b) Das Arrangement der Neurose


Das aus realen Eindrücken erwachsene, später tendenziös festgehaltene und unterstrichene Gefühl der Minderwertigkeit drängt den Patienten schon in der Kindheit unaufhörlich zu einer Zielsetzung für sein Streben, die hoch über alles menschliche Maß hinausgeht, einer Vergöttlichung sich nähert und ein Wandeln auf haarscharfen Richtungslinien erzwingt. Unter ihrem Zwange erfolgt eine weitgehende Ausschaltung anders gearteter, wenn auch notwendiger und sachlich gerechtfertigter Stellungnahmen. Es ist, als ob jeder Neurotiker sich einen kleinen Stall gezimmert hätte, immer von verschiedener Form und Größe, in dem er ununterbrochen herumhüpft und sich ängstlich hütet, dessen Grenzen zu überschreiten. Alle menschlichen Beziehungen werden nicht mehr sachlich — sondern »persönlich« erfaßt und zu regeln versucht. Zwischen den beiden Punkten spannt sich das neurotische System, der Lebensplan des Nervösen. Dieser kompensatorische, psychische Ausbau, das nervöse »Wollen«, rechnet mit allen eigenen und fremden Erfahrungen, allerdings indem er sie tendenziös entstellt und ihren Wert verfälscht, sie aber auch, wenn sie der neurotischen Absicht sonst genügen, mit ihrem Wahrheitsgehalt in die Rechnung stellt. Daraus ergibt sich in den meisten Fällen die zuweilen große Leistungsfähigkeit des Neurotikers auf einem begrenzten Gebiet, nämlich dort, wo seine nervöse Apperzeption den Gesetzen der Wirklichkeit nicht Widerspricht, vielleicht sogar, wie beim Künstler, ihnen in höherem Grade gerecht wird.

Bei näherer Betrachtung ergibt sich als verständliche Erscheinung, daß alle diese Richtungslinien von verschiedenen Seiten mit Warnungstafeln und Ermunterungen, mit Mementos und Aufforderungen zur Tat versehen sind, so daß man von einem weitverzweigten Sicherungsnetz sprechen kann. Immer findet man das neurotische Seelenleben als Überbau über einer bedrohlichen kindlichen Situation, wenn auch im Laufe der Jahre äußerlich verwandelt und der Wirklichkeit mehr angepaßt, als die Entwicklung des Kindes es vermocht hätte. Kein Wunder deshalb, daß jedes seelische Phänomen des Nervösen von diesem starren System durchzogen und, sobald verstanden, wie ein Gleichnis erscheint, aus dem die Richtungslinien und der Lebensstil immer wieder hervorstechen. So der nervöse Charakter, das nervöse Symptom, die Haltung, jeder Kunstgriff im Leben, die Ausweichungen und Umwege, wenn Entscheidungen das Gottgefühl des Nervösen bedrohen wollen, seine Weltanschauung und sein Verhalten zu Mann und Frau und seine Träume. Bezüglich der letzteren habe ich, in Übereinstimmung mit meiner Anschauung über die Neurosen, ihre Hauptfunktion als vereinfachte Vorversuche, Warnungen und Ermunterungen im Sinne des neurotischen Lebensplans behufs Lösung eines bevorstehenden Problems bereits im Jahre 1911 zur Darstellung gebracht. Eingehendere Ausführungen sind in »Traum und Traumdeutung« zu finden, insbesondere wie der Traum Gefühle und Affekte, Stimmungen hervorzaubert, die den Lebensstil gegen den common sense stützen sollen.

Wie kommt nun diese auffällige Gleichartigkeit der seelischen Erscheinungen, die alle wie von einem gleichgerichteten, nach aufwärts, zur Männlichkeit, zum Gefühl der Gottähnlichkeit strebenden Strom durchflössen sind, zustande, die bereits in meiner neurologischen, vom derzeitigen Standpunkt aus betrachtet, unvollständigen und falsch orientierten Arbeit (›Über Zahlenanalysen und Zahlenphobie‹. [In:] Neurolog.-psychiatr. Ztschr. 1905) hervorgehoben erscheint?

Die Antwort ist aus obiger Darstellung leicht zu entnehmen: Das hypnotisierende Ziel des Nervösen zwingt sein ganzes Seelenleben zu dieser einheitlichen Einstellung, und man wird den Patienten immer, sobald man seine Lebenslinie erkannt hat, dort finden können, wo man ihn nach seinen Voraussetzungen und nach seiner Vorgeschichte erwarten muß. Der starke Zwang zur Vereinheitlichung seiner Persönlichkeit ist aus der inneren Not geschaffen und durch die Sicherungstendenz zustande gekommen. Der Weg wird durch die ihm entsprechenden Schablonen der Charakterzüge, der Affektbereitschaften und der Symptome unabänderlich gesichert. Ich will an dieser Stelle einiges über »Affektstörungen«, über die neurotische »Affektivität« nachtragen, um das unbewußte Arrangement derselben zwecks Einhaltung der Lebenslinie als ein Mittel und als einen Kunstgriff der Neurose nachzuweisen.

So wird z. B. ein Patient mit Platzangst, um auf kompliziertem Wege sein Ansehen im Hause zu heben und seine Umgebung in seinen Dienst zu zwingen, oder um nicht auf der Straße und auf freien Plätzen die stets ersehnte Resonanz zu verlieren, den Gedanken des Alleinseins, der fremden Menschen, des Einkaufs, des Aufsuchens von Theater, Gesellschaft usw. mit der Phantasie von einem Schlaganfall, einer Meeresfahrt, einer Entbindung auf der Straße, mit Krankheitsinfektion durch Keime auf der Straße unbewußt und gefühlsmäßig in einem »Junktim«2) vereinigen. Der übergroße Sicherungskoeffizient gegenüber von Denkmöglichkeiten ist klar zu sehen, ebenso die Ausschaltungstendenz gegenüber allen Situationen, in denen die Herrschaft nicht gewährleistet erscheint. Man merkt daraus die Absicht und verfolgt sie bis zu ihrem Endzweck, um Situationen der Überlegenheit aufzusuchen, um die Lebenslinie zu erkennen. Ähnlich wird die neurotische Vorsicht eines Patienten mit Angstanfällen, der sich so einer Entscheidung durch eine Prüfung, in einer Liebesbeziehung, bei einem Unternehmen entziehen will, indem er den Krankheitsbeweis herstellt, dahin drängen, seine Situation mit der Vorstellung einer Hinrichtung, eines Gefängnisses, des uferlosen Meeres, des Lebendigbegrabenseins oder des Todes zu verbinden. Um der Entscheidung über den Erfolg einer Liebesbeziehung auszuweichen, kann die Verknüpfung der Vorstellungen: Mann und Mörder oder Einbrecher, Frau und Sphinx oder Dämon oder Vampyr als zweckdienlich vorgenommen werden. Jede mögliche Niederlage wird oft durch Verbindung mit dem Gedanken an den Tod oder der Schwangerschaft (auch gelegentlich bei männlichen Nervösen) drohender empfunden, und der so herübergeleitete Affekt zwingt den Patienten, einer Unternehmung auszuweichen. Die Mutter oder der Vater werden so zuweilen in der Phantasie zu Geliebten oder Ehegatten hinauflizitiert, bis das Band so fest ist, um die Ausbiegung vor dem Eheproblem zu sichern. Religiöse und ethische Schuldgefühle werden, wie so häufig bei der Zwangsneurose, konstruiert und ausgenützt, um zu einem gottähnlichen Machtgefühl zu gelangen (z. B. »wenn ich abends nicht bete, wird meine Mutter sterben«; wir müssen die Verwandlung ins Positive herstellen, um die Fiktion der Gottähnlichkeit zu verstehen: »wenn ich bete, wird sie nicht sterben«). Minimale oder längst verflossene Verfehlungen werden beklagt, um an Gewissenhaftigkeit allen überlegen zu erscheinen, zugleich aber auch zum Zwecke der Präokkupation, um Wichtigeres unwichtig zu machen.

Neben diesen, das übertriebene Persönlichkeitsideal und den neurotischen Weg zu ihm sichernden »Befürchtungen« und »Ausschaltungen« findet man ebensooft übertriebene »Erwartungen«, deren sicher eintreffende Enttäuschung zu den als nötig empfundenen, verstärkten Affekten der Trauer, des Hasses, der Unzufriedenheit, der Eifersucht, der Anklage usw. hinüberleiten. Hier spielen prinzipielle Forderungen, Ideale, Träumereien, Luftschlösser usw. eine ungeheure Rolle, und der Neurotiker kann durch Verbindung derselben mit irgendeiner Person oder Situation alles entwerten und seine Überlegenheit an den Tag bringen. Die große Bedeutung der Liebe im menschlichen Leben und das Suchen des Nervösen nach übermenschlicher persönlicher Wirkung und Geltung in der Liebe bringen es mit sich, daß das Arrangement der getäuschten Erwartung sich so häufig einstellt, damit Patient dem Sexualproblem und dem Partner ausweichen kann. Zwangsmasturbation, Impotenz, Perversion, Frigidität sowie Fetischismus sind regelmäßig auf der Linie solcher Umwege eitler Menschen gelegen, aus ihrer übergroßen Spannung vor dem Gemeinschaftsgefühl erfordernden Problem erwachsen.

Als ein drittes Mittel einer Konstruktion zur Verhütung einer Niederlage und eines schweren Minderwertigkeitsgefühls erwähne ich kurz die Antizipation von Empfindungen, Gefühlen und Wahrnehmungen, Einfühlungen, die in ihrer Beziehung zu bedrohlichen Situationen vorbereitende, warnende oder aufmunternde Bedeutung haben, im Traum, in der Hypochondrie, in der Melancholie, im Wahn der Psychosen überhaupt, in der Neurasthenie und in den Halluzinationen.3) Ein gutes Bild gibt etwa der häufige Traum von bettnässenden Kindern, die sich am Abtritt sehen, damit sie die meist rachsüchtige und trotzige enuretische Attitüde wie beim nächtlichen Aufschrecken, hervorgegangen aus dem Bedürfnis, auch bei Nacht die anderen zu beschäftigen, unbeeinflußt von ihrem common sense entwickeln können. Ebenso können Bilder aus der Tabes, Paralyse, echten Epilepsie, aus der Paranoia, aus Herz- und Lungenkrankheiten usw. zur Darstellung von Befürchtungen und um sich zu sichern zur Verwendung kommen.

Um ein anschauliches, allerdings bloß schematisches Bild der eigenartigen Orientierung des Nervösen (und Psychotischen) in der Welt zu geben, schlage ich vor, die vulgäre Anschauung über die Nervosität in eine Formel zu fassen und sie mit einer anderen Formel zu vergleichen, die den obigen Anschauungen und der Wirklichkeit besser entspricht. Die erstere würde lauten:


Individuum + Erlebnisse+ Milieu + Anforder. des Lebens= Neurose
   
[Heredität,
Körperbau (Klinik)
(Kretschmer),
angebl. Sexual­komponenten
(Freud)
Intro- und Extraversion
(Jung)]
[Sexual- und
Inzest-
Erlebnisse
(Freud)]
 

wobei das Individuum durch Minderwertigkeit oder Heredität oder durch »sexuelle Konstitution«, durch Affektivität und durch seinen Charakter beeinträchtigt gedacht wäre, wo ferner die Erlebnisse, das Milieu und die äußeren Anforderungen wie eine Last auf den Patienten drückten, bis sie ihn zur »Flucht in die Krankheit« drängten. Diese Anschauung ist offensichtlich falsch, kann auch nicht gehalten werden durch die Hilfshypothese: das Minus an Wunscherfüllungen oder der »libido« in der Wirklichkeit werde in der Neurose wieder hereingebracht. Eine zutreffende Formel müßte etwa lauten:

Individuelles Schema der Einschätzung (I+E+M) +x= Persönlichkeitsideal der Überlegenheit, wobei das x durch ein Arrangement und tendenziöse Konstruktion des Erlebnismaterials, der Charakterzüge, der Affekte und der Symptome zu ersetzen wäre. Die Lebensfrage des Nervösen lautet nicht: »Was muß ich tun, um mich den Förderungen der Gemeinschaft einzufügen und daraus ein harmonisches Dasein zu gewinnen?« sondern: »Wie muß ich mein Leben ausgestalten, um meine Überlegenheitstendenz zu befriedigen, mein unabänderliches Minderwertigkeitsgefühl in ein Gefühl der Gottähnlichkeit zu verwandeln?«

Mit anderen Worten: der einzig feststehende oder fixiert gedachte Punkt ist das Persönlichkeitsideal. Dieser Gottähnlichkeit näher zu kommen, nimmt der Neurotiker eine tendenziöse Einschätzung seiner Individualität, seiner Erlebnisse und seines Milieus vor. Da dies aber lange nicht genügt, ihn auf seine Lebenslinie und damit näher an sein Ziel zu bringen, provoziert er Erlebnisse und beutet sie aus, um seine zum voraus bestimmten Nutz­anwendungen besser zu ermöglichen — sich zurückgesetzt, betrogen, als Dulder zu fühlen —, um die ihm vertraute und erwünschte Aggressionsbasis aktiv zu schaffen. Daß er aus den Realien und aus seinen Möglichkeiten soviel und eine solche Art von Charakterzügen und Affektbereitschaften aufbaut, daß sie zu seinem Persönlichkeitsideal stimmen, geht aus der obigen Darstellung hervor und wurde von mir ausführlich geschildert. In gleicher Weise wächst der Patient in seine Symptome hinein, die sich ihm aus seiner ganzen Erfahrung und in seiner seelischen Spannung derart formen, wie sie zur Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls nötig und brauchbar erscheinen. In diesem durch ein sich von selbst ergebendes Leitziel entworfenen und festgehaltenen modus vivendi ist von vorher bestimmter, autochthoner Teleologie noch keine Spur zu finden. Es wird der neurotische Lebensplan nur durch den Zwang zur Überlegenheit, durch vorsichtiges Ausweichen vor gefahrvoll erscheinenden Entscheidungen, durch das voraustastende Wandeln auf wenigen, haarscharfen Richtungslinien und durch das gegen die Norm ungeheuer vermehrte Netz von Sicherungen erhalten und nun erst teleologisch eingerichtet. Dementsprechend verliert auch die Frage nach irgendeiner Erhaltung oder nach dem Verlust der psychischen Energie jeden Sinn. Der Patient wird immer gerade so viel psychische Kraft hergestellt haben, um auf seiner Linie zur Überlegenheit, zum männlichen Protest, zur Gottähnlichkeit zu bleiben.

Seine Anschauungsform, seine Perspektive ist fehlerhaft geworden. Das Ziel der Überlegenheit drängt, aufgestachelt durch sein Minderwertigkeits­gefühl, alles Wollen, Denken, Fühlen und Handeln auf ein der Sachlichkeit fremdes Gebiet, das wir Neurose nennen. Die Symptome, arrangiert durch das Endziel, sind die Ausdrucksformen für das Walten der Eitelkeit. Anfangs oder stellenweise steht diese hinter dem Patienten und jagt ihn nach vorne. Nach den unausbleiblichen Niederlagen (denn wie kann unsere arme Erde die Erwartung des Neurotikers befriedigen) steht sie vor ihm und treibt ihn zurück: »Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich (das Reich deiner Einbildung) zerstören.«

 

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2) Junktim: tendenziöse Verbindung zweier Gedanken- und Gefühlskomplexe, die eigentlich wenig oder nichts miteinander zu tun haben, zwecks Affektverstärkung. Ähnlich der Metapher.

3) Diese Anschauung wurde seither bei der Betrachtung der Kriegsneurose fast von allen Autoren vollinhaltlich übernommen. Siehe auch ›Traum und Traumdeutung‹, wo die vom Lebensstil geforderten Gefühle und Emotionen, übrigens auch dem wachen Leben ähnlich, besprochen werden.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 09:38:50 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.12.2009 
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