KANT erklärt: »Alle Seelenvermögen oder Fähigkeiten können auf die drei zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen« (Krit. d. Urt., Einl.). »Der Ausübung aller liegt aber doch immer das Erkenntnisvermögen, obzwar nicht immer Erkenntnis... zum Grunde. Also kommen, sofern vom Erkenntnisvermögen nach Prinzipien die Rede ist, folgende obere neben den Gemütskräften überhaupt zu stehen: Erkenntnisvermögen - Verstand, Gefühl - Urteilskraft, Begehrungsvermögen - Vernunft« »Es findet sich, daß der Verstand eigentümliche Prinzipien a priori für das Erkenntnisvermögen, Urteilskraft nur für das Gefühl der Lust und Unlust, Vernunft aber bloß für das Begehrungsvermögen enthalte. Diese formalen Prinzipien begründen eine Notwendigkeit, die teils objektiv, teils Subjektiv, teils aber auch dadurch, daß sie subjektiv ist, zugleich von objektiver Gültigkeit ist.« »Die Natur also gründet ihre Gesetzmäßigkeit auf Prinzipien a priori des Verstandes als eines Erkenntnisvermögens. die Kunst richtet sich in ihrer Zweckmäßigkeit a priori nach der Urteilskraft, in Beziehung aufs Gefühl der Lust und Unlust. endlich die Sitten (als Produkt der Freiheit) stehen unter der Idee einer solchen Form der Zweckmäßigkeit, die sich zum allgemeinen Gesetze qualifiziert, als einem Bestimmungsgrunde der Vernunft in Ansehung des Begehrungsvermögens. Die Urteile, die auf diese Art aus Prinzipien a priori entspringen, welche jedem Grundvermögen des Gemüts eigentümlich sind, sind theoretische, ästhetische und praktische Urteile« (Üb. Philos. überh. S. 174 f.. WW. VI, 402 ff.).
Das »Vorstellungsvermögen« legt den Bewußtseinsvorgängen zugrunde REINHOLD (Vers. ein. Theor. d. Vorstell. S. 62, 188 ff., 190, 222, 270, 273, 473). So auch CHR, E. SCHMID. »Alle erkennbaren Vermögen des menschlichen Gemütes haben die gemeinschaftliche Bestimmung des Vorstellungsvermögens, d.h. alles, was durch das Gemüt möglich ist, ist entweder selbst Vorstellung oder nur durch Vorstellung möglich« (Empir. Psychol. S. 172. vgl. 9.153, 158 ff.). Ähnlich JACOB (Erfahrungsseelenl. § 17). Drei Seelenvermögen: Erkenntnis, Gefühl, Begehren, unterscheidet FRIES (Psych. Anthrop. §10, 17). So auch F. A. CARUS (Psychol. I, 115 ff.), BIUNDE (Empir. Psychol. II, 61 ff.), ferner G. E. SCHULZE (Psych Anthr. S. 84 ff.), welcher betont, in Wirklichkeit komme »das Erzeugnis der einen Kraft mit dem der andern innigst verbunden vor« (l. c. S. 88). Zwei Seelenkräfte, Wollen und Denken, unterscheidet CHR. WEISS, nach welchem die primitiven Seelenzustande das »Gefühl« sind (Wes. u. Wirk. d. menschl. Seele). Aus ihm entspringen Erkennen und Streben. vgl. KRUG (Grundlin. zu ein. neuen Theor. d. Gef. S. 102 ff.). Die Einheit der Seele lehren HERDER, JACOBI u.a.
Nur ein Seelenvermögen, die Aufmerksamkeit, nimmt LAROMIGUIÉRE an (Leçone de philos., 1815/18). AMPÈRE unterscheidet »sentir, agir, comparer pour classer, expliquer par des causes« (vgl. Adam, Philos. en France p. 173). Nach V. COUSIN gibt es drei Seelenvermögen: »sensibilité, raison, activité volontaire« (Du vrai, p. 32). AD. GARNIER unterscheidet: bewegende Kraft, Neigung, Wille, Intelligenz (Trait. des facult.). E. COURNAULT unterscheidet: Wahrnehmung, Instinkt, Reflexion, Moralität (De l'âme, 1855, III, 87 ff.. vgl. I, 48 f., II, 63).
Nach WADDINGTON gehören die Kräfte unabtrennbar der Seele an (Seele d. Mensch. S. 155). Empfinden (Gefühl), Denken, Wollen sind Grundfunktionen (l. c. S. 159). Nach RENOUVIER stellen die »propriétés de l'âme« »différants aspects de ses fonctions« dar (Nouv. Monadol. p. 97). A. FOUILLÉE betont die »unite indissoluble du penser et de l'agir«. Die Seelentätigkeit ist »sensitif, émotif, appétitif« zugleich (Psychol. d. id.-forc. I, p. IX f.). »Tout état de conscience est idée autant qu'enveloppant un discernement quelconque, at il est force en tant qu'enveloppant une préférence quelconque« (l. c. p. X). Die Einheit der psychischen Funktion betonen auch RIBOT u.a. - Seelenvermögen lehren GALUPPI u.a., während ROMAGNOSI und andere italienische Psychologen sich gegen die abstrakten Seelenvermögen erklären. Nach FERRI sind Sensation, Reflexion, Intellektion nur Modi des einen Bewußtseins (La psychol. de l'assoc. p. 208 ff.).
Nach C. G. CARUS sind die Seelenvermögen »eigentlich nur besondere Strahlen der einen Flamme der Seele« (Vorles. S. 410 f.). Sie entstehen durch Teilung der Seele nach drei Richtungen, als Sinn, Besinnen (Wahrnehmung, Vernunft), Begehren (Wille) (l. c. S. 169 ff.). Empfinden, Denken, Trieb unterscheidet SCHUBERT (Gesch. d. Seele). Die drei Elementarrichtungen der Wirksamkeit der Seele an der Leiblichkeit sind das Gestalten (Bilden), Empfinden, Bewegen (Lehrb. d. Mensch. u. Seelenk. S. 101 ff.). ESCHEMMAYER findet drei »Hauptseiten« des geistigen Organismus: Erkenntnis, Gefühl, Wille. Jede dieser Seiten ist in Vermögen geordnet (Psychol. S. 13), die zugleich »Enwicklungsprocesse« sind (l. c. S. 34). Drei Seelenvermögen nimmt auch CHR. KRAUSE an. je nach dem Vorwalten eines Faktors ist zu unterscheiden Erkennen, Fühlen, Wollen (Vorles. S. 141 ff.). »Die unmittelbare Erfahrung an sich selbst lehrt jeden Geist die Einheit und Unteilbarkeit aller geistigen Tätigkeit. Aber die eine Tätigkeit des Geistes hält in sich einen Organismus mehrerer untergeordneter Tätigkeiten, welche sich in die Hervorbringung der vom Geist erzeugten Harmonie der Ideen und der Welt des Individuellen symmetrisch teilen. Die obersten besonderen Tätigkeiten des Geistes sind Verstand, im edelsten Sinne dieses vieldeutigen Worts, und Phantasie, und Über beiden, sie beherrschend und leitend, die gemeinhin sogenannte Vernunft... Keins dieser drei Vermögen ist ja allein, sondern alle drei sind in jedem Momente zugleich tätig« (Urb. d. Menchh.3, S.11). HILLEBRAND spricht von »Selbstrichtungen«, »Funktionen« der Seele: Intelligenz, Wille, Phantasie (Philos. d. Geist. I, 266 f.). SCHLEIERMACHER unterscheidet aufnehmende und ausströmende (spontane) Tätigkeit (Psychol. S. 419). Als Stufen der Entwicklung des Geistes betrachtet die Seelenvermögen, »Tätigkeitsweisen« (Encykl. § 440) HEGEL. »Das Selbstgefühl von der lebendigen Einheit des Geistes setzt sich von selbst gegen die Zersplitterung desselben in die verschiedenen, gegeneinander selbständig vorgestellten Vermögen, Kräfte oder, was auf dasselbe hinauskommt, ebenso vorgestellten Tätigkeiten« (l. c. § 379). »Das Isolieren der Tätigkeiten macht den Geist ebenso nur zu einem Aggregatwesen und betrachtet das Verhältnis derselben als eine äußerliche, zufällige Beziehung« (l. c. § 445). Die »Vermögen« sind nur Stufen der Befreiung des Geistes in seinem Kommen zu sich selbst (l. c. § 442. Vgl. § 379, 471). So auch J. E. ERDMANN (Grundr. § 93), MICHELET u.a. Die Unterscheidung der Vermögen von der Seele selbst bekämpft W. ROSENKRANTZ. Die »Selbstbestimmung« ist das Wesen der menschlichen Seele (Wiss. d. Wiss. II, 86 f.). Entschiedener Gegner aller Vermögenspsychologie ist HERBART (Met. I, 88. Psychol. als Wiss. II, § 152, u. Einl.). Die Seelenvermögen sind nichts als »Klassenbegriffe«. Gefühle und Begierden sind »nichts neuen und außer den Vorstellungen«, nur »veränderliche Zustände derjenigen Vorstellungen, in denen sie ihren Sitz haben« (Lehrb. zur Einl.5, § 159, S. 300 f.). Auf das Vorstellen (s. d.) ist alles zurückzuführen. So auch G. SCHILLING: »Das geistige Leben ist nicht in Vermögen zu suchen, sondern in den Vorstellungen selbst« (Lehrb. d. Psychol. S. 212. vgl. E4. 208 ff.). Ferner u.a. VOLKMANN, welcher bemerkt: »Eine bloße Möglichkeit ist das Vermögen nicht, denn Möglichkeiten bewirken nichts. die wirkliche Veränderung ist es auch nicht, denn diese geht erst aus ihn hervor. wohl aber soll es der wirkliche Grund der Möglichkeit sein. ein Wesen ist das Vermögen nicht, denn das Wesen ist die Seele, ein wirkliches Geschehen ist es auch nicht, denn das ist der psychische Vorgang. wohl aber soll es etwas sein zwischen dem Wesen und dessen Tätigkeiten - ist damit nicht schon die völlige Leerheit des Begriffes selbst eingestanden?« (Lehrb. d. Psychol. I4, 16). - Nach BENEKE sind die ausgebildeten Formen der Seele nicht Wirkungen ebenso vieler Vermögen, sie sind wohl »prädeterminiert im angeborenen«, aber nicht präformiert (Lehrb. d. Psychol.3, § 10). Wohl gibt es aber einfache »Urvermögen«, »Urkräfte«, aber nicht als Möglichkeiten, sondern als Aktualitäten (l. c. § 19). »Die Urvermögen der Seele sind schon vor allen Eindrücken, oder grundwesentlich, mit einem Aufstreben, einer Spannung behaftet und aller Aktivität von seiten unserer Seele voran. Diese Spannung der Vermögen wird dann allerdings aufgehoben durch die Befriedigung, welche ihnen die Ausfüllungen durch die von außen kommenden Reize gewähren« (Pragm. Psychol. I, 33. Neue Psychol. S. 214. Lehrb. d. Psychol. § 23). Ein Vermögen der ausgebildeten Seele »wächst in dem Maße, wie mehrere Angelegtheiten (s. d.) gebildet werden« (l. c. § 298). Jedes Urvermögen strebt schon vor aller Anregung den Reizen entgegen, verlangt nach Erfüllung (l. c. § 167).
Nach LOTZE sind die Seelenvermögen »nichts als harmlose Möglichkeiten, die noch ungeschieden in der spezifischen Natur der Seele liegen und nur das ausdrücken, was die Seele tun oder werden muß, wenn sie in Beziehung zu einer bestimmten Anregung tritt« (Med. Psychol. S. 150 f.). Ursprüngliche (z.B. Fähigkeit der Raumanschauung) und erworbene Vermögen (z.B. Phantasie) sind zu unterscheiden (I. c. S. 339, Met. S. 536. Mikrok. 1, 195 f.). Die Vermögen: Vorstellen, Fühlen und Wollen, sind nur Äußerungsweisen der Seele (Mikrok. I, 188 ff.. Med. Psychol. S. 10). Nach ULRICH sind sie »Wirkungsweisen« einer psychischen Kraft (Leib u. Seele S. 116). Nach FROHSCHAMMER sind Gefühl, Erkenntnis, Begehren durch die gestaltende Kraft der Phantasie geeint (Mon. u. Weltph. S. 54 f.). O. CASPARI lehrt, es seien im primitivsten Seelenelement die Momente von Vorstellung, Gefühl und Begehren verschmolzen. Das wesentlichste Moment ist (wie nach HORWICZ, ZIEGLER u.a.) das Gefühl (Zus. d. Dinge S. 346 ff.).
Nach RÜMELIN ist als erste und elementarste Grundkraft unseres Seelenlebens wohl ein »allgemeiner Tätigkeits- oder Funktionstrieb« anzusehen (Red. u. Aufs. II, 155 ff.). Als Wurzel der psychischen Prozesse betrachtet genetisch den Trieb (s. d.) WUNDT, der, wie viele neuere Psychologen, Empfindung, Gefühl, Wille als Momente des (einheitlichen) Bewußtseins bestimmt. Nach O. AMMON sind die Seelenanlagen »nur differenzierter und an bestimmte Verrichtungen angepaßter Selbsterhaltungstrieb« (Gesellschaftsordn. S. 67). Nach LIPPS gibt es so viele Seelentätigkeiten, als es »Gruppen disparater Empfindungsinhalte gibt« (Gr. d. Seelenleb. S. 24). BRENTANO unterscheidet: Vorstellung, Urteil, Phänomene der Liebe und des Hasses (s. Elemente des Bewußtseins). MEINONG: Vorstellen, Urteilen, Fühlen, Begehren (Werttheor. S. 39). so auch EHRENFELS u.a. Als Klassen von Bewußtseinsvorgängen unterscheidet EBBINGHAUS Empfindung, Vorstellung, Gefühl (Grdz. d. Psychol. I, 167 f.). Nach KREIBIG u.a. ist die Scheidung von Vorstellung, Gefühl, Wille die Scheidung von »verschieden stark hervortretenden Seiten eines gegebenen Gesamtphänomens« (Die Aufm. S. 17).
Gegner der Vermögenspsychologie sind die Assoziationspsychologen (s. d.). A. BAIN unterscheidet »feeling, will (volition), thought (intellect)« als Hauptgruppen (Ment. and Mor. Sc. p. 2. Log. II, 275). Das Bewußtsein (mind) besteht genauer aus: feeling (emotion, passion, affection, sentiment), volition, thought (intellect, cognition). Die »sensations« kommen »partly under feeling, and partly under thought« (Sens. and Int. p. 1 f.). Nach H. SPENCER müssen Vernunft, Vorstellung, Gedächtnis u.s.w. »entweder nur als conventionelle Gruppierungen der Zusammenhänge selbst oder als einzelne Abteilungen der Tätigkeiten, welche zur Herstellung der Zusammenhänge dienen, betrachtet werden« (Psychol. I, § 404). LEWES gebraucht »sfunktion« »for the native endowment of the organ«, »faculty« »for its acquired variation of activity« (Probl. III, 27). BALDWIN unterscheidet »intellect, feeling, will« (Handb. of Psychol. I2. ch. 3, p. 36 ff.). Ähnlich SULLY, als dreifache Arten der »Reaktion« (Outl. of Psychol. ch. 3. Handb. d. Psychol. S. 36 ff.). Nach LADD sind »ideation, feeling, conation« »modes of behaviour, which discriminating consciousness assigns to the one Subjekt of all psychio states« (Psychol. descr. and exp. p. 51). Vgl. Elemente des Bewußtseins, Empfindung, Gefühl, Wille, Trieb, Vorstellung, Intellektualismus, Voluntarismus, Erkenntnisvermögen, Begehren, Streben, Vernunft, Verstand, Phantasie, Gedächtnis, Sinn, Vermögen.