Sittlichkeit - Moderne III

Universalistisch-evolutionistisch, anti-eudämonistisch, dabei metaphysisch fundiert ist der Sittlichkeitsbegriff E. v. HARTMANNS, der eine Phänomenologie des Sittlichen gibt. Die Sittlichkeit besteht in der Mitarbeit an der Abkürzung des Leidens- und Erlösungsweges des Absoluten (Phänomenol. d. sittl. Bewußts. S. 840). »Die Sittlichkeit erschöpft sich darin, daß das Individuum sich (um der Wesensidentität aller willen) der objektiven Teologie des Weltprocesses hingibt« (Zur Gesch. u. Begr. d. Pessim.2, S. 287. vgl. Eth. Stud.). In anderer Weise lehrt einen universalistischen Evolutionismus WUNDT. Die Sittlichkeit ist ein Produkt des Gesamtwillens (s. d.). sie geht mit dem Rechte als Differenzierung der Sitte (s. d.) aus dieser hervor. Zwei psychologische Grundmotive sind Ehrfurchts- und Neigungsgefühle (Eth.2, S. 264). Die Entwicklung der sittlichen Anschauungen zerfällt in drei Stadien: 1) Beschränktheit der sozialen Triebe durch das Selbstgefühl, Schätzung äußerer Vorzüge als Tugenden. 2) Einfluß religiöser Vorstellungen, Differenzierung der Lebensanschauung. 3) Einfloß der Philosophie, humane Tendenz (l. c. S. 265). Von Bedeutung für die Entstehung sittlicher Zwecke ist die »Heterogonie der Zwecke« (s. d.). Die handelnde Persönlichkeit als solche ist niemals eigentliches Zweckobjekt der, Sittlichen (l. c. S. 497). Egoismus und Altruismus haben nicht an sich sittlichen Wert (l. c. S. 497). Den individuellen sind die sozialen, diesen die humanen Zwecke übergeordnet (l. c. S. 493 ff.). Der letzte Zweck des sittlichen Strebens wird zu einem idealen, empirisch nie erreichbaren (l. c. S. 504). Die »fortschreitende sittliche Vervollkommnung der Menschheit« ist der nächste Zweck der humanen Sittlichkeit (l. c. S. 507). Die humanen Zwecke bestehen in der Hervorbringung geistiger Schöpfungen (l. c. S. 503). Der sittliche Wert richtet sich nicht nach äußeren Erfolgen, sondern »nach jener sittlichen Energie..., die in der Reinheit der Gesinnung und in der Widerstände überwiegenden Macht der sittlichen Motive zutage tritt« (l. c. S. 606). »Sittlich ist der Wille dem Effect nach, so lange sein Handeln dem Gesamtwillen conform ist, der Gesinnung nach, solange die Motive, die ihn bestimmen, mit den Zwecken des Gesamtwillens übereinstimmen. Motive, die sich auf Zwecke beziehen, die für den Gesamtwillen gleichgültig sind, bleiben sittlich indifferent. Unsittlich aber ist jede Gesinnung, die in einer Auflehnung des Individualwillens gegen den Gesammtwillen besteht. Die letzte Quelle des Unsittlichen ist daher stets der Egoismus« (l. c. S. 633 f.. Syst. d. Philos.2, S. 651 ff.). »Die Ewigkeit der Sittengesetze besteht in ihrem ewigen Werden« (l. c. S. 525). Das Sittliche ist »Willensentwicklung«. Kampf des Willens mit dem Bösen hat statt (l. c. S. 525). Das Glück ist ein Nebenerfolg, nicht Zweck des sittlichen Handelns (Syst. d. Philos.2, S. 660 ff.). Alle unmittelbaren sittlichen Güter sind geistige Schöpfungen. Sittlich sind geistige Zwecke, »sobald sie auf die Förderung eines konkreten geistigen Lebensinhaltes gesichtet sind, vorausgesetzt, daß dabei nicht Mittel zur Anwendung kommen, durch die andere Lebensinhalte geschädigt werden«. »Jede Handlung, die... an der Entfaltung geistiger Kräfte und an der Vergeistigung der Natur durch ihre Umwandlung in ein Substrat geistiger Zwecke mithilft, ist im objektiven Sinne sittlich« (Syst. d. Philos.2, S. 653 ff.. Eth.2, S. 409, 498). Motive sind sittlich, »wenn das erstrebte Gut nur um seiner selbst willen, nicht wegen irgend welcher Nebenzwecke gewollt wird« (Syst. d. Philos.2, S. 659 f.). »Der Mensch lebt, weil es seine Bestimmung ist zu leben. Die Bestimmung dieses Lebens aber besteht in dem, was es seinem eigensten Wesen gemäß hervorbringt. Dieses eigenste Wesen des Lebens ist geistiges Leben. Auf die Erzeugung geistiger Schöpfungen ist daher unmittelbar oder mittelbar alles Leben gerichtet. Jede solche Schöpfung und jedes ihr dienende Hülfsmittel ist, weil der Zweck des Lebens deren Erreichung ißt, ein Gut. Güter rein um ihrer selbst, nicht um äußerer fremdartiger Zwecke willen erstreben und zu ihrer Erstrebung mithelfen, ist sittliches Leben« (l. c. S. 662 f.). - JODL bemerkt: »Das Sittliche selbst ist... etwas Wechselndes, Fortschreitendes und wie alles sich Entwickelnde unter Umständen auch der Rückbildung unterworfen« (Gesch. d. Eth. I, 38). Nach H. CORNELIUS sind moralisch positiv zu bewertende Wollungen und Handlungen jene, »deren Ziel nach dem Stande der jeweiligen Erfahrungen des wollenden Individuums als das relativ wertvollste erscheint« (Psychol. S. 411 f.). - Vgl. P. J. ELVENICH, Die Moralphilos., 1830. J. U. WIRTH, Syst. d. spekul. Eth., 1841. LICHTENFELS, Lehrb. d. Moralphilos., 1846. J. H. FICHTE, Syst. d. Eth.. R. SEYDEL, Eth., 1874. V. KAULICH, Syst. d. Eth., 1877. A. STEUDEL, Philos. im Umr. II, 1, 1877. HARMS, Ethik, 1889. J. WITTE, Grdz. d. Sittenlehre, 1882. J. BAUMANN, Handb. d. Moral, 1879. LETOURNEAU, L'évol. de la morale, 1887. H. WOLFF, Handb. d. Eth.. KIRCHNER, Kat. d. Eth.2, 1898. W. JERUSALEM, Lehrb. d. Psychol.3, S. 168 f., u.a. Aus der Organisation, Sympathie, den sozialen Verhältnissen leitet die Sittlichkeit CABANIS ab, aus der Sympathie DESTUTT DE TRACY. Nach JOUFFROY ist das Sittlichgute das bewußte Streben des Menschen, sich mit der allgemeinen Ordnung in Einklang zu setzen (Cours de droit nat. I, 88 ff.. vgl. p. 28 ff.). Nach V. COUSIN ist das sittliche Urteil »un jugement simple, primitif, indécomposable« (Du vrai, p. 347). »La réalité des distinctions morales nous est révélée par ce jugement, mais elle en est indépendante« (l. c. p. 348). Die Pflicht beruht auf dem Guten, nicht umgekehrt (l. c. p. 352, gegen-Kant). Prinzip der Moral ist die Gerechtigkeit (l. c. p. 352. vgl. p. 257 ff.. vgl. J. DROZ, Philos. Morales, 1834). Auf die Lust am Wohlwollen führt die Sittlichkeit KÉRATRY zurück. - PROUDHON betrachtet als Wurzel von Sittlichkeit und Recht das Rechtsgefühl. Nach A. COMTE bestehen im Menschen moralische Anlagen, die aber erst in der Geschichte entwickelt werden, wobei die Intelligenz im Spiele ist. Die sozialen Neigungen fahren zum Altruismus (s. d.), zur Hingebung der Starken für die Schwachen, die Sittlichkeit ist der Inbegriff des social Heilsamen (Catéch. pos. p. 278 ff., 302 ff.. Cours de philos. pos. IV). RENOUVIER betrachtet das Sittengesetz als Imperativ des vernünftigen Bewußtseins, welcher seine Geltung in einer sozialen Gemeinschaft verlangt (La science de la morale, 1869). Nach RIBOT erfordert das kollektive Leben das Bewußtsein »d'une obligation, d'une règle de ce qui doit être fait on évité« (Psychol. d. sent. p. 281). Das Wohlwollen ist etwas Natürliches, biologisch Begründetes. »La tendance à agir dans un sens conservateur et la loi de transfert... sont les agents essentiels de la genèse de l'altruisme.« Es liegt ihm die »tendance à déployer notre activité créatrice« zugrunde (l. c. p. 287 ff.). Vgl. FOUILLÉE, Critique des syst. de morale contempor.. CH. DUNAN, Les principes de la morale, Revue Philos. Tom. 51, 1901, P. 252 ff., 360 D., 594 ff., u.a.

Auf die Vernunft gründet die Sittlichkeit GENOVESI. Nach GIOBERTI erzeugen primäre Urteile das moralische Gesetz (Del buono, C. 8). ROSMINI bestimmt die Ethik (moralische Deontologie) als Anleitung des Menschen zur sittlichen Vollkommenheit. Grundlage des Sittlichen ist der göttliche Wille. Oberstes Sittengesetz ist, jedes Seiende in seiner Ordnung, in seinem Wesen zu würdigen (Opere di filos. morale I, p. 153 ff.). Die Autonomie des Willens im Sittlichen lehrt GALUPPI.

Eine religiöse Grundlage hat die Sittlichkeit nach DAN. BOËTHIUS, S. GRUBBE. So auch nach BIBERG. »Sittlich ist diejenige Bestimmtheit des Willens, wodurch. das menschliche Individuum den rein vernünftigen, d.h. göttlichen Willen zu seinem eigenen macht« (bei Überweg-Heinze, Gr. d. Gesch. d. Philos. IV9, 503). Nach BOSTRÖM hat die Sittlichkeit ihre Wurzel im übersinnlichen Wesen des Menschen und zielt auf Herstellung des Reiches Gottes durch die Menschheit. - Nach HÖFFDING entsteht das ethische Gesetz, »wenn die Lebensbedingungen des umfassenderen Ganzen in bestimmten Gedanken formuliert werden« (Eth.2, S. 42). Grundsatz der humanen Ethik ist, »daß die Handlungen für möglichst viele bewußte Wesen möglichst große Wohlfahrt und möglichst großen Fortschritt erzielen sollen« (l. c. S. 42). »Alles ethische Streben ist Kulturtätigheit, aber nicht alle Kulturtätigkeit ist ethisch« (l. c. S. 134). Einen geläuterten (sozialen) »Utilitarismus« (s. d.), welcher die Ursprünglichkeit sozialer Gefühle anerkennt und betont, daß durch Assoziation das Sittliche, das ursprünglich nur Mittel ist, an und für sich als ein Gut gewertet wird (Log. II4, p. 416 f.) lehrt J. ST. MILL. Den Intuitionismus (s. d.) verbindet mit dem Utilitarismus H. SIDGWICK. Was für den einzelnen Pflicht ist, muß für alle Menschen unter ähnlichen Umständen Pflicht sein. Das (richtige) Urteil: Etwas ist begehrenswert, ist gültig für alle Menschen. Das Begehrenswerte ist das, was begehrt werden soll, und das ist ein befriedigender Gefühlszustand für alle Wesen (Meth. of Eth.3, p. 55 ff., 71 ff., 401. vgl. Überweg-Heinze, Gr. d. Gesch. d. Philos. IV 9, 435 f.). A. BAIN erklärt: »The Ethical end that mern are tending to and may ultimately adopt without reservation, is human Welfare, Happiness, or Beiny and Well-being combined, that is, Utility« (Ment. and Mor. Sc. p. 442 ff., 460 ff.. vgl. p. 385 ff.). - Nach CH. DARWIN sind dem Menschen soziale Instinkte angeboren. Er hat ferner die Fähigkeit, »seine vergangenen und zukünftigen Handlungen oder Beweggründe miteinander zu vergleichen und sie zu billigen, oder zu, mißbilligen« (Abstamm. d. Mensch., dtsch. von Carus, S. 91 ff., 104 ff.). H. SPENCER betont, die Erscheinungen des sittlichen Handelns seien Entwicklungsgesetzen unterworfen (Princ. d. Eth. I 1, § 24). Gut ist ein Handeln, wenn sein Gesamtresultat freudig oder schmerzlich ist (l. c. § 16). Gut ist im höchsten Sinne das Handeln, wenn es die größte Summe des Lebens für den einzelnen wie für die Menschen überhaupt erzeugt (l. c. § 8). Organisierte Erfahrungen vom Nützlichen erzeugen die moralischen Gefühle, die als solche schon also vererbt, ursprünglich sind (l. c. § 46). Der Zwang der Pflicht geht so in spontane Pflichtgefühle über (l. c. § 47). Letzter Endzweck ist Förderung des Lebens der Individuen in der Gesellschaft (l. c. § 50). P. CARUS betrachtet als überindividuellen Zweck der Ethik das gesellschaftliche Leben und dessen Wohlfahrt (The Ethical Problem, 1890, III, p. 33 ff.). HUXLEY erblickt den sittlichen Fortschritt im Kampfe gegen die Natur (Evolut. and Ethics, 1893). Aus dem Zusammenwirken von Gefühlen der Lust und Unlust mit dem sozialen Milieu leitet das Sittliche A. BARATT ab (Physical Ethics, 1869). Aus der natürlichen Selbsterhaltung und der Vervollkommnungstendenz der Organismen EDITH SIMCOX (Natural Law, 1877). Einen sozialen Utilitarismus lehrt LESLIE STEPHEN. Die Sittlichkeit ist der Inbegriff des die Gesellschaft Erhaltenden, hat subjektiv ihre Wurzel in der Sympathie. Das Gewissen ist der »public spirit of the race«, im einzelnen organisch geworden (Science of Ethics, 1882. The English Utilitarians, 1900. Überweg IV9, 460). SAM. ALEXANDER bestimmt als das individuell Gute die Einhaltung der Harmonie zwischen den verschiedenen Funktionen der menschlichen Natur. Social gut ist die der gesellschaftlichen Stellung entsprechende Handlungsweise. Sittlicher Endzweck ist das im Gleichgewichte erhaltene Handeln aller Personen. Die Sittlichkeit ist beständigem Kampfe, beständiger Entwicklung unterworfen (Moral Order and Progress2, 1891. Überweg IV9, 461). Zur Religion setzt die Sittlichkeitssauction in Beziehung B. KIDD (Social Evolution, 1894). Die Lehre CH. DARWINS von der Entwicklung der sittlichen Gefühle durch natürliche Auslese aus primären sozialen Neigungen bildet weiter A. SUTHERLAND (The Origin and Growth of the Moral Instinkt, 1898).

Ethische Evolutionisten sind ferner WILLIAMS (Evolutional Ethics, 1893), J. FISKE (The Destiny of Man, 1884), A. R. WALLACE, J. C. MORISON, P. BIXBY (The Ethics of Evolution, 1900), L. F. WARD u.a. - Auf »Autorität« begründet die Ethik BALFOUR (The foundations of Belief, 1895). Eine Gesinnungsethik lehrt MARTINEAU. Die moralische (vergleichende) Wertschätzung ist unmittelbar, primär. es gibt eine »graduated scale of excellence« in unseren Motiven. Gut ist jede Handlung, welche gegenüber einem niedrigeren dem höheren Motive folgt. Die Autorität des Gewissens geht auf göttliches Gebot zurück, das in uns wirksam ist (Types of Ethical Theory3, 1891, p. 32 ff., 57 ff.. Überweg IV9, 466 f.). In der Selbstverwirklichung des menschlichen Wesens, d.h. in der Beherrschung der Sinnlichkeit durch die Vernunft, den vernünftigen Willen (will-reason) erblickt den Sittlichkeitszweck S. LAURIE (Philos. of Ethics, 1866). Den Intuitionismus vertritt LECKY (Sittengesch. I S. 59 f., 73 f., 89 f.). GREEN setzt die Sittlichkeit in Streben nach möglichst vollkommener Selbstverwirklichung des wahren Wesens des Subjekts. das Leben nach der Vernunft ist Endzweck des sittlichen Strebens (Prolegom. to Ethics2, 1884. Philos. Works, 1886 ff.. Überweg IV9, 483). Eine Persönlichkeitsethik lehrt J. SETH. Ideal ist die harmonische Ausbildung von Sinnlichkeit und Vernunft. Ethische Aufgabe ist »seif-realisation«, »realisation of self-hood« (»be a person«) (A Study of Ethical Principles3, 1898). Vgl. WHEWELL, Lectures on Systematic Morality, 1846 (Intuitionismus). F. D. MAURICE, Lectures on Social Morality, 1870. Moral and Metaphysical Philos., 1872. - Vgl. LUTHARDT, Gesch. d. christl. Eth., 1888/93. VORLÄNDER, Gesch. d. philos. Moral V. COUSIN, Hist. de la philos. morale au 18. siècle. JANET, Hist. de la philos. morale. LESLIE STEPHEN, History of English Thought in the 18. Century.


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