3. Die Aufgaben des Lebens


Hier ist der Punkt, an dem sich die Individualpsychologie mit der Soziologie berührt. Es ist unmöglich, ein richtiges Urteil über ein Individuum zu gewinnen, wenn man nicht die Struktur seiner Lebensprobleme kennt und die Aufgabe, die ihm durch sie gesetzt ist. Erst aus der Art, wie sich das Individuum zu ihnen stellt, was in ihm dabei vorgeht, wird uns sein Wesen klar. Wir haben festzustellen, ob es mitgeht, oder ob es zögert, halt macht, sie zu umschleichen trachtet, Vorwände sucht und schafft, ob es die Aufgabe teilweise löst, über sie hinauswächst, oder sie ungelöst läßt, um auf gemeinschaftsschädlichem Wege den Schein einer persönlichen Überlegenheit zu gewinnen.

Seit jeher habe ich daran festgehalten, alle Lebensfragen den drei großen Problemen unterzuordnen: dem Problem des Gemeinschaftslebens, der Arbeit und der Liebe. Wie leicht ersichtlich, sind es keine zufälligen Fragen, sondern sie stehen unausgesetzt vor uns, drängend und fordernd, ohne irgend ein Entkommen zu gestatten. Denn all unser Verhalten zu diesen drei Fragen ist die Antwort, die wir Kraft unseres Lebensstils geben. Da sie untereinander eng verbunden sind, und zwar dadurch, daß alle drei Probleme zu ihrer richtigen Lösung ein gehöriges Maß von Gemeinschaftsgefühl verlangen, ist es begreiflich, daß sich der Lebensstil jedes Menschen mehr oder weniger deutlich in der Stellung zu allen drei Fragen spiegelt. Weniger deutlich in der, die ihm gegenwärtig ferner liegt oder günstigere Umstände bietet, deutlicher, sofern das Individuum strenger auf seine Eignung geprüft wird. Probleme wie Kunst und Religion, die die durchschnittliche Lösung der Probleme überragen, haben Anteil an allen drei Fragen. Diese ergeben sich aus der untrennbaren Bindung des Menschen an die Notwendigkeit der Vergesellschaftung, der Sorge für den Unterhalt und der Sorge für Nachkommenschaft. Es sind Fragen unseres Erdendaseins, die sich vor uns auftun. Der Mensch als Produkt dieser Erde in seiner kosmischen Beziehung konnte sich nur entwickeln und bestehen in Bindung an die Gemeinschaft, bei körperlicher und seelischer Vorsorge für sie, bei Arbeitsteilung und Fleiß und bei zureichender Vermehrung. In seiner Evolution wurde er körperlich und seelisch dazu ausgestattet durch das Streben nach besserer körperlicher Eignung und besserer seelischer Entwicklung. Alle Erfahrungen, Traditionen, Gebote und Gesetze waren schlecht oder recht Versuche, dauernd oder hinfällig, in dem Streben der Menschheit nach Überlegenheit über die Schwierigkeiten des Lebens. In unserer gegenwärtigen Kultur sehen wir die bisher erreichte, freilich unzulängliche Stufe dieses Strebens. Aus einer Minussituation zu einer Plussituation zu gelangen, zeichnet die Bewegung des einzelnen wie der Masse aus und gibt uns das Recht, von einem dauernden Minderwertigkeitsgefühl beim einzelnen wie bei der Masse zu sprechen. Im Strom der Evolution gibt es keinen Ruhezustand. Das Ziel der Vollkommenheit zieht uns hinan.

Sind aber diese drei Fragen mit ihrer gemeinschaftlichen Basis des sozialen Interesses unausweichlich, dann ist es klar, daß sie nur von Menschen gelöst werden können, die ein zulängliches Maß von Gemeinschaftsgefühl ihr eigen nennen. Es ist leicht zu sagen, daß bis auf den heutigen Tag wohl die Eignung jedes einzelnen zur Erlangung dieses Maßes vorhanden ist, daß aber die Evolution der Menschheit noch nicht genug vorgeschritten ist, um Gemeinschaftsgefühl dem Menschen so weit einzuverleiben, daß es sich automatisch auswirkt, gleich Atmen oder gleich dem aufrechten Gang. Es ist für mich keine Frage, daß in einer — vielleicht sehr späten — Zeit diese Stufe erreicht sein wird, falls die Menschheit nicht an dieser Entwicklung scheitert, wofür heute ein leichter Verdacht vorhanden ist.

Auf die Lösung dieser drei Hauptfragen zielen alle anderen Fragen hin, ob es sich um die Fragen der Freundschaft, der Kameradschaft, des Interesses für Stadt und Land, für Volk und für die Menschheit handelt, um gute Manieren, um Annahme einer kulturellen Funktion der Organe, um Vorbereitung für die Mitarbeit, im Spiel, in der Schule und in der Lehre, um Achtung und Schätzung des anderen Geschlechts, um die körperliche und geistige Vorbereitung zu allen diesen Fragen sowie um die Wahl eines geschlechtlichen Partners. Diese Vorbereitung geschieht richtig oder unrichtig vom ersten Tag der Geburt des Kindes an durch die Mutter, die in der evolutionären Entwicklung der Mutterliebe der von Natur aus geeignetste Partner im mitmenschlichen Erlebnis des Kindes ist. Von der Mutter, die als erster Mitmensch an der Pforte der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls steht, gehen die ersten Impulse für das Kind aus, sich als ein Teil des Ganzen ins Leben einzufinden, den richtigen Kontakt zur Mitwelt zu suchen.

Von zwei Seiten können Schwierigkeiten entstehen. Von Seiten der Mutter, wenn sie unbeholfen, schwerfällig, unbelehrt dem Kinde den Kontakt erschwert, oder wenn sie sorglos ihre Aufgabe allzu leicht nimmt. Oder, was am häufigsten zutrifft, wenn sie das Kind von jeder Mithilfe und jeder Mitarbeit entbindet, es mit Liebkosungen und Zärtlichkeiten überhäuft, für das Kind ständig handelt, denkt und spricht, ihm jede Entwicklungs­möglichkeit unterbindet und es an eine imaginäre Welt gewöhnt, die nicht die unsere ist, in der alles von anderen für das verwöhnte Kind getan wird. Eine verhältnismäßig kurze Zeitstrecke genügt, um das Kind zu verleiten, sich immer im Mittelpunkt des Geschehens zu sehen und alle anderen Situationen und Menschen als feindlich zu empfinden. Dabei darf die Vielfältigkeit der Ergebnisse nicht unterschätzt werden, die aus dem freien Ermessen und der, Mitwirkung der freien schöpferischen Kraft des Kindes erfließen. Das Kind gebraucht die Einflüsse von außen, um sie in seinem Sinne zu verarbeiten. Im Falle der Verwöhnung durch die Mutter lehnt das Kind die Ausbreitung seines Gemeinschaftsgefühls auf andere Personen ab, trachtet sich dem Vater, den Geschwistern und anderen Personen zu entziehen, die ihm nicht ein gleiches Maß von Wärme entgegenbringen. Im Training dieses Lebensstils, in der Meinung vom Leben, als ob alles leicht, nur durch die Mithilfe von außen, gleich im Beginn zu erreichen sei, wird so das Kind später für die Lösung der Lebensfragen mehr oder weniger ungeeignet und erlebt, wenn diese herantreten, unvorbereitet im Gemeinschaftsgefühl, das sie verlangen, eine Schockwirkung, die in leichten Fällen vorübergehend, in schweren dauernd zur Verhinderung einer Lösung beiträgt. Einem verwöhnten Kind ist jeder Anlaß recht, die Mutter mit sich zu beschäftigen. Es erreicht dieses sein Ziel der Überlegenheit am leichtesten, wenn es der Aufnahme einer Kultivierung seiner Funktionen Widerstand leistet, sei es im Trotz — eine Stimmungslage, die trotz der individualpsychologischen Aufklärung neuerdings von Charlotte Bühler als ein natürliches Entwicklungsstadium betrachtet wird —, sei es in mangelhaftem Interesse, das immer auch als ein Mangel an sozialem Interesse zu verstehen ist. Andere krampfhafte Versuche, die Erklärung von Kinderfehlern, wie Stuhlverhaltung oder Bettnässen, von der Sexuallibido oder von sadistischen Trieben abzuleiten und zu glauben, daß damit primitivere oder gar tiefere Schichten des Seelenlebens aufgedeckt sind, verkehren die Folge zur Ursache, da sie die Grundstimmung solcher Kinder, ihr übertriebenes Zärtlichkeitsbedürfnis, verkannt haben, fehlen auch darin, daß sie die evolutionäre Organfunktion so ansehen, als ob sie stets von neuem erworben werden müßte. Die Entwicklung dieser Funktionen ist ebenso menschliches Naturgebot und menschlicher Naturerwerb wie der aufrechte Gang und das Sprechen. In der imaginären Welt der verwöhnten Kinder können sie freilich, ebenso wie das Inzestverbot, als Zeichen des Verwöhntseinwollens umgangen werden, zum Zwecke der Ausnützung anderer Personen oder zum Zwecke der Rache und Anklage, falls die Verwöhnung nicht erfolgt.

Verwöhnte Kinder lehnen auch in tausend Varianten jede Änderung ihrer zufriedenstellenden Situation ab. Erfolgt sie dennoch, so kann man stets die widerstrebenden Reaktionen und Aktionen beobachten, die in mehr aktiver oder in mehr passiver Art zur Durchführung gelangen. Angriff oder Rückzug, die Ausgestaltung hängt größtenteils vom Grad der Aktivität, doch auch von der Lösung fordernden äußeren Situation (vom exogenen Faktor) ab. Erfolgserfahrungen in ähnlichen Fällen geben später die Schablone ab und werden von manchen in unzulänglicher Erfassung als Regression abgefertigt. Manche Autoren gehen noch weiter in ihren Vermutungen und versuchen den gegenwärtig als festen und dauernden evolutionären Erwerb zu betrachtenden seelischen Komplex auf Rückbleibsel aus Urzeiten zurückzuführen und kommen dabei zu phantastischen Funden von Übereinstimmung. Meist sind sie dadurch irregeführt, daß menschliche Ausdrucksformen, insbesondere wenn man die Armut unserer Sprache nicht in Rechnung setzt, zu allen Zeiten eine Ähnlichkeit aufweisen. Es ist nur eine andere Ähnlichkeit getroffen, wenn versucht wird, alle menschlichen Bewegungsformen auf die Sexualität zu beziehen.

Ich habe begreiflich gemacht, daß verwöhnte Kinder sich außerhalb des Kreises der Verwöhnung stets bedroht, wie in Feindesland fühlen. Alle ihre verschiedenen Charakterzüge müssen mit ihrer Meinung vom Leben übereinstimmen, vor allem ihre oft nahezu unfaßbare Selbstliebe und Selbstbespiegelung. Daß alle diese Charakterzüge Kunstprodukte, daß sie erworben und nicht angeboren sind, geht daraus eindeutig hervor. Es ist nicht schwer einzusehen, daß alle Charakterzüge, entgegen der Auffassung der sogenannten Charakterologen, soziale Bezogenheiten bedeuten und aus dem vom Kinde gefertigten Lebensstil entspringen. So löst sich auch die alte Streitfrage auf, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei. Der evolutionär wachsende, unaufhaltsame Fortschritt des Gemeinschaftsgefühls berechtigt zur Annahme, daß der Bestand der Menschheit mit dem »Gutsein« untrennbar verknüpft ist. Was scheinbar dagegen spricht, ist als Fehlschlag in der Evolution zu betrachten und läßt sich auf Irrtümer zurückführen, wie es ja auch unbrauchbares körperliches Material in den Tierspezies auf dem großen Versuchsfeld der Natur immer gegeben hat. Die Charakterlehre wird sich aber bald entschließen müssen zuzugeben, daß Charaktere wie »mutig, tugendhaft, faul, feindselig, standhaft usw.« sich immer nach unserer, sich stets verändernden Außenwelt richten und ohne diese Außenwelt einfach nicht existieren.

Es gibt, wie ich gezeigt habe, noch andere Bürden in der Kindheit, die wie die Verwöhnung das Wachstum des Gemeinschaftsgefühls verhindern. Auch in der Betrachtung dieser Hindernisse müssen wir ein waltendes kausales Grundgesetz bestreiten und wir sehen in ihren Auswirkungen nur ein verleitendes Moment, das sich in statistischer Wahrscheinlichkeit ausdrückt. Auch die Verschiedenheit und Einmaligkeit der individuellen Erscheinung darf nie übersehen werden. Sie ist der Ausdruck der nahezu willkürlich schaffenden Kraft des Kindes in der Gestaltung seines Bewegungsgesetzes. Diese anderen Bürden sind Vernachlässigung des Kindes und sein Besitz an minderwertigen Organen. Beide lenken, so wie die Verwöhnung, den Blick und das Interesse des Kindes vom »Mitleben« ab und wenden sie der eigenen Gefährdung und dem eigenen Wohle zu. Daß letzteres nur unter Voraussetzung eines genügenden Gemeinschaftsgefühls gesichert ist, soll weiterhin schärfer bewiesen werden. Aber es kann leicht verstanden werden, daß das irdische Geschehen dem sich entgegenstellt, der allzu wenig mit ihm in Kontakt, in Einklang ist.

Von allen drei Bürden der ersten Kindheit kann gesagt werden, daß die schaffende Kraft des Kindes sie einmal besser, einmal schlechter überwinden kann. Aller Erfolg oder Mißerfolg hängt vom Lebensstil, von der dem Menschen meist unbekannten Meinung von seinem Leben ab. In der gleichen Weise wie wir von der statistischen Wahrscheinlichkeit der Folgen dieser drei Bürden sprachen, müssen wir nun feststellen, daß auch die Fragen des Lebens, die großen wie die kleinen, auch nur eine, wenn auch bedeutende statistische Wahrscheinlichkeit als Schockfragen für die Stellung des Individuums zu ihnen aufweisen. Man kann wohl mit einiger Sicherheit die Folgen für ein Individuum voraussagen, wenn es in Berührung mit den Lebensfragen kommt. Man wird sich aber immer daran halten müssen, erst aus den richtig vorausgesagten Folgen auf die Richtigkeit einer Annahme zu schließen.

Daß die Individualpsychologie wie keine andere psychologische Richtung kraft ihrer Erfahrung und ihrer Wahrscheinlichkeitsgesetze Vergangenes erraten kann, ist wohl ein gutes Zeichen für ihre wissenschaftliche Fundierung.

Es obliegt uns nun, auch jene scheinbar untergeordneten Fragen darauf zu prüfen, ob auch sie zu ihrer Lösung ein entwickeltes Gemeinschaftsgefühl erfordern. Da stoßen wir in erster Linie auf die Stellung des Kindes zum Vater. Die Norm wäre ein nahezu gleiches Interesse für Mutter und Vater. Äußere Verhältnisse, die Persönlichkeit des Vaters, Verwöhnung durch die Mutter, oder Krankheiten und schwierige Organentwicklung, deren Pflege mehr der Mutter zufallen, können zwischen Kind und Vater eine Distanz schaffen und so die Ausbreitung des Gemeinschaftsgefühls hindern. Das strengere Eingreifen des Vaters, wenn er die Folgen der Verzärtelung durch die Mutter verhindern will, vergrößert nur diese Distanz. Ebenso der von der Mutter oft unverstandene Hang, das Kind auf ihre Seite zu ziehen. Überwiegt die Verwöhnung durch den Vater, so wendet sich das Kind ihm zu und von der Mutter weg. Dieser Fall ist stets als zweite Phase im Leben eines Kindes zu verstehen und zeigt an, daß das Kind durch seine Mutter eine Tragödie erlebt hat. Bleibt es als verwöhntes Kind an der Mutter haften, so wird es sich mehr oder weniger wie ein Parasit entfalten, der alle Bedürfnis­befriedigungen, gelegentlich auch sexuelle, von seiner Mutter erwartet. Dies um so eher, als der im Kinde erwachte Sexualtrieb das Kind in einer Stimmungslage findet, in der es sich keinen Wunsch zu versagen gelernt hat, weil es stets nur die Befriedigung aller Wünsche von der Mutter erwartet. Was Freud als den Ödipuskomplex bezeichnet hat, der ihm als die natürliche Grundlage der seelischen Entwicklung erscheint, ist nichts als eine der vielen Erscheinungsformen im Leben eines verwöhnten Kindes, das der widerstandslose Spielball seiner aufgepeitschten Wünsche ist. Dabei müssen wir davon absehen, daß derselbe Autor mit unbeirrbarem Fanatismus alle Beziehungen eines Kindes zu seiner Mutter in ein Gleichnis zwängt, dessen Grundlage für ihn der Ödipuskomplex abgibt. Ebenso müssen wir es ablehnen, was vielen Autoren eine plausible Tatsache zu sein scheint, anzunehmen, daß von Natur aus die Mädchen sich mehr dem Vater, die Knaben mehr der Mutter anschließen. Wo dies ohne Verwöhnung geschehen ist, dürfen wir darin ein Verständnis für die künftige Geschlechtsrolle erblicken, für ein viel späteres Stadium also, in dem das Kind in spielerischer Weise, meist ohne dafür den Geschlechtstrieb in Bewegung zu setzen, sich für die Zukunft vorbereitet, wie es dies ja auch in anderen Spielen durchführt. Frühzeitig erwachter und nahezu unbezähmbarer Sexualtrieb spricht in erster Linie für ein egozentrisches Kind, meist für ein verwöhntes, das sich keinen Wunsch versagen kann.

Auch die Stellung zu den Geschwistern, als Aufgabe betrachtet, kann den Grad der Kontaktfähigkeit des Kindes erkennen lassen. Die oben gekennzeichneten drei Gruppen von Kindern werden zumeist das andere Kind, besonders ein jüngeres, als Hindernis und Einengung ihres Einflusses empfinden. Die Wirkungen sind verschieden, hinterlassen aber in der plastischen Periode des Kindes einen so großen Eindruck, daß er zeitlebens als Charakterzug zu erkennen ist, als dauernder Wettlauf im Leben, als Sucht zu dominieren, im mildesten Fall als ein dauernder Hang, den anderen wie ein Kind zu behandeln. Viel bei dieser Ausgestaltung hängt von Erfolg oder Mißerfolg im Wettbewerb ab. Den Eindruck aber, durch ein jüngeres Kind aus seiner Stellung verdrängt worden zu sein, wird man insbesondere bei verwöhnten Kindern samt den von dem Kind geschaffenen Folgen nie vermissen.

Eine andere Frage betrifft das Verhalten des Kindes zum Kranksein und die Stellungnahme, zu der es sich entschließt. Das Verhalten der Eltern dazu, insbesondere bei schwerer scheinenden Krankheiten, wird von dem Kinde in seine Rechnung einbezogen. Frühzeitige Erkrankungen wie Rachitis, Lungenentzündung, Keuchhusten, Veitstanz, Scharlach, Kopfgrippe usw., bei denen das Kind das unvorsichtig ängstliche Wesen der Eltern erlebt, können nicht nur das Leiden schlimmer erscheinen lassen, als es in Wirklichkeit ist, eine ungewöhnliche Gewöhnung an Verzärtelung erzeugen und dem Kinde ein mi menses Wertgefühl ohne Kooperation nahelegen, sondern auch zu einer Neigung zum Kranksein und zu Klagen führen. Setzt bei erlangter Gesundheit die ungewöhnliche Verwöhnung aus, dann findet man oft das Kind ungebärdig oder unter einem dauernden Krankheitsgefühl, mit Klagen über Müdigkeit, Eßunlust oder mit andauerndem grundlosem Husten, Erscheinungen, die nicht selten als Folgen der Krankheit, häufig mit Unrecht, angesehen werden. Solche Kinder haben eine Neigung, die Erinnerung an ihre Krankheiten durch ihr ganzes Leben festzuhalten, was ihre Meinung zum Ausdruck bringt, auf Schonung Anspruch zu haben oder auf mildernde Umstände zu plädieren. Man darf nicht übersehen, daß in solchen Fällen wegen des mangelnden Kontakts mit den äußeren Umständen ein fortdauernder Anlaß zu einer Steigerung in der Gefühlssphäre, einer Steigerung der Emotionen und Affekte gegeben ist. Einer weiteren Prüfung auf seine Kooperationsfähigkeit — abgesehen davon, wie es sich im Hause nützlich macht, ob es sich beim Spiel richtig betätigt und kameradschaftlich auftritt — ist das Kind bei dem Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule unterworfen. Man kann da deutlich seine Fähigkeit zur Mitarbeit beobachten. Der Grad seiner Aufregung, die Formen seiner Weigerung, Abseitsstehen, Mangel an Interesse, an Konzentration und eine Unzahl anderer »schulfeindlicher« Handlungen wie Zuspätkommen, Störungsversuche, Neigung zum Ausbleiben, ständiges Verlieren der Utensilien, Zeitvertrödelung anstatt der Hausarbeiten weisen auf die mangelhafte Vorbereitung zur Mitarbeit hin. Der seelische Prozeß in solchen Fällen ist unzulänglich erkannt, wenn man nicht versteht, daß diese Kinder, ob sie es wissen oder nicht, gleichzeitig ein schweres Minderwertigkeitsgefühl in sich tragen, das als Minderwertigkeitskomplex entsprechend der obigen Schilderung zutage kommt, in Form von Schüchternheit, Aufregungszuständen mit allen möglichen körperlichen und seelischen Symptomen, oder als selbstischer Überlegenheitskomplex, in Streitsucht, im Spielverderben, in Mangel an Kameradschaftlichkeit usw. Mut ist dabei nicht zu finden. Selbst arrogante Kinder erweisen sich als feig, sobald es sich um nützliche Arbeiten handelt. Lügenhaftigkeit zeigt sie auf dem Wege der List, Diebstahlsneigungen treten als schädliche Kompensationen auf im Gefühl des Verkürztseins. Das niemals ausbleibende Vergleichen und Messen mit tüchtigeren Kindern führt keine Besserung, sondern allmählich Abstumpfung und oft den Abbruch des Schulerfolges herbei. Gerade die Schule wirkt wie ein Experiment auf das Kind und zeigt vom ersten Tage an den Grad der Kooperationsfähigkeit des Kindes. Gerade die Schule ist auch der richtige Ort, um mit kluger Einsicht das Gemeinschaftsgefühl des Kindes zu heben, damit es nicht als ein Gegner der Gemeinschaft die Schule verläßt. Diese Erfahrungen waren es, die mich veranlaßten, in den Schulen individualpsychologische Beratungsstellen einzurichten, die dem Lehrer helfen, den richtigen Weg in der Erziehung der versagenden Kinder zu finden.

Keine Frage, daß auch die Erfolge in den Schulgegenständen in erster Linie vom Gemeinschaftsgefühl des Kindes abhängen, das ja den Ausblick in die zukünftige Gestaltung seines Lebens in der Gemeinschaft in sich birgt. Fragen der Freundschaft, so wichtig für späteres Zusammenleben, der Kameradschaft samt allen notwendigen Charakterzügen der Treue, der Verläßlichkeit, der Neigung zur Zusammenarbeit, des Interesses für Staat, Volk und Menschheit sind dem Schulleben einverleibt und bedürfen der sachkundigen Pflege. Die Schule hat es in der Hand, die Mitmenschlichkeit zu erwecken und zu fördern. Sind dem Lehrer unsere Gesichtspunkte klar, so wird er es auch verstehen, in freundschaftlicher Aussprache dem Kinde seinen Mangel an Gemeinschafts­gefühl, dessen Ursachen und deren Behebung vor Augen zu führen und es der Gemeinschaft näherzubringen. In allgemeinen Aussprachen mit den Kindern wird es ihm gelingen, sie zu überzeugen, daß ihre Zukunft und die der Menschheit von einer Verstärkung unseres Gemeinschaftsgefühls abhängig ist und daß die großen Fehler in unserem Leben, Krieg, Todesstrafe, Rassenhaß, Völkerhaß, aber auch Neurose, Selbstmord, Verbrechen, Trunkenheit usw., aus dem Mangel des Gemeinschaftsgefühls entspringen und als Minderwertigkeitskomplexe, als verderbliche Versuche, eine Situation auf unstatthafte und unzweckmäßige Weise zu lösen, aufzufassen sind.

Auch die in dieser Zeit sich bemerkbar machende sexuelle Frage kann Knaben und Mädchen in Verwirrung stürzen. Nicht solche, die für die Kooperation gewonnen sind. Sie, die gewohnt sind, sich als Teil eines Ganzen zu fühlen, werden nie aufregende Geheimnisse mit sich herumtragen, ohne mit ihren Eltern darüber zu sprechen oder den Rat des Lehrers einzuholen. Anders die, die schon in ihrer Familie ein feindliches Element erblicken. Sie, und vo r allem wieder die verwöhnten Kinder, sind am leichtesten einzuschüchtern und durch Schmeicheleien zu verführen. Das Vorgehen der Eltern in der Aufklärung ist durch ihr Mitleben von selbst gegeben. Das Kind soll soviel wissen, als es verlangt, und es soll ihm in solcher Art vermittelt werden, daß es die neue Kenntnis auch richtig verträgt und verdauen kann. Man muß nicht zögern, aber auch Eile ist überflüssig. Daß Kinder in der Schule über sexuelle Dinge sprechen, kann kaum vermieden werden. Das selbständige Kind, das in die Zukunft blickt, wird Unflat von sich weisen und Torheiten nicht glauben. Eine Anleitung zur Furcht vor Liebe und Ehe ist natürlich ein großer Fehler, wird aber auch nur von abhängigen Kindern, die an sich mutlos sind, entgegengenommen werden.

Die Pubertät, als eine weitere Lebensfrage, wird von vielen als dunkles Mysterium angesehen. Auch in dieser Zeit findet man nur, was vorher in dem Kinde schlummerte. Fehlte es ihm bis dahin an Gemeinschaftsgefühl, so wird seine Pubertätszeit entsprechend verlaufen. Man wird nur deutlicher sehen, wie weit das Kind zur Mitarbeit vorbereitet ist. Ihm steht ein größerer Bewegungsraum zur Verfügung. Es hat mehr Kraft. Vor allem aber hat es den Drang, in irgendeiner ihm entsprechenden, es verlockenden Weise zu zeigen, daß es kein Kind mehr ist, oder, seltener, daß es ein solches noch ist. Ist es in der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls gehindert worden, so wird der unsoziale Ausschlag seines irrtümlichen Weges sich deutlicher zeigen als vorher. Viele von ihnen werden in der Sucht, als erwachsen zu gelten, lieber die Fehler als die Vorzüge Erwachsener annehmen, da ihnen dies um vieles leichter fällt, als etwa der Gemeinschaft zu dienen. Delikte aller Art können so zustande kommen, wieder leichter bei verwöhnten Kindern als bei anderen, da diese, auf sofortige Befriedigung trainiert, einer Versuchung welcher Art immer schwer widerstehen können. Derlei Mädchen und Knaben fallen Schmeicheleien leicht zum Opfer oder einer Anspornung ihrer Eitelkeit. Stark bedroht sind in dieser Zeit auch Mädchen, die zu Hause ein schweres Gefühl der Zurücksetzung durchmachen und an ihren Wert nur glauben können, wenn sie Schmeicheleien hören.

Das Kind, bisher im Hinterland, nähert sich dann bald der Front des Lebens, an der es die drei großen Lebensfragen vor sich sieht: Gesellschaft, Arbeit und Liebe. Sie alle verlangen zu ihrer Lösung ein entwickeltes Interesse am anderen. Die Vorbereitung für dieses gibt den Ausschlag. Wir finden da Menschenscheu, Menschenhaß, Mißtrauen, Schadenfreude, Eitel­keiten aller Art, Überempfindlichkeit, Aufregungszustände beim Zusammen­treffen mit anderen, Lampenfieber, Lug und Trug, Verleumdung, Herrschsucht, Bosheit und vieles andere. Der für die Gemeinschaft Erzogene wird leicht Freunde gewinnen. Er wird auch Interesse haben an allen Fragen der Menschheit und seine Auffassung und sein Gehaben zu ihrem Nutzen einrichten. Er wird nicht darin seinen Erfolg suchen, im Guten oder im Schlechten aufzufallen. Sein Leben in der Gesellschaft wird stets von seinem Wohlwollen begleitet sein, wenngleich er gegen Schädlinge der Gemeinschaft seine Stimme erheben wird. Auch der gütige Mensch kann sich bisweilen der Verachtung nicht entschlagen.

Die Erdkruste, auf der wir leben, nötigt die Menschheit zur Arbeit und zur Arbeitsteilung. Das Gemeinschaftsgefühl prägt sich hier als Mitarbeit zum Nutzen anderer aus. Der Gemeinschaftsmensch wird nie daran zweifeln, daß jedem der Lohn seiner Arbeit gebührt und daß die Ausbeutung des Lebens und der Arbeit anderer niemals das Wohl der Menschheit fördern kann. Schließlich und endlich leben wir Nachkömmlinge doch vorwiegend von den Leistungen großer Vorfahren, die zum Wohle der Menschheit beigetragen haben. Der große Gemeinschaftsgedanke, der sich auch in den Religionen und in großen politischen Strömungen äußert, fordert mit Recht die bestmögliche Verteilung von Arbeit und Konsum. Wenn jemand Schuhe verfertigt, so macht er sich einem anderen nützlich und hat das Recht auf ein auskömmliches Leben, auf alle hygienischen Vorteile und auf gute Erziehung seiner Nachkommen. Daß er dafür Geld bekommt, ist die Anerkennung seiner Nützlichkeit in einer Periode des entwickelten Marktes. So gelangt er zum Gefühl seines Wertes für die Allgemeinheit, der einzigen Möglichkeit, das allgemeine menschliche Minderwertigkeitsgefühl zu mildern. Wer nützliche Arbeit leistet, lebt in der sich entwickelnden Gemeinschaft und fördert sie. Diese Bezogenheit ist so stark, wenn auch nicht immer überdacht, daß sie das allgemeine Urteil über Fleiß und Unfleiß leitet. Niemand wird Unfleiß eine Tugend nennen. Auch das Recht des durch Krisen oder Überproduktion arbeitslos Gewordenen auf hinreichenden Unterhalt ist heute bereits allgemein anerkannt, eine Auswirkung, wenn nicht einer gesellschaftlichen Gefahr, so des wachsenden Gemeinschaftsgefühls. Auch was die Zukunft bringen wird an Änderungen der Produktionsweise und der Verteilung der Güter, wird zwangsweise der Kraft des Gemeinschaftsgefühls besser entsprechen müssen als heutzutage, ob die Änderung nun erzwungen oder gegeben sein wird.

In der Liebe, die mit so starken Befriedigungen körperlicher und seelischer Art ausgestattet ist, zeigt sich das Gemeinschaftsgefühl als unmittelbarer und unzweifelhafter Gestalter des Schicksals. Wie in der Freundschaft, in der Geschwister- oder in der Elternbeziehung handelt es sich in der Liebe um eine Aufgabe für zwei Personen, diesmal verschiedenen Geschlechts, mit dem Ausblick auf Nachkommenschaft, auf Erhaltung des Menschengeschlechts. Keines der menschlichen Probleme ist vielleicht der Wohlfahrt und dem Wohlergehen des einzelnen in der Gesamtheit so nahe gerückt wie das Problem der Liebe. Eine Aufgabe für zwei Personen hat eine eigene Struktur und kann nicht nach Art einer Aufgabe für eine einzelne Person richtig gelöst werden. Es ist, als ob jede dieser Personen sich ganz vergessen und ganz der anderen Person hingegeben sein müßte, um dem Problem der Liebe zu genügen, als ob aus zwei Menschen ein Wesen gebildet werden müßte. Die gleiche Notwendigkeit trifft auch bis zu einem gewissen Grade für die Freundschaft zu und für Aufgaben wie Tanz oder Spiel oder Arbeit zweier Personen mit dem gleichen Gerät am selben Objekt. Es ist unweigerlich in dieser Struktur enthalten, daß Fragen der Ungleichheit, Zweifel aneinander, feindliche Gedanken oder Gefühle dabei ausgeschaltet sein müssen. Und es liegt im Wesen der Liebe, daß körperliche Anziehung nicht entbehrt werden kann. Es liegt wohl auch im Wesen und in der individuellen Auswirkung der Evolution, daß sie bis zu einem gewissen, dem notwendigen Aufschwung der Menschheit entsprechenden Grade, die Auswahl des Partners beeinflußt.

So stellt die Evolution unsere ästhetischen Gefühle in den Dienst der Menschheitsentwicklung, indem sie uns, bewußt und unbewußt, das höhere Ideal im Partner ahnen läßt. Neben der heute noch von Mann und Weib vielfach verkannten Selbstverständlichkeit der Gleichheit in der Liebe ist das Gefühl der Hingebung aneinander nicht zu umgehen. Dieses Gefühl der Devotion wird ungeheuer oft von Männern, noch mehr von Mädchen, als eine sklavische Unterordnung mißverstanden und schreckt besonders diejenigen von der Liebe ab oder macht sie funktionsunfähig, die in ihrem Lebensstil zum Prinzip der selbstischen Überlegenheit gekommen sind. Die mangelhafte Eignung in allen drei Punkten, in der Vorbereitung für eine Aufgabe zu zweit, im Bewußtsein der Gleichwertigkeit und in der Fähigkeit zur Hingabe, charakterisiert alle Personen mit mangelhaftem Gemeinschaftsgefühl. Die Schwierigkeit, die ihnen in dieser Aufgabe erwächst, verleitet sie unausgesetzt zu Versuchen einer Erleichterung in Fragen der Liebe und der Ehe, letztere in ihrer monogamen Ausgestaltung wohl die beste aktive Anpassung an die Evolution. Die oben geschilderte Struktur der Liebe erfordert außerdem, da sie Aufgabe und nicht Schlußpunkt einer Entwicklung ist, eine endgültige Entscheidung für die Ewigkeit, wie sie sich als ewig in den Kindern und in deren Erziehung zum Wohl der Menschheit auswirken soll. Es ist ein unheimlicher Ausblick, der uns wahrnehmen läßt, daß Verfehlungen und Irrtümer, ein Mangel des Gemeinschaftsgefühls in der Liebe zum Ausschluß vom ewigen Dasein auf dieser Erde in Kindern und in Werken der Erziehung Anlaß geben kann. Eine Bagatellisierung der Liebe, wie sie sich in der Promiskuität zeigt, in der Prostitution, in den Perversionen und im heimlichen Versteck der Nacktkultur, würde der Liebe alle Größe, allen Glanz und allen ästhetischen Zauber nehmen. Die Weigerung, ein dauerndes Bündnis einzugehen, streut Zweifel und Mißtrauen zwischen die Partner einer gemeinsamen Aufgabe und macht sie unfähig, sich ganz hinzugeben. Ähnliche Schwierigkeiten, in jedem Falle verschieden, wird man als Zeichen verminderten Gemeinschaftsgefühls in allen Fällen von unglücklicher Liebe und Ehe, in allen Fällen von Versagen mit Recht erwarteter Funktionen nachweisen können, wo einzig die Korrektur des Lebensstils Besserung bringen kann. Es ist für mich auch keine Frage, daß die Bagatellisierung der Liebe, also ein Mangel an Gemeinschaftsgefühl, in der Promiskuität zum Beispiel, zum Hereinbrechen der Geschlechtskrankheiten den Anlaß gegeben hat und so zur Vernichtung des Einzellebens, von Familien und Volksstämmen geführt hat. Wie man im Leben keine Regel findet, die restlos unfehlbar wäre, so gibt es auch Gründe, die für eine Auflösung einer Liebes- oder Ehebindung sprechen. Freilich ist nicht jedem soviel Verständnis zuzutrauen, daß er selbst ein richtiges Urteil fällen könnte. Deshalb sollte man diese Frage in die Hände erfahrener Psychologen legen, denen man ein Urteil im Sinne des Gemeinschaftsgefühls zutrauen kann. Auch die Frage der Kinderverhütung bewegt unsere Zeit sehr. Seit die Menschheit den Spruch erfüllt hat und so zahlreich ist wie der Sand am Meere, dürfte das Gemeinschaftsgefühl der Menschen in der Strenge der Forderung nach unbeschränkter Nachkommen­schaft stark nachgelassen haben. Auch die ungeheure Entwicklung der Technik macht allzu viele Hände überflüssig. Der Drang nach Mitarbeitern hat erheblich abgenommen. Die sozialen Verhältnisse verlocken nicht zur weiteren rapiden Vermehrung. Der stark gesteigerte Grad der Liebesfähigkeit rechnet mehr als vorher mit dem Wohlergehen und mit der Gesundheit der Mutter. Die wachsende Kultur hat auch für Frauen die Grenzen der Bildungsfähigkeit und des seelischen Interesses aufgehoben. Die heutige Technik erlaubt dem Mann und der Frau, mehr Zeit der Bildung und der Erholung und dem Vergnügen sowie der Erziehung der Kinder zu widmen, eine Ausdehnung der Ruhepause von der Arbeit Mühe, die sich in naher Zukunft noch vergrößern, und, wenn richtig verwendet, viel zum eigenen Wohle und zum Wohle der Angehörigen beitragen wird. All diese Tatsachen haben dazu beigetragen, der Liebe neben ihrer Aufgabe, der Fortpflanzung zu dienen, eine davon fast unabhängige Rolle zuzuweisen, ein höheres Niveau, eine Glückssteigerung, die sicher zum Wohle der Menschheit beiträgt. Man wird durch Gesetze und Formeln diesen einmal gewonnenen Entwicklungsfortschritt, der ja auch den Menschen vom Tiere unterscheidet, nicht hemmen können. Die Entscheidung über Geburten wird man am besten ganz der wohlberatenen Frau überlassen müssen. In Fragen der künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft dürften Mutter und Kind am besten behütet sein, wenn, abgesehen von einer medizinischen Beschlußfassung, ein geeigneter psychologischer Berater unwesentliche Gründe, die für die Unterbrechung angeführt werden, widerlegt, wesentlichen aber Folge gibt, und wenn im Ernstfall die Unterbrechung stets kostenlos in einer Anstalt durchgeführt wird.

Für die richtige Wahl des Partners aber kommen neben der körperlichen Eignung und Anziehung hauptsächlich folgende Punkte in Betracht, die den zureichenden Grad seines Gemeinschaftsgefühls erweisen sollen:

Der Partner muß bewiesen haben, daß er Freundschaft halten kann;

er muß Interesse für seine Arbeit besitzen;

er muß mehr Interesse für seinen Partner an den Tag legen als für sich.

Freilich kann die Furcht vor Kindersegen auch durchaus selbstische Ursachen haben, die, wie immer sie Ausdruck finden, letzten Endes stets auf einen Mangel an Gemeinschaftsgefühl zurückführen. So, wenn ein verwöhntes Mädchen in der Ehe nur weiter das verwöhnte Kind spielen will, oder, nur auf sein Äußeres bedacht, die Entstellung durch die Schwangerschaft oder Geburt fürchtet und überschätzt, wenn es ohne Rivalin bleiben will, gelegentlich auch, wenn es ohne Liebe in die Ehe gegangen ist. In vielen Fällen spielt der »männliche Protest« in den Funktionen der Frau und in der Ablehnung des Gebarens eine unheilvolle Rolle. Diese Proteststellung der Frau gegen ihre Geschlechtsrolle, die ich als erster unter obigem Namen beschrieben habe, gibt vielfach den Anlaß zu Menstruationsstörungen und Funktionsstörungen in der Sexualsphäre, stammt immer aus der Unzufriedenheit mit einer Geschlechtsrolle, die schon in der Familie als untergeordnet aufgefaßt wurde, wird aber durch die Unvollkommenheit unserer Kultur wesentlich gefördert, die der Frau heimlich oder offen einen untergeordneten Rang zuzuweisen trachtet. So kann auch das Eintreten der Menstruation in manchen Fällen durch eine seelische Gegenwehr des Mädchens zu allerlei Beschwerden führen und eine mangelhafte Vorbereitung zur Kooperation verraten. Der »männliche Protest« in seinen vielfachen Protestformen, unter denen eine als Sucht, einen Mann zu spielen, auftritt und zu lesbischer Liebe führen kann, ist demnach als Überlegenheitskomplex aufzufassen, der sich über einem Minderwertigkeitskomplex aufbaut: »Nur ein Mädchen.«

In der Zeit, die der Liebe gehört, kommen, gleichzeitig bei mangelhafter Vorbereitung für Beruf und Gesellschaft, auch andere Formen des Rückzugs vom sozialen Interesse in Sicht. Die schwerste Form ist wohl im jugendlichen Irresein zu sehen, einer nahezu vollkommenen Abschließung von den Forderungen der Gemeinschaft. Diese psychische Erkrankung steht mit Organminderwertigkeiten in Zusammenhang, wie Kretschmer gefunden hat. Seine Nachweise ergänzen meinen Befund von der Bedeutung der organischen Bürde im Beginne des Lebens, ohne daß der Autor der Bedeutung solcher minderwertiger Organe für den Aufbau des Lebensstils, wie die Individualpsychologie es tut, Rechnung getragen hätte. Auch der Verfall in die Neurose wird unter dem unaufhörlichen Druck der äußeren Umstände, die Vorbereitung zur Mitarbeit erfordern, immer häufiger, ebenso Selbstmord als perfekter Rückzug, gleichzeitig als komplette Verurteilung der Forderungen des Lebens in mehr oder weniger gehässiger Absicht. Trunksucht als Trick, sich auf unsoziale Weise sozialen Forderungen zu entziehen, ebenso Morphinismus und Kokainismus sind Versuchungen, denen der Mensch ohne Gemeinschafts­gefühl auf der Flucht vor den Gemeinschaftsproblemen, wenn sie in größerer Stärke auftreten, nur schwer widerstehen kann. Immer wieder wird man bei solchen Personen, wie den genannten, die große Sucht nach Verwöhnung und Erleichterung des Lebens nachweisen können, wenn man in diesem Verfahren genügende Übung hat. Das gleiche gilt für eine große Anzahl von Delinquenten, bei denen der Mangel an Gemeinschaftsgefühl bei vorhandener Aktivität, gleichzeitig auch der Mangel an Mut bereits in der Kindheit klar zu ersehen ist. Es kann nicht wundernehmen, daß in dieser Zeit auch Perversionen deutlicher werden, von ihren Trägern zumeist auf Heredität bezogen, wobei sie, wie auch viele Autoren, perverse Erscheinungen in der Kindheit als angeboren oder als durch ein Erlebnis erworben ansehen, während sie sich als Spuren eines Trainings in falscher Richtung erweisen, immer zugleich als deutliche Zeichen eines mangelnden Gemeinschaftsgefühls, das auch auf anderen Seiten ihres Lebens klar genug hervortritt.1) Weitere Prüfungen auf den Grad des Gemeinschaftsgefühls erfolgen in der Führung der Ehe, des Berufs, bei Verlust einer geliebten Person, anläßlich dessen das betroffene Individuum die ganze Welt verloren gibt, wenn es schon vorher an ihr keinen Anteil genommen hat, bei Verlust des Vermögens, bei Enttäuschungen aller Art, in der das Unvermögen der verzärtelten Person sich zeigt, den Einklang mit dem Ganzen in der angespannten Situation aufrechtzuerhalten. Auch der Verlust einer Stellung ruft viele nicht zum Anschluß an die Gemeinschaft auf, um Übelstände gemeinsam zu beseitigen, sondern stürzt sie in Verwirrung und zwingt sie, gegen die Gemeinschaft vorzugehen.

Noch einer letzten Prüfung will ich gedenken, der Furcht vor dem Alter und vor dem Tode. Sie werden den nicht erschrecken, der sich seiner Unvergänglichkeit im Bilde seiner Kinder und im Bewußtsein seines Beitrags zur wachsenden Kultur gewiß ist. Man findet aber ungemein häufig als deutliche Ausprägung der Furcht vor restloser Austilgung raschen körperlichen Verfall und seelische Erschütterung. Besonders häufig findet man Frauen durch den Aberglauben an die Gefahren des Klimakteriums aufs äußerste betroffen. Jene besonders, die nicht in der Kooperation, sondern in der Jugend und in der Schönheit den Wert der Frau erblickten, leiden da in auffälliger Weise, geraten auch oft, in feindseliger Defensive wie gegen ein ihnen angetanes Unrecht, in Verstimmung, die sich bis zur Melancholie ausgestalten kann. Es ist für mich keine Frage, daß auf dem bisher erreichten Niveau unserer Kultur für alternde Männer und alternde Frauen noch nicht der gehörige Raum geschaffen ist. Ihn zu ermöglichen oder wenigstens ihn sich selbst zu schaffen, ist das unverbrüchliche Recht alternder Menschen. Leider wird bei vielen in dieser Zeit die Grenze ihres Willens zur Mitarbeit sichtbar. Sie übertreiben ihre Wichtigkeit, wollen alles besser verstehen, verharren im Gefühl der Verkürztheit, stören so die anderen und helfen noch jene Atmosphäre zu schaffen, die sie vielleicht vor langer Zeit immer befürchtet haben.

Bei einiger Erfahrung und bei ruhiger, freundlicher Überlegung dürfte es jedem klarwerden, daß wir tatsächlich unausgesetzt durch die Fragen des Lebens auf den Grad unseres Gemeinschaftsgefühls geprüft, anerkannt oder verworfen werden.

 

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1) A. Adler, Das Problem der Homosexualität. Leipzig.


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