Okkasionalismus

Okkasionalismus: System der Gelegenheitsursachen (»causae occasionales«), nach welchem a. alle Einzelursachen nur »Gelegenheiten«, Anlässe sind, während die wahrhafte (aktive, bewirkende) Ursache Gott ist. b. die Coordinationen, Wechselbeziehungen von Seele und Leib nicht auf direkter Wechselwirkung (»influxus physicus«, s. d.) beruhen, sondern von Gott (in jedem einzelnen Falle oder von Anfang an) hergestellt werden, so daß jeder physische Vorgang im Organismus für Gott die Gelegenheit gibt, einen entsprechenden psychischen auszulösen, und umgekehrt ein psychischer Vorgang die Gelegenheit für das Auftreten eines physischen ist.

Der allgemeine Okkasionalismus wird schon von arabischen Philosophen (Ascharîya, Motakallimun) gelehrt (vgl. L. STEIN, Arch. f. Gesch. d. Philos. I, 61. II, 207 ff.). »Nullum corpus inveniri, quod actionem aliquam habeat, verum ultimum tantum agens Deum.« »Dicunt etiam secundum istam hypothesin, quando homo movet (h. e. sibi videtur movere) calamum, hominem nequaquam illum movere, sed motum calami esse accidens a Deo in calamo creatum« (bei MAIMONIDES, Doct. perpl. I, 73). »Occasio«, »causa occasionalis« ist nach DUNS SCOTUS das Objekt für die Betrachtung des Intellektes, dieser ist »principalis causa« (vgl. PRANTL, G. d. L. III, 211). Nachdem schon DESCARTES zur Erklärung der Wechselwirkung zwischen den völlig verschiedenartigen Substanzen Leib und Seele der Annahme einer »Assistenz« (s. d.) Gottes bedurfte (Ep. II, 55), wird in der Schule des Cartesianismus, dem die directe Wechselwirkung zwischen Seele und Leib unbegreiflich erscheint, der psychophysische Okkasionalismus ausgebildet. So bei REGIS (Cours de philos. I, p. 123 ff.), CORDEMOY (Discern. de l'âme et du corps). Bei CLAUBERG: »Deus pro sapientia et libertate sua diversissimorum generum actus in homine sic necti voluit, ut alter ad alterum nulla similitudine intercedente referretur.« »Corporis nostri motus tantummodo sunt causae procatarcticae, quae menti tanquam causae principali occasionem dant, has illasve ideas, quas virtute semper in se habet, hoc potius tempore quam alio ex se eliciendi ac vim cogitandi in actum deducendi« (Opp. 219, 221). DE LA FORGE erklärt: »Gravissimam hanc veritatem deducere possumus, quidquid in nobis fit, cuius conscii non sumus, spiritum non esse, qui id faciat.« »Eum, qui corpus et mentem unire voluit, simul debuisse statuere et menti dare cogitationes, quas observamus in ipsa ex occasione motuum sui corporis esse, et determinare motus corporis eius ad eum modum, qui requiritur ad eos mentis voluntati subiiciendos« (Tract. 1674, 16, 14, p. 129. 6, 1, p, 28). Nach GEULINCX stehen der Annahme einer direkten Wechselwirkung zwischen Leib und Seele erstens die totale Verschiedenheit dieser Substanzen, zweitens der Umstand entgegen, daß wir das, dessen wir uns nicht bewußt sind, es zu tun, auch in Wirklichkeit nicht tun. von einer Einwirkung auf den Leib wissen wir nicht, wie sie gemacht wird, also kann sie nicht direkt von uns von unserer Seele ausgehen (»Quod nescis, quomodo fiat, id non facis«). Es erfolgt daher in Leib und Seele alles »absque ulla causalitate, qua alterum hoc in altero causat, sed propter meram dependentiam, qua utrumque ab eadem arte et simili industria constitutum est« (Eth. I, sct. II, § 2). »Meum corpus... quod mihi occasio est percipiendi alia corpora huius mundi« (Eth. annot. p. 204). »Nec motus sequitur in membris meis voluntatem meam, sed voluntatem meam comitatur. Non ideo, inquam, pedes isti moventur, quia ego ire volo, sed quia alius id me volente vult« (l. c. p. 211). Seele und Leib korrespondieren einander »sine ulla alterius in alterum causalitate vel influxu«. Sie verhalten sich wie zwei Uhren, die ständig in Übereinstimmung miteinander gebracht werden (l. c. p. 212. vgl. LEIBNIZ, Gerh. I, 232). Nach MALEBRANCHE ist Gott der »Ort« der Geister und der Ideen (s. d.) der Dinge. Wir haben unsere Vorstellungen unmittelbar von Gott, in Übereinstimmung mit den Dingen, die wir ja in Gott erkennen (Rech. II, 6, 7. III). Damit verwandt ist die Lehre BERKELEYs (s. Idealismus). SPINOZA setzt an die Stelle des Okkasionalismus den psychophysischen Parallelismus (s. d.), LEIBNIZ die prästabilierte Harmonie (s. d.), wonach Gott die Seele gleich im Anbeginne so geschaffen hat, daß sie sich der Reihe nach vorstellen muß, was im Körper geschieht, und der Körper so geschaffen worden ist, daß er von selbst tut, was der Seele entspricht (Theod. I B, § 62). Der Okkasionalismus verlangt eine beständige Reihenfolge von Wundern, einen Deus ex machina (l. c. § 61). CONDILLAC faßt die körperlichen Vorgänge als »causes occasionelles« der seelischen auf (Trait. de sensat. I, ch. 2, § 22). »Les sens ne sont que la cause occasionelle des impressions que les objets font sur nous« (Log. I, 1). So auch BONNET (Ess. de Psychol. C. 37).

SCHOPENHAUER bemerkt: »Allerdings hat Malebranche recht: jede natürliche Ursache ist nur Gelegenheitsursache, gibt nur Gelegenheit, Anlaß zur Erscheinung jenes einen unteilbaren Willens, der das An-sich aller Dinge ist und dessen stufenweise Objektivierung diese ganze sichtbare Welt. Nur das Hervortreten, das Sichtbarwerden an diesem Ort, zu dieser Zeit, wird durch die Ursache herbeigeführt und ist insofern von ihr abhängig, nicht aber das Ganze der Erscheinung, nicht ihr inneres Wesen... Kein Ding in der Welt hat eine Ursache seiner Existenz schlechthin und überhaupt, sondern nur eine Ursache, der es gerade hier und gerade jetzt da ist« (W. a. W. u. V. I. Bd., § 26). Eine Art Okkasionalismus lehrt GIOBERTI. Auch LOTZE (Mikrok. I2, 313 f., Med. Psychol. S. 77 f.). »Überall besteht das Wirken eines a auf ein b darin, daß nach einer allgemeinen Weltordnung... ein Zustand a des a für b die zwingende Veranlassung ist, auf welche dieses b aus seiner eigenen Natur einen neuen Zustand ß hervorbringt« (Gr. d. Psychol. § 67). WINDELBAND bemerkt: »Der Übergang der lebendigen Kraft aus einem Körper in den andern ist das ungelöste Rätsel der Naturwissenschaft: in ihr sind alle Ursachen... nur Gelegenheitsursachen, d h. gegebene Bedingungen, auf deren Eintritt mit einer unbegriffenen, aber als faktisch nachgewiesenen Notwendigkeit das getroffene Ding die ihm eigentümliche Kraft ausübt« (Lehr. vom Zuf. S. 10). Vgl. Kausalität, Ursache, Wechselwirkung.


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