4. Die alte psychologische Schule.


Man kann auch ohne klar bewußte Richtungslinie Menschenkenntnis betreiben. Das geht gewöhnlich auf die Weise vor sich, daß man einen einzelnen Punkt der seelischen Entwicklung herausgreift und von diesem Punkte aus Typen aufzustellen versucht, um sich zurechtzufinden. So könnte man die Menschen z. B. einteilen in solche, die mehr nachdenklich, mehr überlegend oder mehr in der Phantasie beschäftigt sind und dem Eingreifen ins Leben abhold sind, die daher schwer zum Handeln zu bewegen sind, und in solche, die tätiger sind, weniger nachdenken und der Phantasie weniger Spielraum geben, die immer beschäftigt sind, arbeitend, ins Leben eingreifend. Solche Typen bestehen wohl. Wir wären aber dann schon am Ende unserer Betrachtungen und müßten uns, wie die übrige Psychologie, damit bescheiden, festzustellen, daß bei den einen die Phantasietätigkeit, bei den andern die Tatkraft stärker entwickelt ist. Dies würde auf die Dauer kaum genügen. Unser Bedürfnis geht mehr dahin, klare Bilder darüber zu schaffen, wie das geworden ist, ob es so werden mußte und wie es zu vermeiden oder abzuändern wäre. Deswegen sind derartige willkürliche, von einem oberflächlichen Standpunkt aus getroffene Einteilungen für eine rationelle Menschenkenntnis nicht brauchbar, wenngleich uns Typen dieser Art immer wieder auffallen.

Die Individualpsychologie hat die Entwicklung von Ausdrucksbewegungen dort erfaßt, wo die Anfänge dafür zu suchen sind, in den frühesten Kindheitstagen. Sie hat festgestellt, daß diese Ausdrucksbewegungen samt und sonders entweder solche sind, die durch das Überwiegen des Gemeinschaftsgefühls ihr besonderes Gepräge erhalten, oder aber solche, bei denen das Streben nach Macht stärker hervortritt. Mit dieser Feststellung sah sie sich plötzlich im Besitz eines Schlüssels, mit dem es möglich ist, jeden Menschen ziemlich eindeutig zu erfassen und zu klassifizieren, immer natürlich unter Beobachtung jener Vorsicht, die einem Psychologen geziemt, der ja in einem außerordentlich weiten Gebiet operiert. Diese Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, gewinnen wir ein Maß, mit dem wir feststellen können, eine seelische Erscheinung enthalte einen höheren Grad von Gemeinschaftsgefühl und es sei ihr nur wenig Streben nach Macht und Prestigepolitik beigemengt, oder sie sei durchaus ehrgeiziger Natur und diene nur dazu, für ihren Träger oder auch für seine Umgebung darzutun, um wieviel er die andern überragt. Auf dieser Basis gelingt es nicht schwer, gewisse Charakterzüge deutlicher zu sehen, mit ihnen zu rechnen, sie insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit einer Persönlichkeit zu verstehen, womit auch gleichzeitig die Handhaben gegeben sind, mit einem Menschen zu rechnen und auf ihn einzuwirken.


 © textlog.de 2004 • 18.05.2024 05:50:07 •
Seite zuletzt aktualisiert: 19.12.2009 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright