PLATO unterscheidet schon Gedächtnis (mnêmê) und Erinnerung (anamnêsis) Die Seele gleicht einer wächsernen Tafel (kêrinon ekmageion) welche die Eindrücke behält (Theaet. 191 C). Das Gedächtnis ist eine Aufbewahrungsstätte der Wahrnehmungen (sôtêria aisthêseôs) Phileb. 34 B). Die Erinnerung ist ein seelischer Akt hotan ha meta tou sômatos epasche poth' hê psychê, tout' aneu tou sômatos autê en heautê ho ti malista analambanê, tote anamimnêskesthai pou legomen; ib.). Die anamnêsis (s. d.) hat erkenntnistheoretische Bedeutung. ARISTOTELES erblickt in der phantasia eine Nachwirkung der aisthêsis in der Seele (De an. III, 3), ein Nachbild derselben (Rhetor. I 11, 1370a 28). Die mnêmê beruht auf dem Beharren (monê) des Eindrucks (De memor. 1; Anal. post. II, 19; De an. I 4, 408b 17). Die anamnêsis ist ein Willensakt (De memor. 2). Nach STRATON beruht die Erinnerung auf der Bewegung, physischen Spur hypomonê der Empfindung (Plut., Plac. IV, 23); nach Ansicht der Stoiker auf einem Abdrucke (typôsis) in der (materiell gedachten) Seele (l.c. IV, 11; CICERO, Acad. II, 10, 30; EPIKTET, Diss. I, 14, 9). PLOTIN hingegen faßt die Erinnerung als einen geistigen Akt auf (Enn. IV, 6, 3). Gott hat kein Erinnern (l.c. IV, 3, 25).
AUGUSTINUS verlegt das Gedächtnis in den Geist. Er nimmt auch ein Gefühlsgedächtnis an (Confess. VIII, 14), unterscheidet sinnliches und intellektuelles Gedächtnis (l.c. X, 7 f.; De quant. an. 33; De trin. IX, 3; XI, 2; XV, 23; De lib. arb. II, 3). So auch die Scholastiker. Das Gedächtnis ist ihnen ein Behalten der »species« (s. d.) seitens der Seele. AVICENNA definiert die »virtus conservativa et memorialis« als »thesaurus eius, quod pervenit ad existimativam de intentionibus in perceptis sensu extra formas eorum sensu perceptas« (bei STÖCKL II, 38). Die Erinnerung ist »actus reflexus in id, quod prius per sensum acceptum est« (bei ALBERTUS MAGNUS, Sum. th. I, 15, 2). ALBERTUS MAGNUS versteht unter »memoria sensibilis« die »recordatio prius accepti« (l.c. I, 15, 2). »Memoria quae mentis est, actum paternum habet ex se formandi intelligentiam, quae est actum reductionis in prototypum« (ib.). »Memoria duplex una est habitus mentis, alia est coacervatio formarum sensibilum prius acceptarum« (l.c. I, 69, 1). Nach THOMAS hat die »memoria« die Funktion, »conservare species rerum, quae actu non apprehenduntur« (Sum. th. I, 79, 6c), das Gedächtnis ist »thesaurus vel locus conservationis specierum« (l.c. I, 79, 7a). Es gibt »memoria sensitiva« und »intellectiva« (l.c. I, 77, 8 ob. b. 4; I, 79, 6). »Reminiscentia« ist »inquisitio alicuins, quod a memoria exeidit« (Memor. 5 b).
CAMPANELLA sieht in den Gedächtnisbildern abgeblaßte Wahrnehmungen. »Passio autem remanet, abeunte activo, sed languida. Haec autem remansio est memoria« (Univ. phil. I, 6, 4). Nach L. VIVES ist das Gedächtnis ein »receptaculum« (De an. II. p. 50), »facultas animi, qua quasi ea, quae sensu aliquo, externo aut interno, cognivit, in mente continet« (l.c. p. 54). Zu unterscheiden sind: »memoria«, »recordatio«, »reminiscentia« (l.c. p. 55). Funktionen des Gedächtnisses sind das »apprehendere« und das »retinere« (ib.). Es gibt verschiedene Arten des Gedächtnisses (für »res«, »verba« u.s.w.) (l.c. p. 56). Die Aufmerksamkeit festigt das Gedächtnis (»memoriam confirmat«, l.c. p. 56).HOBBES definiert die Erinnerung als Bewußtsein des Wahrgenommenhabens: »Sentire se sensisse est meminisse« (De corp. 25, 1). SPINOZA erklärt »memoria« als »quaedam concatenatio idearum, naturam rerum, quae extra corpus humanum sunt, involventium, quae in mente fit secundum ordinem et concatenationem affectionum corporis humani« (Eth. II, prop. XVIII, schol.). Wie schon DESCARTES (De hom. p. 132; Princ. phil. IV, 196), nehmen MALEBRANCHE u. a. »ideae materiales« (S. Ideen) als Vermittler der Erinnerung an. LEIBNIZ nimmt bloß, psychische Dispositionen (s. d.) an. Nach LOCKE ist das Gedächtnis eine Behaltungsfähigkeit (»retentiveness«). Das »Behalten« der Vorstellungen bedeutet nur die Fähigkeit der Reproduktion früherer Vorstellungen, wobei die Seele sich bewußt ist, sie gehabt zu haben (Ess. II, ch. 10, § 2; I, ch. 4, § 20). HUME versteht unter Gedächtnis die Fähigkeit der Reproduktion von Eindrücken (Treat. I, sct. 3, S. 18). Die Hauptsfunktion der Erinnerung besteht im Festhalten der Ordnung und wechselseitigen Stellung der Vorstellungen (l.c. S. 19). Nach HARTLEY, BONNET u. a. beruht das Gedächtnis auf Dispositionen (s. d.) im Gehirn (s. Assoziation), so auch nach HOLBACH: »La mémoire est la faculte que l'organe intérieur a de renouveller en lui-même les modifications qu'il a reçue« (Syst. de la nat. I, ch. 8, p. 113). CONDILLAC bemerkt: »Quand une idée se retrace à la statue (s. d.), ce n'est donc pas qu'elle se soit conservée dans le corps ou dans l'âme: c'est que le mouvement, qui en est la cause physique et occasionelle, se reproduit dans le cerveau« (Tr. d. sens. I, ch. 2, § 38; Log. I, ch. 9). Von den Wahrnehmungen bleibt »une impression plus ou moins forte, suivant que l'attention a été elle-même plus ou moins vive« (l.c. § 6). »La memoire est le commencement d'une imagination qui n'a encore que peu de force; l'imagination est la mêmoire même, parvenue à toute la vivacité dont elle est susceptible« (l.c. § 29). DESTUTT DE TRACY erklärt: »La mémoire consiste à sentir les souvenirs des sensations passées« (Elem. d'idéol. I, ch. 3, p. 41).
Nach CHR. WOLF ist »Gedächtnis« »das Vermögen, Gedanken, die wir vorhin gehabt haben, wieder zu erkennen, daß wir sie schon gehabt haben, wenn sie uns wieder vorkommen« (Vern. Ged. I, § 249). »Memoria in facultate ideas reproductas... et res per eas repraesentatas recognoscendi consistit« (Psychol. rat. § 278; Psychol. empir. §175). Erinnerung ist »facultas perceptiones praeteritas mediate reproducendi et recognoscendi« (Psychol. empir. § 230). Es gibt »ideae materiales« (s. d.). BAUMGARTEN definiert: »Memoria est facultas reproductas perceptiones recognoscendi« (Met. § 579). PLOUCQUET: »Memoria est ea vis repraesentandi, qua nexus posteriorum cum prioribus perceptionibus excitatur« (Princ. de subst. p. 75). Nach CRUSIUS ist das Gedächtnis das »Vermögen, die einmal gehabten Begriffe fortzusetzen und bei gewissen Umständen wiederum lebhaft zu denken« (Vernunftwahrh. § 426). PLATNER definiert das Gedächtnis als »Vermögen, mittelst dessen wir vormalige Ideen aufbehalten« (Phil. Aphor. I, § 285). Erinnerung ist das »Vermögen, mit Ideen der Phantasie zu verbinden das Bewußtsein ihrer vormaligen Darstellung« (l.c. § 422). Sich erinnern heißt: »Ideen des Gedächtnisses vergleichen mit ähnlichen Ideen entweder der Sinnen oder des Gedächtnisses« (l.c. § 78). Auf Assoziation (s. d.) führt JAMES MILL die Erinnerung zurück. - KANT erklärt: »Das Gedächtnis ist von der bloß reproduktiven Einbildungskraft darin unterschieden, daß es die vormalige Vorstellung willkürlich zu reproduzieren vermögend, das Gemüt also nicht ein bloßes Spiel von jener ist« (Anthrop. I, § 32). Es gibt ein mechanisches, ingeniöses, judiziöses Gedächtnis (ib.). Das erstere beruht bloß auf Wiederholung; das ingeniöse Memorieren ist »eine Methode, gewisse Vorstellungen, die an sich (für den Verstand) gar keine Verwandtschaft miteinander haben.... dem Gedächtnis einzuprägen«; das judiziöse Memorieren ist »kein anderes als das einer Tafel der Einteilung eines Systems in Gedanken« (ib.).