Soziologie - Comte, Mill, Humboldt, Wundt
Biologisch-organisistisch ist die soziologische Lehre von A. COMTE. In der »Hierarchie« der Wissenschaften (s. d.) bildet die »Soziologie« oder »physique soziale« den Schlußstein, sie fußt unmittelbar auf der Biologie (Cours IV, 342). Die Methode der Soziologie muß die »positive« (s. d.) sein (Cours IV, 210 ff.). Beobachtung muß ihr erstes sein, dann Analyse, Vergleichung und Induktion (l. c. p. 214 ff, 296 ff.). Die sozialen Erscheinungen müssen betrachtet werden als »inévitablement assujetis à de véritables lois natturelles« (l. c. p. 230). Zu untersuchen sind »I'etat statique« und »I'etat dynamique« (l. c. p. 230 ff.), die Ordnung und die Entwicklung einer Gesellschaft. »Car il est évident que l'étude statique de l'organisme social doit coïncider, au fond, avec la théorie positive de l'ordre, qui ne peut, en effet, consister essentiellement qu'en une juste harmonie permanente entre les diverses conditions d'existence des sociétés humaines: on voit, de même, encore plus sensiblement, que l'étude dynamique de la vie kollektive de l'humanité constitue nécessairement la théorie positive du progrês social, qui, en écartant toute vaine pensée de perfectibilité absolue et illimitée, doit naturellement se réduire a la simple notion de ce développement fondamental« (l. c. p. 232). Eine Art »d'anatomie soziale« konstituiert die »sociologie statique«. sie studiert die »actions et réactions mutuelles qu'exercent continuellement les unes sur les autres toutes les diverses parties quelconques du système social« (l. c. p. 235. vgl. p. 383 ff.). Die Bedeutung des Milieu ist zu berücksichtigen. Die Gesellschaft ist eine Art Organismus, ein »organisme collectif«. Hauptfaktor der geschichtlichen Entwicklung ist der (mit Gefühlen und Strebungen verbundene) Intellekt (l. c. p. 442 ff.). Die soziale Dynamik stützt sich auf die »succession konstante et indispensable des trois états généraux primitivement théologique, transitoirement métaphysique, et finalement positif, par lesquels passe toujours notre intelligence« (l. c. p. 463 ff.). Ihnen entsprechen die Stadien des Übergewichts der Priester und Krieger, dann der Philosophen und Juristen, endlich der Gelehrten und Industriellen (l. c. p. 504 ff.. V - VI. ähnlich schon SAINT- SIMON, von dem Comte beeinflußt ist). Die soziale Evolution tendiert zur höchsten Ausbildung des Intellektes und der Humanität. »Nous avons reconnu, que le sens général de l'évolution humaine consiste surtout à diminuer de plus en plus l'inévitable prépondérance, nécessairement toujours fondamentale, mais d'abord excessive, de la vie affective sur la vie intellectuelle, ou suivant la formule anatomique, de la région postérieure du cerveau sur la région frontale« (l. c. V, 45. vgl. Syst. de polit. posit. 1851 ff.. Catéch. posit.). Noch mehr betont BUCKLE den intellektuellen Faktor der historischen Evolution, während es nach ihm einen primären, selbständigen moralischen Fortschritt nicht gibt. Die Geschichte der Gesellschaften ist vom Naturmilieu stark abhängig (Gesch. d. Civilisat. in Engl. I, 19 ff., 37 ff.). So auch nach AD. BASTIAN (Der Mensch in d. Gesch. 1860). Nach B. KIDD besteht der Fortschritt hauptsächlich im Sittlichen und Religiösen (Social. Evolut., 1895). BASTIAT bemerkt: »Besoins, efforts, satisfactions, voilà le fond général de toutes les sciences qui ont l'homme pour objet« (Oeuvres Vl. 1854, ch. 2). Nach Analogie eines biologischen Organismus betrachtet die Gesellschaft H. SPENCER (vgl. schon Plato, Aristoteles, Stoiker, Bacon, Hobbes, Krause, de Bonald, Saint-Simon, Comte u.a.). Die Gesellschaft selbst ist ein »Überorganisches«, welches viele Ähnlichkeiten (auch Unterschiede) mit einem Organismus aufweist. ein Sensorium, Selbstbewußtsein hat sie aber nicht, die soziale Verbindung ist ferner nicht physischer Art, sondern beruht auf Sprache und Schrift, endlich dient die Gesellschaft der Wohlfahrt der Individuen, diese gehen nicht im Ganzen auf, die Gesellschaft entspringt der Nützlichkeit (Princ. d. Eth. § 50. Psychol. II, § 503 ff.). Aber die allgemeinen organischen Entwicklungsgesetze sind auch in der Gesellschaft herrschend: Wachstum und Differenzierung der Struktur und Funktionen, Arbeitsteilung, wechselseitige Abhängigkeit der Teile des sozialen Organismus voneinander, einheitliche Beeinflussung durch äußere und innere Verhältnisse. Es gibt soziale Organe und Gewebe, ein soziales Ektoderm, Ento-, Mesoderm (Ernährungs-, Verteilungs-, Regulierungssystem) u.s.w. Dem Ektoderm entspricht die Klasse der Krieger und Richter, dem Mesoderm die commercielle, dem Entoderm die landwirtschaftlich- industrielle Klasse, dem Nervensystem die regierende Klasse. Außer von der Biologie macht die Soziologie Spencers höchst reichliche Anwendung von der Ethnologie (The Study of Sociol. 1873, deutsch 1886. Princ. of Sociol. 1885 - 96. Descriptive Sociol.). Der soziale Fortschritt geht vom kriegerischen zum industriellen Zustand der Gesellschaft. Diese ist für die Individuen da, daher kein Bevormundungssystem (The Man versus the State, 1884. Individualisten sind auch W. v. HUMBOLDT, Grenz. d. Wirks. d. Staat. S. 53, J. ST. MILL, On liberty, 1859). Nach PAUL LILIENFELD ist die Gesellschaft ein realer, eigenartiger Organismus, dessen Zellen die Individuen sind. Es gibt ein soziales Nervensystem, eine soziale Zwischenzellensubstanz u.s.w. Auch Hemmungs - und Rückbildungserscheinungen treten im sozialen Organismus auf. Das biogenetische (s. d.) Grundgesetz ist hier gültig. Der Fortschritt geht dahin, den physischen Faktor der Entwicklung gegenüber geistigen Bestrebungen in den Hintergrund treten zu lassen (Gedank. üb. d. Socialwiss. d. Zuk. 1873 ff.). Als einen psychischen Organismus, der aus Personen und Gütern besteht, faßt die Gesellschaft A. SCHÄFFLE auf, welcher den Versuch einer »sozialen Psychophysik« macht und die Descendenztheorie (s. d.), die Lehren vom Daseinskampf, von der Auslese, Anpassung u.s.w., social verwertet. Die Soziologie zerfällt in allgemeine und spezielle Soziologie. erstere ist Philosophie der besonderen Socialwissenschaften. In beiden Teilen wird die Morphologie, Physiologie Psychologie, Entwicklung der Gesellschaft und des Staates untersucht. Letzterer ist eine Gesamtpersönlichkeit (s. Volksgeist) (Bau u. Leb. d. social. Körp. 2. A., 1896). In praktischer Hinsicht ist Schäffle Staatssocialist. »Organisisten« biologisch- psychologischer Art sind NOVICOW (Conscience et volonté soziales, 1897), R. WORMS (Organisme et société), nach welchem die Gesellschaft ein Selbstbewußtsein besitzt, J. IZOULET (La cité moderne, 1895), E. LITTRÉ, P. LACOMBE, R. DE LA GRASSERIE (Mémoire sur les rapports entre la psychol. et la sociol. 1898), E. DE GREEF (Introduct. à la sociol. 1886/96. Les lois sociol. 1893), E. DE ROBEHTY (La sociol. 1880), ESPINAS, der eine gute Klassifikation der Tiergesellschaften gibt (Les societ. anim.9, 1878). Die Gesellschaft hat ein eigenes Bewußtsein. »Une société est une conscience vivante ou un organisme d'idées« (l. c. p. 540). »L'idée d'une société est celle d'un concours permanent que se prêtent pour une même action des individus vivants, séparées« (l. c. p. 157). Nach RENOUVIER ist jeder Organismus eine Gesellschaft (Nouv. Monadol. p. 326). Die Gesellschaft ist erst ein Organismus, später (beim Menschen) nicht mehr. Die Individuen können »contrarier l'interet social« (l. c. p. 327). Das ist auch die Ansicht von A. FODILLÉE. Es gibt kein soziales Selbstbewußtsein, keinen »Volksgeist«, wenn auch die Gesellschaft dem Organismus analog, ja selbst lebendig ist (Scienc. soc. p. 26 ff., 78 ff., 92, 240 ff.). Die Gesellschaft ist ein »organisme contractuel«, »organisme volontaire« (l. c. p. 111 ff.), »un organisme qui se réalise en concevant et en se voulant lui-même« (l. c. p. 115). »Toute société est... un concours qui commence mécaniquement par l'égoïsme et la sympathie, et qui s'achève moralement par le consentement des volontés« (l. c. p. 123 f.). »La conservation de tous et le progrès de tout, tel est... L'objet du pacte social et par conséquent le but de l'Etat« (l. c. p. 32). Der Vertrag ist die »idée directrice de la société moderne« (l. c. p. 55). »La pluralité des centres de conscience réfléchit et claire contredit la fusion de ces consciences en une seule et maintient leur séparation mutuelle« (l. c. p. 244 f.). Objekt der Soziologie sind »les conditions et les lois des phénomènes sociaux, la structure et les fonctions du corps social« (l. c. p. 383 ff.). Das Universum kann als »une vaste société d'êtres« betrachtet werden (l. c. p. 417). In aller Entwicklung der Gesellschaft wirken »idée-forces«, Kraftideen. Es gibt (wie nach TARDE, s. unten) eine »logique soziale« (l. c. p. 144). »La logique... est l'expression des lois de l'action réciproque au sein de toute société, c'est-à-dire du déterminisme social« (l. c. p. 143). Psychologisch und teilweise organisistisch lehren J. S. MACKENZIE (An Introd. to Social Philosophy2, 1895), F. H. GIDDINGS, der die Gesellschaft als geistige Organisation auffaßt (Princ. of Sociol. 1896, p. 420) und in dem Willen die soziale Kraft erblickt (l. c. p. 20 ff.). Den Unterschied der höheren, durch apperzeptive Geistestätigkeit, Vernunft, Wille charakterisierten von der bloß triebhaft bewegten Gesellschaft betont auch P. BARTH, der in der Gesellschaft eine geistige Organisation erblickt. »Ein tierischer Organismus behält seine Konstitution, ein sozialer kann sie ändern« (Philos. d. Gesch. S. 111). Das soziale Leben ist »wesentlich Willensleben, und der Wille verbindet sich mit seinesgleichen, um besser den Kampf ums Dasein zu führen« (l. c. S. 224). »Die Gesellschaft wird schon verhältnismäßig früh im Laufe der historischen Entwicklung dem Einflusse des bewußten, nicht mehr ›natürlichen‹, assoziativen, sondern apperzeptiven, wissenschaftlichen Denkens unterworfen« (l. c. S. 108 ff.). Es gibt nur eine Wissenschaft der Schicksale der menschlichen Gattung, die Geschichtsphilosophie. diese ist Soziologie als »Versuch der Wissenschaft der Veränderungen, die die Gesellschaften in der Art ihrer Zusammensetzungen erleiden« (l. c. S. 4 ff.. so auch J. VANNI, Prime linee di un programma critico di sociologia, 1888. vgl. dagegen WUNDT. Log. II 2, 438, 441). Als einen beseelten Organismus betrachtet die Gesellschaft BOSTRÖM. organisist ist L. F. Ward (Dynamic Sociol. 1894. Outlines of Sociol. 1898). Die reine Soziologie beschäftigt sich mit dem Ursprung, Wesen, der Evolution der Gesellschaft (Pure Sociol. 1903, p. VII). Die »applied sociology« sucht die Mittel und Methoden »for the artificial improvement of social conditions« (ib. p. 4) Die »social physiology« ist das Studium der »social activities« (l. c. p. 16). Das Interesse konstituiert die »social forces« (l. c. p. 21). Als soziale (primäre) Ursachen treten zunächst »feeling conative«, dann »intellect telic« auf (l. c. p. 96). Sie stellen den »dynamic« und »directive agent« dar (l. c. p. 99). »The social forces are... psychical, and hence sociology must have a psychologie basis« (l. c. p. 101), die Biologie nur indirekt (ib.). nie »social staties« hat es zu tun »with the creation of an equilibrium among the forces of human society«, die »social dynamics« »with some manner of disturbance in the social equilibrium« (l. c. p. 221 ff.). Die »social mechanics« ist eine Art der allgemeinen Mechanik (l. c. p. 167 ff.). In der Soziologie gilt auch die »law of minimum effort«, das »Prinzip der kleinsten Aktion« (s. d.) (l. c. p. 161 ff., »law of maximum utility«. vgl. O. THON, Amer. Journ. of Sociol. II, 1897, p. 735 f.. TARDE, Log. soc., 1896, p. 182, auf die Sprache angewandt. A. DE CANDOLLE, Hist. des scienc. et des savants2, 1885, p. 368, 454, 543. RATZENHOFER, »Gesetz der Arbeitsscheu«, Sociol. Erk. S. 142). Die sozialen Kräfte gliedern sich in: 1) Physical forces: Ontogenetic, phylogenetic. 2) Spiritual forces: Sociogenetic forces (Moral, Esthetic, Intellektual) (l. c. p. 281. Vgl. Dynam. Sociol. I, 472. Amer. Journ. of Sociol. II, 1896, p. 88. Outlin. of Sociol. ch. 7, p. 148. vgl. Amer. Journ. of Sociol. VII, 1902, p. 475 ff., 629 ff., 749 ff.). Psychologisch ist die Soziologie nach WUNDT (B. Völkerpsychologie, Gesamtgeist). Mit Ablehnung aller falschen Analogien soll doch die geistige Gesamtheit als Organismus, Organisation bezeichnet werden. Im »kollektiven Organismus« ist nur wegen der physischen Isolierung und der selbstbewußten Funktion der dem Ganzen untergeordneten Einheiten deren Selbständigkeit eine freie, und sie ist aktiv (Syst. d. Philos.2, S. 616 ff.. Log. II2, 2, 497 f.). Die kollektiven sind zugleich individuelle Zwecke (Syst. d. Philos.2, S. 620 f.). Die wichtigeren Formen der Gemeinschaft beruhen »ursprünglich auf einer Übereinstimmung der Vorstellungen, Gefühle und Willensrichtungen, die ihnen eine allen Einzelbestrebungen vorangehende Bedeutung verleiht« (l. c. S. 621 f., Eth.3, S. 44D, 453, 458). Die Gemeinschaft als selbstbewußte Willenseinheit wird zu einer Gesamtpersönlichkeit, nur daß bei ihr Selbstbewußtsein und Wille auf zahlreiche individuelle Persönlichkeiten verteilt sind. Die Entwicklung von Normen, die der Gesamtwille selbst seinem Handeln auferlegt, scheidet »die Kulturgemeinschaft von der ihr vorausgehenden, ohne bestimmte Satzungen vermöge der natürlichen Einheit der einzelnen bestehenden Naturgemeinschaft« (Syst. d. Philos.2, S. 625 f.. Log. II2, 2, 611 ff.). Allgemeine Gesetze der Willensentwicklung bekunden sich in den »abwechselnden Evolutionen sozialer Triebe zu willkürlichen Gesellschaftsakten und den an sie sich anschließenden Involutionen willkürlicher Handlungen einzelner zu sozialen Trieben, die wiederum den Individuen sich mitteilen und in ihnen neue auf die Gemeinschaft wirkende Impulse anregen können« (Log. II2 2, 599). Die (höhere) Gesellschaft ist »die Summe aller der Vereine, Genossenschaften und Lebensverbände..., die auf der freien Vereinigung der einzelnen beruhen«. Ideales Ziel ist die »Zusammenfassung aller Sonderkräfte zu einer höchsten organischen Einheit«, der sich die Kulturgesellschaft der Menschheit nähern wird (Syst. d. Philos.2, S. 629 ff.). Zweck aller Geschichtsforschung ist die »Erkenntnis des inneren Zusammenhanges der gesamten geschichtlichen Entwicklung der Menschheit«. Die historischen Gesetze sind »Anwendungen der allgemeinen psychologischen Prinzipien auf die besonderen Bedingungen der geschichtlichen Entwicklung.« Die Philosophie der Geschichte hat die Aufgabe, »die geschichtliche Betrachtung zu dem Inhalt der übrigen Geisteswissenschaften, namentlich der Anthropologie, Völkerpsychologie und Soziologie, in Beziehungen zu setzen und auf Grund dieser Beziehungen zum Aufbau einer allgemeinen Weltanschauung zu verwerten«. In der Geschichte walten keine transzendenten Ideen (wie L. RANKE zu glauben scheint), sondern nur immanente geistige Kräfte. Die Bedeutung der geschichtlichen Tatsachen ist nach ihrem objektiven Wert zu bemessen, der ihnen als Lebensäußerungen der sie hervorbringenden Volksgeister zukommt (Eigen- und Menschheitswert) (Log. II22, 333, 351, 383, ff., 408ff.. Syst. d. Philos. 2, S. 635 ff.. vgl. Eth.2, S. 187 ff.). Nach PAULSEN ist die Gesellschaft ein Organismus höherer Ordnung (Syst. d. Eth. II5. 325). Der Staat ist »die Organisation eines Volks zu einer souveränen Willens-, Macht- und Rechtseinheit« (l. c. S. 512 ff.).
Vergleiche ferner:
- Soziologische Grundbegriffe (Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft)
- Begriff der Soziologie (Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft)
- Ästhetik, Ethik, Soziologie (Vorländer, Gesch. d. Phil.)