II. Shakespeare, verglichen mit den Alten und Neusten


Das Interesse, welches Shakespeares großen Geist belebt, liegt innerhalb der Welt: denn wenn auch Wahrsagung und Wahnsinn, Träume, Ahnungen, Wunderzeichen, Feen und Gnomen, Gespenster, Unholde und Zauberer ein magisches Element bilden, das zur rechten Zeit seine Dichtungen durchschwebt, so sind doch jene Truggestalten keineswegs Hauptingredienzien seiner Werke, sondern die Wahrheit und Tüchtigkeit seines Lebens ist die große Base, worauf sie ruhen; deshalb uns alles, was sich von ihm herschreibt, so echt und kernhaft erscheint. Man hat daher schon eingesehen, daß er nicht sowohl zu den Dichtern der neuern Welt, welche man die romantischen genannt hat, sondern vielmehr zu jenen der naiven Gattung gehöre, da sein Wert eigentlich auf der Gegenwart ruht und er kaum von der zartesten Seite, ja nur mit der äußersten Spitze an die Sehnsucht grenzt.

Des ohngeachtet aber ist er, näher betrachtet, ein entschieden moderner Dichter, von den Alten durch eine ungeheure Kluft getrennt, nicht etwa der äußern Form nach, welche hier ganz zu beseitigen ist, sondern dem innersten, tiefsten Sinne nach.

Zuvörderst aber verwahre ich mich und sage: daß keineswegs meine Absicht sei, nachfolgende Terminologie als erschöpfend und abschließend zu gebrauchen; vielmehr soll es nur ein Versuch sein, zu andern, uns schon bekannten Gegensätzen nicht sowohl einen neuen hinzuzufügen, als, daß er schon in jenen enthalten sei, anzudeuten. Diese Gegensätze sind:

 

Antik, Modern.

Naiv, Sentimental.

Heidnisch, Christlich.

Heldenhaft, Romantisch.

Real, Ideal.

Notwendigkeit, Freiheit.

Sollen, Wollen.

 

Die größten Qualen sowie die meisten, welchen der Mensch ausgesetzt sein kann, entspringen aus den einem jeden inwohnenden Mißverhältnissen zwischen Sollen und Wollen, sodann aber zwischen Sollen und Vollbringen, Wollen und Vollbringen, und diese sind es, die ihn auf seinem Lebensgange so oft in Verlegenheit setzen. Die geringste Verlegenheit, die aus einem leichten Irrtum, der unerwartet und schadlos gelöst werden kann, entspringt, gibt die Anlage zu lächerlichen Situationen. Die höchste Verlegenheit hingegen, unauflöslich oder unaufgelöst, bringt uns die tragischen Momente dar.

Vorherrschend in den alten Dichtungen ist das Unverhältnis zwischen Sollen und Vollbringen, in den neuern zwischen Wollen und Vollbringen. Man nehme diesen durchgreifenden Unterschied unter die übrigen Gegensätze einstweilen auf und versuche, ob sich damit etwas leisten lasse. Vorherrschend, sagte ich, sind in beiden Epochen bald diese, bald jene Seite; weil aber Sollen und Wollen im Menschen nicht radikal getrennt werden kann, so müssen überall beide Ansichten zugleich, wenn schon die eine vorwaltend und die andre untergeordnet, gefunden werden. Das Sollen wird dem Menschen auferlegt, das Muß ist eine harte Nuß; das Wollen legt der Mensch sich selbst auf, des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Ein beharrendes Sollen ist lästig, Unvermögen des Vollbringens fürchterlich, ein beharrliches Wollen erfreulich, und bei einem festen Willen kann man sich sogar über das Unvermögen des Vollbringens getröstet sehen. Betrachte man als eine Art Dichtung die Kartenspiele; auch diese bestehen aus jenen beiden Elementen. Die Form des Spiels, verbunden mit dem Zufalle, vertritt hier die Stelle des Sollens, gerade wie es die Alten unter der Form des Schicksals kannten; das Wollen, verbunden mit der Fähigkeit des Spielers, wirkt ihm entgegen. In diesem Sinn möchte ich das Whistspiel antik nennen. Die Form dieses Spiels beschränkt den Zufall, ja das Wollen selbst. Ich muß bei gegebenen Mit- und Gegenspielern mit den Karten, die mir in die Hand kommen, eine lange Reihe von Zufällen lenken, ohne ihnen ausweichen zu können; beim L'hombre und ähnlichen Spielen findet das Gegenteil statt. Hier sind meinem Wollen und Wagen gar viele Türen gelassen; ich kann die Karten, die mir zufallen, verleugnen, in verschiedenem Sinne gelten lassen, halb oder ganz verwerfen, vom Glück Hülfe rufen, ja durch ein umgekehrtes Verfahren aus den schlechtesten Blättern den größten Vorteil ziehen, und so gleichen diese Art Spiele vollkommen der modernen Denk- und Dichtart.

Die alte Tragödie beruht auf einem unausweichlichen Sollen, das durch ein entgegenwirkendes Wollen nur geschärft und beschleunigt wird. Hier ist der Sitz alles Furchtbaren der Orakel, die Region, in welcher Ödipus über alle thront. Zarter erscheint uns das Sollen als Pflicht in der »Antigone«, und in wie viele Formen verwandelt tritt es nicht auf. Aber alles Sollen ist despotisch. Es gehöre der Vernunft an: wie das Sitten- und Stadtgesetz, oder der Natur: wie die Gesetze des Werdens, Wachsens und Vergehens, des Lebens und Todes. Vor allem diesem schaudern wir, ohne zu bedenken, daß das Wohl des Ganzen dadurch bezielt sei. Das Wollen hingegen ist frei, scheint frei und begünstigt den Einzelnen. Daher ist das Wollen schmeichlerisch und mußte sich der Menschen bemächtigen, sobald sie es kennenlernten. Es ist der Gott der neuern Zeit; ihm hingegeben, fürchten wir uns vor dem Entgegengesetzten, und hier liegt der Grund, warum unsre Kunst sowie unsre Sinnesart von der antiken ewig getrennt bleibt. Durch das Sollen wird die Tragödie groß und stark, durch das Wollen schwach und klein. Auf dem letzten Wege ist das sogenannte Drama entstanden, indem man das ungeheure Sollen durch ein Wollen auflöste; aber eben weil dieses unsrer Schwachheit zu Hülfe kommt, so fühlen wir uns gerührt, wenn wir nach peinlicher Erwartung zuletzt noch kümmerlich getröstet werden.

Wende ich mich nun nach diesen Vorbetrachtungen zu Shakespeare, so muß der Wunsch entspringen, daß meine Leser selbst Vergleichung und Anwendung übernehmen möchten. Hier tritt Shakespeare einzig hervor, indem er das Alte und Neue auf eine überschwengliche Weise verbindet. Wollen und Sollen suchen sich durchaus in seinen Stücken ins Gleichgewicht zu setzen; beide bekämpfen sich mit Gewalt, doch immer so, daß das Wollen im Nachteile bleibt.

Niemand hat vielleicht herrlicher als er die erste große Verknüpfung des Wollens und Sollens im individuellen Charakter dargestellt. Die Person, von der Seite des Charakters betrachtet, soll; sie ist beschränkt, zu einem Besondern bestimmt; als Mensch aber will sie. Sie ist unbegrenzt und fordert das Allgemeine. Hier entspringt schon ein innerer Konflikt, und diesen läßt Shakespeare vor allen andern hervortreten. Nun aber kommt ein äußerer hinzu, und der erhitzt sich öfters dadurch, daß ein unzulängliches Wollen durch Veranlassungen zum unerläßlichen Sollen erhöht wird. Diese Maxime habe ich früher an Hamlet nachgewiesen; sie wiederholt sich aber bei Shakespeare; denn wie Hamlet durch den Geist, so kommt Macbeth durch Hexen, Hekate und die Überhexe, sein Weib, Brutus durch die Freunde in eine Klemme, der sie nicht gewachsen sind; ja sogar im »Coriolan« läßt sich das Ähnliche finden; genug, ein Wollen, das über die Kräfte eines Individuums hinausgeht, ist modern. Daß es aber Shakespeare nicht von innen entspringen, sondern durch äußere Veranlassung aufregen läßt, dadurch wird es zu einer Art von Sollen und nähert sich dem Antiken. Denn alle Helden des dichterischen Altertums wollen nur das, was Menschen möglich ist, und daher entspringt das schöne Gleichgewicht zwischen Wollen, Sollen und Vollbringen; doch steht ihr Sollen immer zu schroff da, als daß es uns, wenn wir es auch bewundern, anmuten könnte. Eine Notwendigkeit, die mehr oder weniger oder völlig alle Freiheit ausschließt, verträgt sich nicht mehr mit unsern Gesinnungen; diesen hat jedoch Shakespeare auf seinem Wege sich genähert: denn indem er das Notwendige sittlich macht, so verknüpft er die alte und neue Welt zu unserm freudigen Erstaunen. Ließe sich etwas von ihm lernen, so wäre hier der Punkt, den wir in seiner Schule studieren müßten. Anstatt unsre Romantik, die nicht zu schelten noch zu verwerfen sein mag, über die Gebühr ausschließlich zu erheben und ihr einseitig nachzuhängen, wodurch ihre starke, derbe, tüchtige Seite verkannt und verderbt wird, sollten wir suchen, jenen großen, unvereinbar scheinenden Gegensatz um so mehr in uns zu vereinigen, als ein großer und einziger Meister, den wir so höchlich schätzen und oft, ohne zu wissen warum, über alles präkonisieren, das Wunder wirklich schon geleistet hat. Freilich hatte er den Vorteil, daß er zur rechten Erntezeit kam, daß er in einem lebensreichen protestantischen Lande wirken durfte, wo der bigotte Wahn eine Zeitlang schwieg, so daß einem wahren Naturfrommen wie Shakespeare die Freiheit blieb, sein reines Innere, ohne Bezug auf irgendeine bestimmte Religion, religios zu entwickeln.

 

Vorstehendes ward im Sommer 1813 geschrieben, und man will daran nicht markten noch mäkeln, sondern nur an das oben Gesagte erinnern: daß Gegenwärtiges gleichfalls ein einzelner Versuch sei, um zu zeigen, wie die verschiedenen poetischen Geister jenen ungeheuern und unter so viel Gestalten hervortretenden Gegensatz auf ihre Weise zu vereinigen und aufzulösen gesucht. Mehreres zu sagen wäre um so überflüssiger, als man seit gedachter Zeit auf diese Frage von allen Seiten aufmerksam gemacht worden und wir darüber vortreffliche Erklärungen erhalten haben. Vor allen gedenke ich Blümners höchst schätzbare Abhandlung »Über die Idee des Schicksals in den Tragödien des Äschylus« und deren fürtreffliche Rezension in den Ergänzungsblättern der »Jenaischen Literaturzeitung«. Worauf ich mich denn ohne weiteres zu dem dritten Punkt wende, welcher sich unmittelbar auf das deutsche Theater bezieht und auf jenen Vorsatz, welchen Schiller gefaßt, dasselbe auch für die Zukunft zu begründen.


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