Neigung

Neigung (inclinatio, impulsus) ist ein bestimmter Grad der Disposition zu Willenshandlungen, zu Begehrungen; ein noch höherer Grad ist der Hang (propensio, penchant).

THOMAS AQUINAS erklärt: »Omnis inclinatio est ad simile et conveniens« (Sum. th. II, 8, 1). CHR. WOLF definiert: »Determinatio generalis appetitus ad aliquid appetendum dicitur inclinatio« (Philos. pract. II, § 985). Über die Bildung der Neigungen handelt COCHIUS (Unters. üb. d. Neigungen 1769). Nach GARVE besteht die Neigung in einer Fähigkeit, Begierden zu bekommen (Üb. d. Neigungen S. 98). Die »natürlichen« Neigungen haben ihren Grund in der Beschaffenheit der Seele (l.c. S. 101). Nach FEDER ist Neigung »eine innere Bestimmung zu einer gewissen Art des Wollens« (Log. u. Met. S. 324). PLATNER bestimmt die Neigung als »Richtung des Willensvermögens auf Gattungen des Vergnügens« (Philos. Aphor. II, 461). KANT definiert: »Die dem Subjekt zur Regel (Gewohnheit) dienende sinnliche Begierde heißt Neigung« (Anthropol. § 78). »Die subjektive Möglichkeit der Entstehung einer gewissen Begierde, die vor der Vorstellung ihres Gegenstandes vorhergeht, ist der Hang« (ib.). »Hang ist eigentlich nur die Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subjekt die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt« (Relig. S. 28). Der Mensch hat einen (angeborenen) »Hang zum Bösen« (l.c. S. 27 ff.). Nach E. SCHMID ist die Neigung »das Verhältnis des Begehrungsvermögens zu einer wirklichen Begierde« (Empir. Psychol. S. 351). Nach KRUG ist die Neigung eine Richtung des Triebes. Eine herrschende Neigung ist ein Hang, eine Sucht (Handb. d. Philos. I, 60). Auf Gewohnheit führt Neigung und Hang FRIES zurück (Handb. d. psych. Anthropol. § 64). Ähnlich J. SALAT (Lehrb. d. höh. Seelenk. S. 241). G. E. SCHULZE bestimmt: »Das durch öftere Befriedigung einer Begierde zur Gewohnheit gewordene Begehren macht eine Neigung aus, wovon der Hang ein stärkerer Grad ist« (Psych. Anthropol. S. 426). Vgl. BIUNDE, Emp. Psychol. II, 340 ff.

Nach der HEGELschen Psychologie ist die Neigung eine auf Erhaltung des Objektes hingehende, konstante »Willensrichtung« (vgl. DAUB, Anthropol. 325 ff., 358; J. E. ERDMANN, Grundr. § 141). Nach K. ROSENKRANZ ist der Hang »eine bleibende Tendenz des Triebes«. Die Neigung ist »die konkrete Bestimmtheit des Hanges« (Psychol.3, S. 429 ff.). HERBART versteht unter Neigungen »diejenigen dauernden Gemütslagen, welche der Entstehung gewisser Arten von Begierden günstig sind«. Sie sind »großenteils Folgen der Gewohnheit, die aus dem Vorstellungsvermögen hierher ins Begehrungsvermögen herüberzureichen scheint« (Lehrb. zur Psychol.3, S. 81). Nach VOLKMANN ist die Neigung eine »ruhende Disposition zu Begehrungen einer bestimmten Art, soweit sie in erworbenen Vorstellungsverhältnissen begründet ist«. Sie wird zum Hang, »wo sie zu einem besonders hohen Grade angewachsen ist« (Lehrb. d. Psychol. II4, 415 f.). Nach G. A. LINDNER ist die Neigung »eine Disposition zu einem bestimmten Begehren oder Verabscheuen und äußert sich deshalb in häufig wiederkehrenden Begehrungen derselben Art«. Die Neigungen haben etwas Wandelbares in sich. »Wenn eine Begierde öfter im Bewußtsein da war, wird sie zur Gewohnheit und erzeugt die Neigung.« »Wo die Naturanlage einer Neigung günstig oder wo sie durch lang gepflogene Gewohnheit mit uns gleichsam aufgewachsen ist, da wird sie zum Hange. Dieser ist ein so starker Grad der Neigung, daß er wie ein Trieb wirkt« (Lehrb. d. empir. Psychol.9, S. 203 f.). Nach G. SCHILLING liegt, wo uns Tätigkeiten leicht fallen, ein gewisser Anreiz sich ihnen hinzugeben, den man Neigung, Hang, Sucht nennt (Lehrb. d. Psychol. S. 85). - Nach CHR. KRAUSE ist die Neigung eine »bestimmte Richtung der Tätigkeit auf das Ersehnte, wozu ich mich getrieben fühle«. »Neigung des Gemütes« ist »ein bestimmtes bejahiges Gefühl für das, welches der Gegenstand der Betrachtung ist« (Vorles. üb. d. Syst. d. Philos. 304).

BENEKE erklärt die Neigung als »ein mehr oder weniger vielfaches Aggregat von Schätzungs- (Steigerungs- , Herabstimmungs-) und Begehrungsanlagen« (Sittenl. I, 134). Es gibt keine angeborenen Neigungen, wohl aber unmittelbare und mittelbare Neigungen (l.c. S. 140). »Neigungen zu psychischer Erregung« sind besonders wichtig (l.c. S. 165 ff.). Neigung, Hang ist ein »Gesamtgebilde (Aggregat) von Angelegtheiten für Lustempfindungen (Schätzungen) und für Begehrungen« (Lehrb. d. Psychol.3, § 175 ff; vgl. Psychol. Skizz. II, 213 ff., 312 ff.; Pragm. Psychol. I, 63 ff., 206 ff.). Nach V. KIRCHMANN sind die Neigungen »eine gesteigerte Empfänglichkeit für bestimmte Ursachen der Lust« (Grundbegr. d. Rechts u. d. Moral S. 41). Nach SULLY sind Neigungen dauernde Gemütsdispositionen (Handb. d. Psychol. S. 323; Hum. Mind II, C. 13-14; vgl. STOUT, Anal. Psychol. II, C. 12; JAMES, Princ. of Psychol.c. 24; TITCHENER, Outl. of Psychol.c. 9). LIPPS nennt Neigung »das subjektiv bedingte Wollen« (Eth. Grundfr. S. 129). Nach HAGEMANN ist Neigung »das auf besondere sinnliche oder geistige Gebiete gerichtete Streben« (Psychol.3, S. 114). Nach P. JANET sind die Neigungen und Hänge (»inclinations et penchants«) »des tendances qui poussent à l'action« (Princ. de mét. I, 472 ff., 479). Die Neigung ist eine Manifestation »de force et d'activité« (l.c. p. 480). Die Neigungen inhärieren der Seele, »ils sont antérieurs et posteriéurs au plaisir et à la douleur« (l.c. p. 479; vgl. RIBOT, Psychol. des sentim.).


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