Tabula rasa

Tabula rasa (leere, unbeschriebene Tafel) ist nach der Ansicht des Sensualismus (s. d.) die Seele vor aller Erfahrung, durch die sie gleichsam erst beschrieben wird. Das will (im extremsten Falle) sagen, die Seele, der Geist habe keinerlei angeborene (s. d.) Erkenntnisse oder Begriffe, keine präempirischen (s. d.) Anlagen und Potenzen, keine Spontaneität (s. d.), sondern verhalte sich den Eindrücken der Außenwelt gegenüber rein rezeptiv, passiv, bringe nichts zur Erfahrung hinzu, trage nichts aus Eigenem zum Zustandekommen der Erkenntnis schöpferisch bei, sondern sammle und ordne nur das von außen Empfangene. Vgl. dagegen: A priori, Erkenntnis, Spontaneität, Rationalismus.

Der Vergleich der Seele mit einer Wachstafel findet sich schon bei PLATO (kêrinon ekmageion, apotypousthai: Theaet. 191 C). Eine Stelle des ARISTOTELES ist zuweilen irrtümlich im sensualistischen Sinne verstanden worden: hoti dynamei pôs esti ta noêta ho nous, all' entelecheia ouden, prin an noê. dei d' houtôs hôsper en grammateiô hô mêden hyparchei entelecheia gegrammenon (De an. III 4, 429 b 30 squ.). Mit einem unbeschriebenen Blatte vergleichen die Stoiker die Seele bei der Geburt: Hoi de Stôikoi phasin. hotan anthrôpos genêtai, echei to êgemonikon meros tês psychês autou hôsper chartên euergon (energon) eis apographên. eis touto oun mia hekastê tôn dianoiôn aisthêseis enapographei tês hautou phantasias (Plut., Plac. IV, 11. Gal., Hist. philos. 92, Dox. 635). tên typôsin kata eisochên te kai exochên, hôsper kai dia tôn daktyliôn ginomenên tou kêrou typôsin (Sext. Empir. adv. Math. VII, 228. Cicer., Acad. I, 11. vgl. PHILO, Leg. alleg. I. 32. BOËTHIUS, De consol. V, 4. AUGUSTINUS, De civ. Dei VII, 7. STEIN, Psychol. d. Stoa II, 113 f.). - Bei AEGYDIUS ROMANUS findet sich für das grammateion... des Aristoteles (s. oben) zuerst »tabula rasa« (Prantl, G. d. L. III, 261). - Bei ERASMUS: »tabula complanata« (De instit. matrim. Christ. 602, 3), »anima vacua« (De pueris 426, 34). Mit einer leeren Tafel, bezw. mit einem unbeschriebenen Papier vergleichen die Seele F. M. VAN HELMONT, HOBBES, GASSENDI. »tabula rasa« bei DESCARTES (Lum. natur. p. 76). LOCKE vergleicht den Geist vor der Erfahrung mit einem »white paper« (Ess. II, ch. I, § 2). Dagegen betont LEIBNIZ, der Geist gleiche mehr einem geaderten Marmor (Nouv. Ess., préf.). - ROSMINI bemerkt: »La tavola rasa è l'idea indeterminata dell' ente, che è in noi dalla nascita« (Nuovo saggio II, 118). Vgl. Sensualismus, Empirismus.


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