Naturwissenschaften

Naturwissenschaften sind jene Disziplinen, die es mit Naturobjekten, d.h. mit den Gegenständen der äußern Erfahrung (s. d.), der mittelbaren Erkenntnis (s. d.) als solchen zu tun haben. Sie beschreiben die Eigenschaften der Objekte und erklären sie aus den gesetzmäßigen Verknüpfungen und Beziehungen der Dinge im Raume. Von der äußeren Wahrnehmung (s. d.) ausgehend und mit Hülfe der Grundbegriffe (Kategorien) des logischen Denkens bestimmen die Naturwissenschaften den Inhalt der äußeren Erfahrung in begrifflicher, nach Möglichkeit in mathematisch- quantitativer und causal-mechanischer Weise, dem Postulate nach Einheit und Geschlossenheit der Gedanken Rechnung tragend. Nicht das »An-sich« (s. d.), wohl aber die objektiv-allgemeinen, konstanten Relationen der Dinge fallen in den Bereich der Naturwissenschaften. Den Ausdruck dieser Relationen bilden feste, eindeutige Gesetze (s. d.). Von den Naturwissenschaften sind die Geisteswissenschaften (s. d.) durch den Standpunkt der Betrachtung des Erfahrungsinhaltes zu unterscheiden. Die Naturphilosophie (s. d.) ergänzt die Ergebnisse der Naturwissenschaften.

Während die Naturwissenschaft des Altertums, des Mittelalters und eines Teiles der neueren Zeit, abgesehen von einzelnen empirischen und mathematischen Ergebnissen, vorwiegend spekulativ und metaphysisch ist, kommt im 16. Jahrhundert die empirische, experimentelle (s. d.), mathematisch-quantitative (s. d.) Methode auf, um immer mehr Boden zu gewinnen. Daß die Naturwissenschaft quantitativ und zugleich empirisch (nicht metaphysisch-transcendent) sein muß, betont energisch KANT, der auch die apriorischen (s. d.) Grundlagen der Naturwissenschaft (in synthetischen Urteilen a priori, s. d.) aufdeckt. »Ich behaupte aber, daß in jeder besondern Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist« (Met. Anf. d. Naturwiss. S. VIII; vgl. Üb. d. Fortschr. d. Metaphys. S. 128). »Eine rationale Naturlehre verdient... den Namen einer Naturwissenschaft nur alsdann, wenn die Naturgesetze, die in ihr zum Grunde liegen, a priori erkannt werden und nicht bloße Erfahrungsgesetze sind. Man nennt eine Naturerkenntnis von der ersteren Art rein; die von der zweiten Art aber wird angewandte Vernunfterkenntnis genannt« (Met. Anf. d. Naturwiss. S. VI). »Naturwissenschaft wird uns niemals das Innere der Dinge, d. i. dasjenige, was nicht Erscheinung ist..., entdecken; aber sie braucht dieses auch nicht zu ihren physischen Erklärungen« (Prolegom. § 57). SCHELLING dagegen weist der Naturforschung die Aufgabe zu, das Wesen der Dinge an sich selbst zu erkennen. »Wissenschaft der Natur ist an sich selbst schon Erhebung über die einzelnen Erscheinungen und Produkte zur Idee dessen, worin sie eins sind und aus dem sie als gemeinschaftlichem Quell hervorgehen« (Vorl. üb. d. Meth. d. akad. Stud.3, 11, S. 264; vgl. Syst. d. tr. Ideal. S. 3 f.). Eine systematische Einteilung und Anordnung der Naturwissenschaften findet sich bei A. COMTE (s. Wissenschaft).

Von manchen wird zwischen Natur- und Geisteswissenschaften kein Unterschied gemacht, andere hingegen sehen nur in ersteren eigentliche Gesetzeswissenschaften. Während der Materialismus alle Geisteswissenschaften auf Naturwissenschaft zurückführen will, sehen einige Idealisten (s. d.) in den Naturwissenschaften nur einen Ausschnitt aus der allgemeinen Lehre vom Sein (Sein = Bewußt-Sein), oder auch der Psychologie (»Psychomonismus«). Nach anderen ist es die eine Gesamterfahrung, die, je nach dem S, je nach dem Standpunkt, Objekt der Natur- oder der Geisteswissenschaften wird.

Nach FECHNER abstrahiert die naturwissenschaftliche Betrachtung von aller qualitativen Bestimmtheit der Dinge, sie »objektiviert bloß quantitativ auffaßbare Bestimmungen unserer äußeren Wahrnehmungen als der Natur außer uns zukommend« (Tagesans. S. 234). HARMS unterscheidet scharf zwischen Naturund Geschichtswissenschaft. »Natur und Geschichte sind... zwei Gebiete der Kausalität der Dinge, ihrer Wirksamkeiten. Der Unterschied liegt in der Be dessen, was geschieht.« Die Natur ist das Reich der Bewegungsvorgänge, die Geschichte und Ethik das Reich der Willenskräfte (Psychol. S. 53 ff., 76 ff., 79). Den Unterschied der Natur- von den Geisteswissenschaften betont besonders WINDELBAND. Während die Naturwissenschaft es mit Abstraktionen zu tun hat, hat die Geisteswissenschaft die volle Wirklichkeit zum Gegenstande, gegeben in einer Fülle von einzelnem, das nicht auf eine Naturgesetzmäßigkeit zurückzuführen ist (Gesch. u. Naturwiss. 1894, 2. A. 1900). Ähnlich RICKERT. Während die Geisteswissenschaften »Ereigniswissenschaften« sind, haben die Naturwissenschaften den Charakter von »Gesetzeswissenschaften«. Die naturwissenschaftliche Betrachtung will die Unendlichkeit der Dinge und ihrer Merkmale überwinden durch allgemeine Begriffe und Gesetze, mit Abstraktion von allem Individuellen; dieses fällt dagegen der geschichtlichen Betrachtung zu (Grenz. d. naturwissensch. Begriffsbild. 1896). Früher betont schon DILTHEY, daß die Geisteswissenschaften ein »eigenes Reich von Erfahrungen« haben, welches im innern Erlebnis seinen selbständigen Ursprung und sein Material hat (Einl. in d. Geisteswiss. I, 10). Das Material der Geisteswissenschaften bildet die »geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit« (l.c. S. 30). Tatsachen, Theoreme, Werturteile konstituieren diese Wissenschaften. »Die Auffassung des Singularen, Individuellen bildet in ihnen so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten« (l.c. S. 33). Die Subjekte der Naturwissenschaften sind »Elemente, welche durch eine Zerteilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerschlagen, Zersplittern der Dinge nur hypothetisch gewonnen sind; in den Geisteswissenschaften sind es reale, in der innern Erfahrung als Tatsachen gegebene Einheiten« (l.c. S. 36; ähnlich MÜNSTERBERG, s. Geisteswissenschaften). - WUNDT erklärt: »Alle Naturforschung geht aus von der Sinneswahrnehmung.« Da aber die Vorstellungen der einzelnen Sinnesgebiete sieh einer durchgängigen Verbindung der Erscheinungen widersetzen, so ordnen wir sie unter allgemeine Begriffe (Log. II2, S. 272 ff.). »Die Naturwissenschaft abstrahiert geflissentlich von allen den Bestandteilen der Erfahrung, die dem erfahrenden Subjekt und der Art und Weise angehören, wie dieses sich zur Außenwelt und zu anderen Subjekten unmittelbar verhält. Sie betrachtet demnach die Natur als einen Inbegriff reiner Objekte und ihrer äußern Relationen« (Philos. Stud. XIII, 406). Die Naturwissenschaft »betrachtet die Objekte der Erfahrung in ihrer von dem Subjekt unabhängig gedachten Beschaffenheit«, vom Standpunkt der mittelbaren Erfahrung (Gr. d. Psychol5, S. 3). Sie abstrahiert nicht vom erkennenden Subjekt überhaupt, sondern von denjenigen Bestimmungen, die untrennbar vom Subjekt sind (l.c. S. 5). Der Grund für die Scheidung der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften kann nur darin gesucht werden, »daß jede Erfahrung einen objektiv gegebenen Erfahrungsinhalt und ein erfahrendes Subjekt als Faktoren enthält« (ib.). Zwei Betrachtungsweisen haben hier statt. Die eine ist die der Psychologie (s. d.), die zweite die der Naturwissenschaft. »Indem die Naturwissenschaft zu ermitteln sucht, wie die Objekte ohne Rücksicht auf das Subjekt beschaffen sind, ist die Erkenntnis, die sie zustande bringt, eine mittelbare oder begriffliche: an Stelle der unmittelbaren Erfahrungsobjekte bleiben ihr die aus diesen Objekten mittelst der Abstraktion von den subjektiven Bestandteilen unserer Vorstellungen gewonnenen Begriffsinhalte. Diese Abstraktion macht aber stets zugleich hypothetische Ergänzungen der Wirklichkeit erforderlich« (l.c. S. 6). Nach G. GLOGAU gehen Natur- und Geisteswissenschaften einander als verschiedene »Betrachtungsweisen« gleicher Objekte parallel. Die eine Betrachtungsweise »faßt den Inhalt der in der sinnlichen Anschauung gegebenen Welt (in bewußter oder unbewußter Abstraktion) als ein äußeres Geschehen, während die andere jeden sinnlichen Vorgang als Zeichen und Ausdruck eines an sich verborgenen, inneren Erlebens zu deuten sucht« (Abr. d. philos. Grundwiss. I, 34 ff.). - Der Positivismus (s. d.), die Philosophie der reinen Erfahrung (s. d.), will nur exacte »Beschreibung« (s. d.), nicht hypothetische Naturbegriffe. So COMTE, E. MACH, OSTWALD u. a. - O. CASPARI betont: »Die Naturwissenschaft soll in ihren Spezialgebieten descriptiv und nur insoweit erklärend verfahren, als es das oberste Prinzip der jedesmaligen Spezialwissenschaft erfordert. Ein Übergehen dieser Restriktion führt in das Gebiet der Naturphilosophie, von der sich naturwissenschaftliche Fachleute als solche fernhalten sollen« (Grund- u. Lebensfrag. S. 13). DU PREL bemerkt ähnlich: »Es ist... gar nicht Aufgabe der Naturwissenschaft, das Wesen der Naturkräfte zu entdecken; ihre Aufgabe ist erfüllt, wenn das Gesetz des Eintritts erkannt ist. Das übrige ist Sache der Metaphysik« (Mon. Seelenl. S. 4). Im gleichen Sinne lehren schon SCHOPENHAUER, HELMHOLTZ, die Kantianer u. a. Vgl. Psychologie.


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