Religion - Dilthey, Wundt, Dorner, Runze


 

Nach CARNERI ist die Religion »das Verhältnis des Menschen zur geistigen Welt auf der Stufe des unvermittelten Gefühls« (Sittl. u. Darwin. S. 56). Aus dem Selbsterhaltungstrieb dem Wunsche nach Hülfe, leitet die Anfänge der Religion SPICKER ab (Vers. ein. neuen Godesberg. S. 279 ff.). Auf die Furcht I gründet den Ursprung der Religion P. RÉE (Philos. S. 82). Nach DILTHEY liegt der Religion die Sehnsucht des Menschen nach dem Vollkommenen, an knüpfend an das Abhängigkeitsgefühl, an Gewissen und Schuld zugrunde (Einl. in d. Geisteswiss. I, 170). Das religiöse Leben ist der »dauernde Untergrund der intellektuellen Entwicklung« (l. c. S. 171). Nach K. LASSWITZ ist Religion »das Gefühl des Vertrauens auf eine unendliche Macht, welche meinen eigenen heiligsten Idealen entspricht« (Wirklichk. S. 233). Nach P. NATORP ißt der Grund der Religion das Ewigkeits- und Unendlichkeitsgefühl (Socialpäd. S. 268 ff.). Die Humanitäts-Religion hat als Kern das Sittliche, aber keine Dogmatik (l. c. S. 333 ff.. Relig. innerh. d. Grenzen d. Humanit. 1894). Nach R. EUCKEN gehört zur Religion, »daß sie der nächsten unmittelbar vorhandenen Welt eine andere Art des Seins, eine neue überlegene Ordnung der Dinge entgegenhält, daß sie eine Zerlegung der Wirklichkeit in verschiedene Reiche und Stufen vollzieht« (Wahrheitsgeh. d. Relig. S. 155 ff.). Das religiöse Problem fordert eine noologische (s. d.) Behandlung (Gesammelte Aufsätze, S. 166 f). AD. SCHOLKMANN erklärt: »Der Glaube bezeichnet die Seite der Erfüllung des menschlichen Wesensgesetzes, durch welche der Mensch sich den überweltlichen Grund seines Wesens vorstellend, fühlend und wollend als das zu eigen macht und als das bewahrt, was er seinem Wesen nach ist, die alles bedingende, daher göttliche Voraussetzung seiner gesamten Lebensführung.« »Der Glaube... in Einheit mit den in seinem Objekt liegenden Voraussetzungen heißt Religion« (Grdl. ein. Philos. d. Christent. S. 85 f.). »Die Grundlage des Glaubens ist das Bewußtsein der Abhängigkeit des Menschen von mancherlei außerhalb seines Wesens liegenden, natürlich gegebenen Dingen und Verhältnissen, daß er in diesen weltbeherrschende, d.h. göttliche Mächte sah und sie als solche verehrte, ist auf einen durch die Gegenwart des Göttlichen in der seelischen Objektivität geleiteten Vorstellungsakt und auf eine Bestätigung der Richtigkeit dieser Vorstellung durch das Gefühl zurückzuführen« (l. c. S. 93). Nach HÖFFDING entspringt das religiöse Gefühl (auf einer höheren Stufe) »aus der Abhängigkeit, in der sich der Mensch nicht nur mit Bezug auf seine physische Existenz, sondern auch besonders mit Bezug auf seine ethischen Zwecke und Ideale dem Dasein gegenüber fühlt, und aus dem Bedürfnisse des Menschen, das Dasein als von solchen Mächten getragen zu betrachten, die diese Ideale behaupten können« (Psychol. S. 364). Der Kern der Religion ist »der Glaube an die Erhaltung des Wertes« (Religionsphilos. S. 13). Der religiöse Glaube ist »die Überzeugung von einer Festigkeit, einer Zuverlässigkeit, einem ununterbrochenen Zusammenhange in dem Grundverhältnisse des Wertes zur Wirklichkeit« (I. c. S. 105). Die religiösen Gefühle sind durch das Schicksal der Werte im Kampf ums Dasein bestimmt (l. c. S. 96. Philos. Probl. S. 96 ff.). Im kosmischen Lebensgefühl wird uns Lust oder Unlust durch die Stellung unserer Persönlichkeit und unserer höchsten Lebenswerte in der Weltentwicklung bestimmt (Eth. S. 459 ff.). Nach WUNDT erwächst das religiöse Gefühl »aus dem Bedürfnis, zwischen den in der äußeren Erfahrung gegebenen Erscheinungen und den sittlichen Trieben oder den Gemütsbewegungen, aus denen dieselben hervorgehen, dem Selbstgefühl und dem Mitgefühl, eine Übereinstimmung herzustellen. Dieses Bedürfnis führt namentlich auf seinen ursprünglichen Stufen den unwiderstehlichen Antrieb mit sich, den Zusammenhang der Dinge und Erscheinungen durch Vorstellungsbildungen zu ergänzen, in denen die ethischen Wünsche und Forderungen ihren Ausdruck finden« (Grdz. d. physiol. Psychol. II4, 523). Religiös sind »alle die Vorstellungen und Gefühle, die sich auf ein ideelles den Wünschen und Forderungen des menschlichen Gemütes vollkommen entsprechendes Dasein beziehen« (Eth.2, S. 48). Natur- und ethische (Kultur-)Religionen sind zu unterscheiden (l. c. S. 80). Religion ist »die konkrete sinnliche Verkörperung der sittlichen Ideale. Was der Mensch von frühe an als Inhalt seines sittlichen Bewußtseins empfindet, das stellt seine Phantasie als eine objektive, aber doch in fortwährenden Beziehungen zu ihm stehende Welt sich gegenüber« (l. c. S. 492). Für die Philosophie kann es nur eine Vernunftreligion geben, welche zu Ideen über alle Erfahrung hinaus fahrt (Syst. d. Philos.2, S. 663 ff.. Einl. in d. Philos. S. 23 ff.). Aber nur in der Form einer idealen sittlichen Persönlichkeit kann das religiöse Ideal als Vorbild des eigenen sittlichen Strebens vorgestellt werden (Syst. d. Philos.2, S. 668 ff.). - Nach A. DORNER ist der Ursprung der Religion das metaphysische Bedürfnis, welches im Sinnlichen Übersinnliches (Geister) setzt, das Einheitsbedürfnis des Geistes, das ihn nach einer Ausgleichung des Gegensatzes zwischen sich und der Natur suchen läßt (Gr. d. Religionsphilos. S. 67 ff.). Der Mensch kann seine Abhängigkeit von der Natur nur überwinden. »wenn es eine Macht gibt, die der Naturobjekte mächtig ist« (l. c. S. 67). Die Religion ist »die Beziehung des Ich zu einer dem Ich übergeordneten transzendenten Sphäre« (l. c. S. 83). Die Popularreligion ist Volksmetaphysik (l. c. S. 126 f.). Die Religion ist Subjektiv-objektiv (l. c. S. 132). Die Erscheinungen der Gottheit sind »gesta Dei per hominem« (l. c. S. 145). Das Ideal der Religion erfordert, »daß alle Bestimmtheiten in der Welt auf Gott zurückgeführt werden können, daß alle unsere Betätigungen als gottgewollte geschehen« (l. c. S. 177). Der »Religion der Gottmenschheit« ist »die Gottheit dem Menschen als belebender, alle Kräfte steigernder Geist immanent, ohne daß sie deshalb aufhörte, der alle einzelnen Seelen überragende absolute Geist zu sein, dem immer neue Ströme des Lebens entquellen« (l. c. S. 179). G. RUNZE (Stud: zur vergl. Religionswiss. I, 1889) leitet eine der Auslösungen der religiösen Vorstellungen aus der Sprache und ihrem metaphorischen Charakter, aus dem »glottopsychischen« Prozess ab. »Namentlich das sprachliche Genus und die durch dasselbe sich mehr und mehr befestigende Eintragung persönlicher Attribute in das Naturobjekt wird Anlaß zur Umkleidung der geheimnisvollen Naturmächte mit menschenähnlichen Eigenschaften« (Kat. d. Rel. S. 107 ff.). Das Wesen der Religion selbst muß psychologisch begründet werden (l. c. S. 112 ff.). - Die Vertreter der »ethischen Kultur« (s. d.) führen die Religion auf Moral zurück. - Vgl. G. BIEDERMANN, Religionsphilos., 1887. OELZELT- NEVIN Die Grenzen des Glaubens, 1885. FR. ROHMER, Wissensch. u. Leben I, 1871. ULRICI, Religionsphilos., Realencykl. f. prot. Theol. XII, 1883. HEMAN, Der Urspr. d. Relig. 1881. STEINTHAL, Zeitschr. f. Völkerpsychol. VIII, 1876. STANTON COIT, Die eth. Bewegung in der Relig. 1890. SALTER, Die Religion der Moral, 1885. ZIEMSSEN, Die Relig. im Lichte d. Psychol. 1880. E. KOCH, Die Psychol. in d. Religionswissensch. 1890. J. TYNDALL, Relig. u. Wissensch. 1874. TH. ZIEGLER, Relig. u. Religionen 1893. TIELE, Einleit. in d. Religionswissensch. 1899. MARTINEAU, A Study of Religion 1889. SEELEY, Natural Religion, 1882. K. STEFFENSEN, Gesammelte Aufsätze, 1890. M. MÜLLER, Natural Relig. 1889. Physical Relig. 1890. Anthropological Relig. 1891. H. SCHWARZ, Psychol. d. Will. S. 67 f.. RIBOT, Psychol. d. sent. II, ch. 9. RAOUL DE LA GRASSERIE, Des relig. comparéees au point de vue sociologique, 1899. De la psychologie de relig. 1899. L. F. WARD, Pure Sociol. p. 134, 188f., 265, 395, 419, 501 f., 548. U. VAN ENDE, Histoire naturelle de la croyance, 1887. F. MACH, Das Religions- u. Weltproblem. GLOGAU, Vorles. üb. Religionsphilos.. CHANTEPIE DE LA SAUSSAIE, Lehrb. d. Religionsgesch.2. ACHELIS, Archiv f. Religionswissensch. 1898 ff. Vgl. Rechtsphilosophie, Gott, Glaube, Theismus, Deismus, Pantheismus, Panentheismus, Offenbarung, Unsterblichkeit, Schöpfung.

 

 


Vergleiche ferner:

- Religion (Kirchner, Wörterb. d. phil. Grundbegr.)

- Religionsphilosophie (Kirchner, Wörterb. d. phil. Grundbegr.)

- IV. Religionssoziologie (Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft):

- § 1. Die Entstehung der Religionen

- § 2. Zauberer — Priester

- § 3. Gottesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu

- § 4. »Prophet«

- § 5. Gemeinde

§ 6. Heiliges Wissen. Predigt. Seelsorge

- § 7. Stände, Klassen und Religion

- § 8. Das Problem der Theodizee

- § 9. Erlösung und Wiedergeburt

- § 10. Die Erlösungswege und ihr Einfluß auf die Lebensführung

- § 11. Religiöse Ethik und »Welt«

- § 12. Die Kulturreligionen und die »Welt«

- Feuerbach (Religion, Sensualismus, Ethik) (Vorländer, Gesch. d. Phil.)

- Of Unity in Religion (Bacon, Essays)


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