Antikes


Der Mensch vermag gar manches durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, er vermag das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten; aber das Einzige, ganz Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen. Das letzte war das glückliche Los der Alten, besonders der Griechen in ihrer besten Zeit; auf die beiden ersten sind wir Neuern vom Schicksal angewiesen.

Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?

Wirft sich der Neuere, wie es uns eben jetzt ergangen, fast bei jeder Betrachtung ins Unendliche, um zuletzt, wenn es ihm glückt, auf einen beschränkten Punkt wieder zurückzukehren, so fühlten die Alten, ohne weitern Umweg, sogleich ihre einzige Behaglichkeit innerhalb der lieblichen Grenzen der schönen Welt. Hieher waren sie gesetzt, hiezu berufen, hier fand ihre Tätigkeit Raum, ihre Leidenschaft Gegenstand und Nahrung.

Warum sind ihre Dichter und Geschichtschreiber die Bewunderung des Einsichtigen, die Verzweiflung des Nacheifernden, als weil jene handelnden Personen, die aufgeführt werden, an ihrem eigenen Selbst, an dem engen Kreise ihres Vaterlandes, an der bezeichneten Bahn des eigenen sowohl als des mitbürgerlichen Lebens einen so tiefen Anteil nahmen, mit allem Sinn, aller Neigung, aller Kraft auf die Gegenwart wirkten; daher es einem gleichgesinnten Darsteller nicht schwerfallen konnte, eine solche Gegenwart zu verewigen.

Das, was geschah, hatte für sie den einzigen Wert, so wie für uns nur dasjenige, was gedacht oder empfunden worden, einigen Wert zu gewinnen scheint.

Nach einerlei Weise lebte der Dichter in seiner Einbildungskraft, der Geschichtschreiber in der politischen, der Forscher in der natürlichen Welt. Alle hielten sich am Nächsten, Wahren, Wirklichen fest, und selbst ihre Phantasiebilder haben Knochen und Mark. Der Mensch und das Menschliche wurden am wertesten geachtet und alle seine innern, seine äußern Verhältnisse zur Welt mit so großem Sinne dargestellt als angeschaut. Noch fand sich das Gefühl, die Betrachtung nicht zerstückelt, noch war jene kaum heilbare Trennung in der gesunden Menschenkraft nicht vorgegangen.

Aber nicht allein das Glück zu genießen, sondern auch das Unglück zu ertragen, waren jene Naturen höchlich geschickt: denn wie die gesunde Faser dem Übel widerstrebt und bei jedem krankhaften Anfall sich eilig wiederherstellt, so vermag der jenen eigene gesunde Sinn sich gegen innern und äußern Unfall geschwind und leicht wiederherzustellen. Eine solche antike Natur war, insofern man es nur von einem unsrer Zeitgenossen behaupten kann, in Winckelmann wieder erschienen, die gleich anfangs ihr ungeheures Probestück ablegte, daß sie durch dreißig Jahre Niedrigkeit, Unbehagen und Kummer nicht gebändigt, nicht aus dem Wege gerückt, nicht abgestumpft werden konnte. Sobald er nur zu einer ihm gemäßen Freiheit gelangte, erscheint er ganz und abgeschlossen, völlig im antiken Sinne. Angewiesen auf Tätigkeit, Genuß und Entbehrung, Freude und Leid, Besitz und Verlust, Erhebung und Erniedrigung, und in solchem seltsamen Wechsel immer mit dem schönen Boden zufrieden, auf dem uns ein so veränderliches Schicksal heimsucht.

Hatte er nun im Leben einen wirklich altertümlichen Geist, so blieb ihm derselbe auch in seinen Studien getreu. Doch wenn bei Behandlung der Wissenschaften im großen und breiten die Alten sich schon in einer gewissen peinlichen Lage befanden, indem zu Erfassung der mannigfaltigen außermenschlichen Gegenstände eine Zerteilung der Kräfte und Fähigkeiten, eine Zerstückelung der Einheit fast unerläßlich ist, so hat ein Neuerer im ähnlichen Falle ein noch gewagteres Spiel, indem er bei der einzelnen Ausarbeitung des mannigfaltigen Wißbaren sich zu zerstreuen, in unzusammenhängenden Kenntnissen sich zu verlieren in Gefahr kömmt, ohne, wie es den Alten glückte, das Unzulängliche durch das Vollständige seiner Persönlichkeit zu vergüten.

So vielfach Winckelmann auch in dem Wißbaren und Wissenswerten herumschweifte, teils durch Lust und Liebe, teils durch Notwendigkeit geleitet, so kam er doch früher oder später immer zum Altertum, besonders zum griechischen, zurück, mit dem er sich so nahe verwandt fühlte und mit dem er sich in seinen besten Tagen so glücklich vereinigen sollte.


 © textlog.de 2004 • 16.04.2024 15:26:20 •
Seite zuletzt aktualisiert: 30.10.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Gedichte  West-östlicher Divan  Zur Farbenlehre  Italienische Reise