Anhang
[Aus dem Seelenlehen eines 22jährigen]


Im folgenden will ich auszugsweise, gemäß der oben angeführten Lebensgleichung des Nervösen, einige Eintragungen aus dem Seelenleben eines 22jährigen Patienten vornehmen, der wegen Zwangsmasturbation, Depressionserscheinungen, Arbeitsunlust und wegen schüchternen, verlegenen Benehmens in die Behandlung kam. Vorher will ich hervorheben, daß entsprechend dieser Gleichung der Patient um so mehr an Arrangements (bezüglich entsprechender Erlebnisse, Charakterzüge, Affekte und Symptome) leisten muß, je tiefer er die Einschätzung seiner Person — sei es willkürlich, sei es unter dem Drucke von Niederlagen im Leben — vornimmt. Daraus ist nun sowohl der neurotische Anfall als auch die Neurosenwahl, sozusagen der chronische Anfall, zu erklären; beide müssen die Probe auf ihre Brauchbarkeit für den Lebensplan des Patienten bestehen können. Auch differentialdiagnostisch ist die Einsicht in diesen Zusammenhang von größter Wichtigkeit, nur bedarf der Psychotherapeut einer genauen Kenntnis der organischen Nervenerkrankungen sowie der gesamten Pathologie überhaupt, weil Mischformen häufig aufzufinden sind.

Ich nehme nun zur besseren Anschaulichkeit für den Leser, wie bei gewissen Problemen der Mathematik, die sich nur durch diesen Kunstgriff lösen lassen, meine Aufgabe vorläufig als gelöst an und werde versuchen, soweit dies in einer Skizze möglich ist, die Richtigkeit der Lösung an dem Material der Tatsachen zu erweisen. Dementsprechend gehe ich von einer vorläufigen Voraussetzung aus: Der Patient strebe mit seinem modus vivendi zu einem Ziel der Vollkommenheit, der Überlegenheit, der Gottähnlichkeit. In unseren zwanglosen Unterhaltungen liefert der Patient bald reichlich Anhaltspunkte für diese Annahme. Er schildert uns breit die besondere Vornehmheit seiner Familie, ihre Exklusivität, ihren Grundsatz des »Noblesse oblige«, und wie ein älterer Bruder den allgemeinen Tadel durch eine Heirat unter seinem Niveau hervorgerufen habe. Diese Hochhaltung der Familie ist begreiflich, stellt sich auch als notwendig ein, da sein eigener Kurs dabei steigt. Im übrigen sucht er alle Mitglieder der Familie in Güte oder kämpfend zu beherrschen. Eine äußerliche Attitüde zeigt uns den gleichen Drang nach oben: Er steigt mit Vorliebe auf das Dach des Familienhauses, geht bis an den äußersten Rand, duldet aber nicht, daß ein anderes Glied der Familie sich bis dorthin wage. Nur er! — Zeigte große Aufregung in der Kindheit, wenn er geschlagen wurde, widersetzte sich jedem Zwang und duldet keinerlei Beeinflussung. Tut meist das Gegenteil von dem, was andere, insbesondere seine Mutter, von ihm verlangen. Singt und brummt auf offener Straße, an öffentlichen Orten, um der Welt seine Verachtung zu beweisen (d. h. er arrangiert Gefühle der Überlegenheit). Gleich in den ersten Träumen kommt u. a. die Warnung zutage, sich von mir nicht unterkriegen zu lassen. Er hütet sich, auf den Schatten einer beliebigen Person zu treten, um (häufiger Aberglaube) deren Dummheit nicht zu erwerben (positiv gefaßt: ich bin klüger als alle!). Fremde Türschnallen kann er nur mit dem Ellbogen, nicht mit den Händen berühren. (»Alle Leute sind schmutzig — d. h. nur ich bin rein.« Dies auch das treibende Motiv des Waschzwanges, der Reinlichkeitssucht, der Infektionsfurcht, der Berührungsfurcht.) — Berufsphantasien: Luftschiffer zu werden, Milliardär, um alle Menschen zu beglücken. (Er — im Gegensatz zu allen andern.) — Flugträume. — Was aus diesem Ensemble zutage tritt, deutet auf eine hohe Selbsteinschätzung.

Geht man aber näher darauf ein, so gewinnt man aus den krampfhaften Anstrengungen und Sonderbarkeiten dieses Patienten bald den Eindruck einer großen Unzufriedenheit und Unsicherheit. Es ergibt sich, daß er immer auf seine schwächliche Konstitution zurückkommt, daß er ausführlich seine »weibliche« Konstitution schildert, auch hervorhebt, wie man ihm dies immer vorgehalten habe, und daß man ihn immer in der Kindheit mit dem Zweifel gequält habe, ob er einmal ein voller Mann sein werde. Auch Äußerungen, er wäre besser ein Mädchen geworden, hätten einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Daß frühzeitig ein neurotisches System ausgebaut wurde, in dem auch die entsprechende Affektivität nicht fehlen durfte, um sich durchzusetzen, beweisen die bald auftretenden Züge von Trotz, Jähzorn, Herrschsucht und Grausamkeit, die alle nach der männlichen Seite schielen, sich vor allem gegen Mutter und Schwester wandten, sich deutlich auch abhoben, wenn er z. B. bei der Zumutung, in kleinen Theaterstücken eine weibliche Rolle zu spielen, in Raserei geriet. Auf seine spät auftretende Körperbehaarung und auf eine Phimose (Organminderwertigkeit!) verweist er intensiv und mit tendenziösen Befürchtungen. Der Zweifel an seiner tauglichen männlichen Geschlechtsrolle sitzt tief in ihm, drängt ihn zu Übertreibungen männlich gewerteter Art in mancherlei Richtung, auch zum protestierenden Narzissismus, verschloß ihm aber den Ausbau seiner Lebenslinie in der Richtung auf Kooperation, auf Liebe und Ehe. Da er nur Situationen aufsucht, in denen er der Erste ist, die normale Erotik aus Unsicherheit ausschaltet, kam er zur Masturbation und — blieb bei ihr. Mag er noch so deutlich die Attitüde der Überhebung zur Schau tragen — wenn wir die Voraussetzung seines Handelns prüfen, so stoßen wir unbedingt auf ein vertieftes und leicht zu vertiefendes Minderwertigkeitsgefühl. Um aber Sicherheit zu gewinnen, war er gezwungen, seine Lebenslinie derart auszubauen, daß sie in weitem Bogen um das Problem der normalen Erotik verlief — und so hatte er die sexuelle Richtung, die zu seinem System paßte, die masturbatorische. Diese mußte er als Zwang stabilisieren, als Sicherung gegen jede drohende Annäherung an eine Frau ausüben, durch Kopfschmerz im Falle eines Widerstandes erzwingen, durch Schlaftrunkenheit erleichtern. Um seine Furcht vor der Frau zu vertiefen, sammelte er alle Fälle aus seiner Erfahrung, die für die verderbenbringende Rolle der Frau sprachen. Die anderen Fälle ließ er unbeachtet. Was an Möglichkeiten einer Liebe oder Ehe noch übrig blieb, schaltete er durch Prinzipien aus wie etwa: nur nach »Gotha« zu heiraten, oder durch die Aufstellung eines Ideals, das ihm selbst unerreichbar vorkam.

Außer der Masturbation im Halbschlaf versuchte er mehrere andere Kunstgriffe, deren sozial störendster sein Hang zum Berufswechsel und seine völlige Arbeitsunlust waren. Der Sinn beider ließ sich leicht entziffern: Die »zögernde Attitüde« gegenüber dem Berufe war nebenher auch als brauchbar festgehalten, um nicht an das Eheproblem gehen zu müssen. Die Konstruktion ethischer und ästhetischer Schablonen hatte ihn selbstverständlich vor der Prostitution und vor »freier Liebe« gesichert, Vorteile, die uns nicht blind machen dürfen gegen die neurotische Tendenz in ihnen.

Zugleich ermöglichte ihm dieses Arrangement der »zögernden Attitüde« mit seiner Unsumme von fatalen, sich von selbst ergebenden Erlebnissen (infolge von Verspätungen, von Faulheit, Verschiebungen usw.) eine zweite sichernde Konstruktion, die des intensivsten Familiensinnes, zu verstärken, da es ihn immer wieder in die stärkste Beziehung zu seiner rechthaberischen, herrschsüchtigen Mutter brachte. Gerade die Schwierigkeiten seines Lebens waren es ja, die seine Mutter zwangen, ihre ganze Aufmerksamkeit ihm zuzuwenden, so daß es doch eine weibliche Person gab, bei der er unum­schränkt herrschte. Er verstand es meisterhaft, mit Schilderungen seiner Depressionen, mit selbstgezeichneten Schmuckleisten seiner Briefe, die Revolver darstellten, sie an sich zu fesseln, und feindselige Angriffe sowohl wie gelegentliche Zärtlichkeiten machten sie immer wieder gefügig. Beides waren seine Waffen, seine Kunstgriffe, um die Mutter zu beherrschen, und da in ihrem Falle das Sexualproblem ausgeschaltet war, bot sich in seiner Beziehung zur Mutter abermals ein Gleichnis seiner Lebenslinie, wie er zur Herrschaft zu gelangen suchte. Um anderen Frauen ausweichen zu können, schloß er sich an seine Mutter. So kann in manchen Fällen auch eine Karikatur einer inzestuösen Beziehung zutage treten, in anders gelegenen als »Inzestgleichnis« die Lebenslinie des Patienten sich widerspiegeln, ein Bluff der nervösen Psyche, der den Arzt nicht täuschen darf.

Die psychotherapeutische Behandlung ist demnach darauf zu richten, dem Patienten aus seinen Vorbereitungen im Wachen und gelegentlich aus seinen Träumen zu zeigen, wie er gewohnheitsmäßig immer wieder in die ideale Situation seiner Leitlinie einzurücken versucht, bis er, anfangs aus Negativismus, später infolge von freier Bestimmung, den Lebensplan und damit sein System ändern kann und den Anschluß an die menschliche Gesellschaft und an ihre logischen Forderungen gewinnt.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 08:49:44 •
Seite zuletzt aktualisiert: 23.12.2009 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright