V. Kapitel:
Die Affekte


Die Affekte sind Steigerungen jener Erscheinungen, die wir als Charakterzüge bezeichnet haben. Es sind zeitlich abgegrenzte Bewegungs­formen des seelischen Organs, die sich unter dem Druck einer uns bekannten oder unbekannten Nötigung wie eine plötzliche Entladung äußern und, wie die Charakterzüge, eine Zielrichtung besitzen. Sie sind keine rätselhaften, undeutbaren Erscheinungen; sie treten immer dort auf, wo sie einen Sinn haben, wo sie der Lebensmethode, der Leitlinie eines Menschen entsprechen. Auch sie haben zum Ziel, eine Änderung herbeizuführen, um die Situation eines Menschen zu seinen Gunsten zu ändern. Sie sind verstärkte Bewegungen, zu denen nur ein Mensch gelangen kann, der auf eine andere Möglichkeit, sich durchzusetzen, verzichtet hat, oder besser gesagt, der an andere Möglichkeiten, sich durchzusetzen, nicht oder nicht mehr glaubt.

Die eine Seite des Affektes ist also auch hier ein Minderwertigkeitsgefühl, ein Gefühl der Unzulänglichkeit, das seinen Träger zwingt, alle Kräfte zusammenzunehmen und größere Bewegungen als die sonst üblichen zu vollziehen. Durch eine erhöhte Kraftanstrengung soll die eigene Person in den Vordergrund gestellt und siegreich gemacht werden. Wie es z. B. keinen Zorn gibt, ohne einen Feind, so kann dieser Affekt auch nur den Sieg über denselben zum Ziel haben. Es ist eine beliebte, in unserer Kultur noch mögliche Methode, sich durch derartige vergrößerte Bewegungen durchzusetzen. Es gäbe viel weniger Zornausbrüche, wenn nicht die Möglichkeit gegeben wäre, sich auf diesem Weg Geltung zu verschaffen.

Bei Menschen also, die sich die Erreichung des Zieles der Überlegenheit nicht recht zutrauen und sich unsicher fühlen, werden wir oft finden, daß sie dieses Ziel nicht aufgeben, sondern sich mit verstärktem Nachdruck, unter Zuhilfenahme von Affekten demselben nähern wollen. Es ist eine Methode, bei welcher der durch ein Minderwertigkeitsgefühl aufgestachelte, wie zwangsläufig von einer Regung erfaßte Mensch alle seine Kräfte zusammennimmt und sich nach Art roher, unkultivierter Völker sein wirkliches oder vermeintliches Recht, seine Geltung zu verschaffen sucht.

Auch die Affekte stehen mit dem Wesen der Persönlichkeit in engem Zusammenhang und sind durchaus nicht für einzelne Menschen charakteristisch, sondern mit einer gewissen Regelmäßigkeit bei vielen zu finden. Jeder Mensch ist ihrer teilhaftig, wofern er nur in die dazugehörige Lage gebracht wird. Wir nennen das die Affektbereitschaft des seelischen Organs. Es sind Vorgänge, die so tief mit allem Menschlichen verknüpft sind, daß wir sie alle mitzudenken vermögen. Und wenn man einen Menschen halbwegs kennt, wird man sich auch die zu seinem Wesen dazugehörigen Affekte vorstellen können, ohne sie je wahrgenommen zu haben.

Bei der innigen Verschmolzenheit zwischen Seele und Körper muß ein so eingreifender Vorgang im Seelenleben, wie es ein Affekt ist, seine Wirkungen auch auf den Körper äußern. Die physischen Begleiterscheinungen der Affekte sind Wirkungen auf die Blutgefäße und Atmungsorgane (erhöhter Puls, Erröten und Erblassen, Veränderung der Atmungstätigkeit).

 

A. Trennende Affekte.

1. Zorn.

2. Trauer.

3. Mißbräuchliche Anwendungen.

4. Ekel.

5. Angst (Schreck).

B. Verbindende Affekte.

1. Freude.

2. Mitleid.

3. Scham.


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