traurigen Resultate ins Auge faßt, die sich in Berlin und Hamburg gezeigt haben, wo jene Kinder, die bei der Begabtenprüfung gut entsprochen hatten, später in auffallend großer Zahl versagten. Diese Erscheinung spricht dafür, daß man in der Begabtenprüfung keine sichere Gewähr für eine gute Entwicklung des Kindes hat. Hingegen haben sich die individualpsychologischen Untersuchungen weit besser bewährt, weil sie nicht nur darauf ausgehen, einen Entwicklungsstandpunkt festzustellen, sondern auch seine Gründe, die Ursachen zu erfassen, wenn nötig, Mittel zur Abhilfe in die Hand zu geben und weil die Individualpsychologie die Denk- und Urteilsfähigkeit des Kindes nicht aus seinem Seelenleben herauslöst, sondern sie im Zusammenhang damit betrachtet.


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