Religion - Cicero, Lukrez, Herder, Goethe


 

Das Wort »religio« leitet CICERO von »relegere« (auflesen, berücksichtigen) ab. »Qui omnia, quae ad cultum deorum pertinerent, diligenter retractarent et tanquam relegerent, sunt dicti religiosi, ex relegendo« (De nat. deor. II, 28, 72). Nach LACTANTIUS hingegen stammt »religio« von »religare« (anbinden, befestigen). »Vinculo pietatis obstricti Deo et religati sumus, unde ipsa religio nomen accepit« (Inst. divin. IV, 28). So auch AUGUSTINUS u. a. »Naturalis religo« zuerst bei VARRO.

HOMER bemerkt: pantes theôn chateous' anthrôpoi (Od. 3, 48). KRITIAS hält den Glauben an die Götter für die Erfindung eines Staatsmannes zur Bindung der Bürger (didagmatôn ariston eisêgêsato pseudei kalypsas tên alêtheian logô, vgl. Nauck, Fragm. trag. Graec.2, p. 771. Plat., Leg. X, 889 E). CICERO bestimmt die Religion als ehrfurchtsvolle Scheu und Verehrung. Der »consensus gentium« bestätigt ihre Wahrheit. »Ut porro firmissimum hoc afferri videtur, cur deos esse credamus, quod nulla gens tam fera, nemo omnium tam sit immanis, cuius mentem non imbuerit deorum opinio« (Tusc. disp. I, 13, 29). Nach EPIKUR enthält die Volksreligion hypolêpseis pseudeis (Diog. L. X, 123 squ.). LUCREZ erklärt den Glauben an Götter aus den Visionen des Traumes (De rer. nat. V, 1159 squ.) sowie aus der Unkenntnis der Ursachen ihr die Ordnung der Himmelsbewegung (l. c. V, 1181 squ.). Die Furcht vor den Göttern, vor den Naturgewalten schreckt den Menschen, ist verderblich (l. c. V, 1192 squ.).

»Primus in orbe Deos fecit timor« erklärt PETRONIUS (bei STATIUS, Thebais III, 661). Eine spekulative Interpretation des Volksmythus wird von den Neuplatonikern gepflegt.

Daß dem Guten in den Religionen der Völker die innere Offenbarung des Logos (s. d.) zugrunde liegt, wird von verschiedenen Patristikern betont. THOMAS erklärt, »sive autem religio dicatur ex frequenti relectione... sive ex iterata electione eius, quod negligenter amissum est, sive dicatur a religatione« (Sum. th. II. II, 81, 1 c).

Nach MARSIL. FICINUS ist die Religion dem Menschen ureigentümlich. ihr Wesen ist die Vereinigung der Seele mit Gott. NICOLAUS CUSANUS betrachtet als Wesen der Religion die Erkenntnis Gottes und die aus ihr entspringende Glückseligkeit in der Vereinigung mit Gott. Nach MACCHIAVELLI ist die Religion nur ein wertvolles Mittel, das Volk zu bändigen. Ähnlich später BOLINGBROKE (Philos. Works, 1751). Die Ursprünglichkeit und Natürlichkeit der Religion betont CAMPANELLA (Univ. philos. XVI, 2, 4). Vier Arten der Religion gibt es: »religio naturalis, animalis, rationalis, supernaturalis«. Alle Dinge haben Religion, streben zu Gott hin (De sensu rer. II, 26 f.). F. BACON bemerkt: »Leves gustus in philosophia movere fortasse ad atheismum, sed pleniores haustus ad religionem reducere« (De dign. I, 1. vgl. WW. I, p. 449 ff.). Eine einheitliche Grundlage aller Religionen lehren COORNHERT, BODIN, der die Ursprünglichkeit der Religion betont und den Deismus vertritt (Colloqu. heptaplom.), HERBERT VON CHERBURY, nach welchem es eine natürliche Religion gibt, die in der Vernunft der Menschen gegründet ist (De verit. 265 squ.). Diese Religion hat fünf Wahrheiten: l) »esse supremum aliquid numen«, 2) »supremum istud numen debere coli«, 3) »virtutem cum pietate coniunctam praecipuam partem cultus divini habitam esse et semper fuisse«, 4) »horrorem scelerum hominum animis semper incedisse adeoque illos non latuisse vitia et scelera quaecumque expiari debere ex poenitentia«, 5) »esse praemium vel poenam post hanc vitam« (ib.). Teilweise liegt den Religionen politische Berechnung zugrunde. Die natürliche Religion lehrt CH. BLOUNT. Nach HOBBES ist die Religion »metus potentiarum invisibillum, sire fictae illae sint, sive ab historicis acceptae sint publicae« (Leviath. I, 6). »Natural« und »formed- religion« sind zu unterscheiden. Furcht und Sorge um das Leben, Unkenntnis der Ursachen dieser Furcht setzen Gottheiten. Die Religion muß Staatsreligion sein (l. c. I, 12). Nach SHAFTESBURY ist die Religion der menschlichen Natur eingepflanzt, sie entspringt dem Enthusiasmus für das Schöne und Erhabene des Alls. Nach LOCKE besteht die Religion im Gehorsam gegen Gott. Den Deismus (s. d.) vertritt auch M. TINDAL, nach welchem die wabre Religion stets die gleiche Natur hat. Nach HUME ist die Religion etwas Abgeleitetes. »The universal propensity to believe an invisible intelligent power, if not an original instinct, being at last a general attendant of human nature, may be considered as a kind of mark or stamp, which the divine workman has set upon his work« (Natur. histor. of relig., Ess. IV, p. 325, 327). Die Religion entspringt der Sorge um das Leben, der Hoffnung und der Furcht, sowie dem Anthropomorphismus (Dial. concern. nat. relig.). Nach FERGUSON ist die Religion »die Gesinnung der Seele in Verhältnis auf Gott« (Gr. d. Moralphilos. S. 205). Die Evidenz der religiösen Grundwahrheiten betont TH. OSWALD (An appeal to common sense in behalf of religion, 1766/72).

In der Liebe zu und im Gehorsam gegen Gott finden das Wesen der Religion SPINOZA, FÉNELON, PASCAL, LEIBNIZ (vgl. Theod. I) u. a. Zum nationalen Milieu setzt die Religion CHARRON in Beziehung. Die Sache der Religion ist es, »d'élever Dieu au plus haut de tout son effort et baisser l'homme du plus bas, l'abattre comme perdu et pais lui fournir des moyens de se relever« (De la sag. II, 5, 4). Die Religion besteht in der Erkenntnis Gottes und seiner selbst (ib.). Nach VOLTAIRE dient die Religion von Natur aus der Glückseligkeit (Dict. philos., Art. Rel., Théism.). Gut ist nur die natürliche Religion, lehrt DIDEROT (Pensées philos., 1748). Ähnlich ROUSSEAU, der die Wurzel der Religion im Gefühl, in unmittelbarer Gewißheit sucht (Emile IV). Nach HOLBACH entstammt die Religion der Furcht und der Unwissenheit. die Religion ist schädlich (Syst. de la nat.).

LESSING hält die religiösen Wahrheiten für ewige Wahrheiten der Vernunft (Relig. Christi. Entsteh. d. geoffenb. Relig.). H. S. REIMARUS bemerkt: »Wer ein lebendiges Erkennen von Gott hat, dem eignet man billig eine Religion zu.« Die natürliche Religion entstammt der Vernunft (Von d. vornehmst. Wahrh. d. nat. Relig. 1784). Nach BAHRDT ist die Religion praktische Erkenntnis Gottes (Kat. d. nat. Relig.). Nach HERDER ist Religion das Innewerden der göttlichen Kraft in uns, sie ist ein Produkt des Gemütes, des Gewissens, etwas uns Natürliches. Die Ehrfurcht vor der Natur und das staunende Forschen nach der Ursache zeitigt sie. HAMANN betont: »Der Grund der Religion liegt in unserer ganzen Existenz und außer der Sphäre unserer Erkenntniskräfte.« Unmittelbar gewiß sind wir im Glauben an das Göttliche. So auch JACOBI. Nach ihm ist Religion Erkenntnis der Gottheit und Verehrung derselben. - GOETHE bemerkt, »das jeglicher das Beste, was er kennt, er Gott, ja seinen Gott benennt«. Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion.

 

 


Vergleiche ferner:

- Religion (Kirchner, Wörterb. d. phil. Grundbegr.)

- Religionsphilosophie (Kirchner, Wörterb. d. phil. Grundbegr.)

- IV. Religionssoziologie (Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft):

- § 1. Die Entstehung der Religionen

- § 2. Zauberer — Priester

- § 3. Gottesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu

- § 4. »Prophet«

- § 5. Gemeinde

§ 6. Heiliges Wissen. Predigt. Seelsorge

- § 7. Stände, Klassen und Religion

- § 8. Das Problem der Theodizee

- § 9. Erlösung und Wiedergeburt

- § 10. Die Erlösungswege und ihr Einfluß auf die Lebensführung

- § 11. Religiöse Ethik und »Welt«

- § 12. Die Kulturreligionen und die »Welt«

- Feuerbach (Religion, Sensualismus, Ethik) (Vorländer, Gesch. d. Phil.)

- Of Unity in Religion (Bacon, Essays)


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