Nach E. v. HARTMANN beruht die Erinnerung auf unbewußten psychischen Funktionen und physischen Dispositionen (Mod. Psychol. S. 134). Nach HERING kommt aller organisierten Materie ein Gedächtnis zu (Üb. d. Gedächtn. 1870); er spricht von Gattungserinnerung durch Vererbung. So auch PREYER (persönliches - phyletisches Gedächtnis) (Seele d. Kind. S. 230). HAECKEL schreibt der Plastidule (s. d.) ein unbewußtes Gedächtnis zu (Perigenes. d. Plastid. 1876, S. 38 f.). OSTWALD betrachtet das Gedächtnis als Eigenschaft der lebenden Substanz (Vorles. üb. Naturphilos.2, S. 367 ff.). A. LASSON unterscheidet drei Arten des Gedächtnisses: materielles, seelisches, geistiges Gedächtnis (Phil. Vorträge III. Folge, 2. H. 1894, S. 67). Das leibliche Gedächtnis kommt aller Materie zu (l.c. S. 67, 69 f.). Die Seele hat ein Vermögen der Reproduktion (l.c. S. 70). Der Geist reproduziert bewußt-aktiv (l.c. S. 71). Immer ist das Gedächtnis die Identität mit sich (l.c. S. 66, 72). Nach H. SPENCER ist das Gedächtnis »eine Art von beginnendem Instinkt« (Psychol. I, § 199), es beruht auf Bewußtseinszusammenhängen (l.c. § 201); die Erinnerung beruht auf »Assimilierung« (l.c. § 120). SULLY erklärt das Gedächtnis als »Funktion des Behaltens« (»retentiveness«); Erinnerung ist die »aktive Seite der Reproduktion« (Handb. d. Psychol. S. 180, 183 ff.; Hum. Mind C. 9; vgl. JAMES, Psychol.c. 16, 18; TITCHENER, Outlin. of Psychol.c. 8, 11; STOUT, Anal. Psychol. II). Nach HÖFLER ist das Gedächtnis ein Fall der Übung, nämlich Vorstellungsübung (Psychol. S. 165). JODE erklärt das Gedächtnis als Tendenz des Fortbestehens jeder psychischen Erregung (Lehrb. d. Psychol. S. 460). Das »primäre« Gedächtnis besteht darin, daß alle Wahrnehmungen »mit abgeschwächter Intensität noch in einer gewissen Nähe der Schwelle verharren« (l.c. S. 113). W. JERUSALEM nennt Erinnerungen »Vorstellungen von Ereignissen, die wir uns bewußt sind selbst erlebt zu haben« (Lehrb. d. Psychol.3, S. 91). Das Gedächtnis ist »die psychische Disposition, Erinnerungsvorstellungen zu erleben« (l.c. S. 92). »Die Zahl der Vorstellungen oder die Länge der Reihen, die immer zur Verfügung stehen, bestimmt den Umfang des Gedächtnisses oder seine Stärke. Die Güte des Gedächtnisses ist bestimmt durch die Zahl der Wiederholungen die nötig sind, um eine Vorstellungsreihe zu behalten... Die Treue oder Verläßlichkeit des Gedächtnisses wird bestimmt durch den Grad der Genauigkeit, mit dem wir reproduzieren« (l.c. S. 92). Das Interesse kräftigt das Gedächtnis (ib.). Die »Spezialgedächtnisse« beruhen auf bestimmten Richtungen des Interesses (ib.). Experimentelle Untersuchungen über die Treue des Gedächtnisses gibt es von EBBINGHAUS (»die Quotienten aus Behaltenem und Vergessenem verhalten sich etwa umgekehrt wie die Logarithmen der verstrichener Zeit«, Üb. d. Ged. 188.5 S. 107), MÜLLER und SCHUMANN (Exper. Beitr. zur Unt. d. Ged., Zeitschr. f. Psychol. d. Sinn. Bd. VI, 1894), W. LEWY (Exper. Unt. üb. das Gedächtn., l.c. VIII, 231), KENNEDY (Experimental Investigat. of Memory, Psychol. Review V). Über Specialgedächtnisse vgl. Phil. Stud. I, II. III, IV, VIII - XII, XV, VIERORDT, Der Zeitsinn 1868, ferner Année psychol. I, 1894, J. COHN (Z. f. Psychol. XV). Über Gedächtnisstörungen: FOREL (Das Gedächtn. u. seine Abnorm.), RIBOT (Mal. de la mémoire 1881). Nach ihm ist das Gedächtnis eine biologische Erscheinung, es beruht auf dynamischen Assoziationen der Nervenelemente. Es gibt kein Gedächtnis im allgemeinen (ib.). Physiologisch bestimmt das Gedächtnis MEYNERT (»Erinnerungszellen«), ferner ZIEHEN. In Ganglienzellen-Gruppen werden »Erinnerungsbilder« niedergelegt, d.h. »Residuen früherer sensibler Erregungen« (Leitfad. d. phys. Psychol.2, S. 14). Die Erinnerung beruht auf Assoziation (l.c. S. 171 f.). So auch nach WUNDT. Er betrachtet die »Erinnerungsvorgänge« als einen Specialfall der »sukzessiven Assoziation« (s. d.). Erinnerung erfolgt, wenn die Hindernisse sofortiger Assimilation (s. d.), die den Übergang der simultanen in eine sukzessive Assoziation veranlassen, »so groß sind, daß die der neuen Wahrnehmung widerstreitenden Vorstellungselemente... zu einem besonderen Vorstellungsgebilde sich vereinigen, das direct auf einen früher stattgefundenen Eindruck bezogen wird«. Die so zur Apperzeption gelangende Vorstellung heißt »Erinnerungsvorstellung« (»Erinnerungsbild«) (Gr. d. Psychol.5, S. 289). Die »reproductiv entstandene« Vorstellung ist eine neue Vorstellung (l.c. S. 290). Jeder Erinnerungsvorgang setzt sich aus einer Menge elementarer Prozesse zusammen (l.c. S. 293). Die Rückbeziehung der Erinnerungsvorstellung auf ein vorangegangenes Erlebnis gibt sich im »Erinnerungsgefühl« zu erkennen (ib.). Die Wirkungen der Erinnerungsassoziationen werden unter dem Namen »Gedächtnis« zusammengefaßt (l.c. S. 296). Erinnerungsvorstellungen und Wahrnehmungen »weichen nicht nur qualitativ und intensiv, sondern auch in ihrer elementaren Zusammensetzung durchaus voneinander ab« (l.c. S. 29S). Bei dem »Altersschwund des Gedächtnisses« ist besonders symptomatisch die Abnahme des Wortgedächtnisses, so daß »am frühesten die Eigennamen, dann die Namen konkreter Gegenstände der täglichen Umgebung, dann erst die ihrer Natur nach abstrakteren Verba und zuletzt die ganz abstrakten Partikeln vergessen werden« (l.c. S. 300; Völkerpsychol. I, 1, C. 5; vgl. dazu RIBOT, Mal. de la mémoire: das Neuere wird vor dem Älteren vergessen, »Regressionsgesetz.«). KÜLPE erklärt: »Die Begriffe des Gedächtnisses und der Reproduktion, z. T. auch der Erinnerung enthalten den einfachen Hinweis darauf, daß ein Eindruck, der einmal infolge bestimmter Reize stattgefunden hat, nicht schlechthin nach dem Aufhören der letzteren verschwindet, sondern irgendwie aufbewahrt wird und unter gewissen Bedingungen ohne eine Erneuerung des ursprünglichen äußeren Reizes wieder ein merklicher Inhalt des Bewußtseins zu werden vermag« (Gr. d. Psychol. S. 175). Es handelt sich hier um »zentral erregte Empfindungen« (l.c. S. 176 ff.). Ohne nachahmende, deutende Bewegungen findet keine willkürliche Erinnerung statt (l.c. S. 189). An sich ist nichts eine Erinnerung, es wird es erst »durch ein Urteil, das sich mit ihm verbindet« (1. G. S. 190). Vgl. Disposition, Phantasie, Reproduktion, Assoziation.