Genie

Genie (genius, ingenium): schöpferische Begabung des Geistes, außerordentliche Kraft der Intuition, Phantasie, Gestaltung, Synthese, Erfindung. Die geniale Denk- und Handlungsweise ist Genialität. Das Genie ist die höchste Potenz des Geistes, gleichsam der »Übergeist«.

ARISTOTELES (Problem. 30, 1) sagt, nach CICERO, »omnes ingeniosos melancholicos esse« (Tusc. disp. I, 33). CHR. WOLF erklärt: »Facilitatem observandi rerum similitudines ingenium appellamus« (Psychol. empir. § 476). Ähnlich HOLBACH (Syst. de la nat. I, p. 127). Nach GARVE macht die harmonische Vereinigung aller Geistesfähigkeiten das Genie aus (Samml. ein. Abhandl. I9, 77). Nach SULZER ist Genie eine »vorzügliche Leichtigkeit oder Fähigkeit der Seele, ihre jedesmaligen Ideen ausschließungsweise auf gewisse Gegenstände zu konzentrieren«. Nach FEDER ist Genie »ein vorzügliches Vermögen, aus sich selbst Gedanken zu schöpfen« (Log. u. Met. S. 45). KANT nennt (beeinflußt u. a. von GERARD, Essay on Genius 1774) Genie »die meisterhafte Originalität der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauche seiner Erkenntnisvermögen« (Krit. d. Urt. § 49), die angeborene Gemütsanlage, durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt (l.c. § 46; vgl. O. SCHLAPP, Kants Lehre vom Genie u. d. Entsteh. d. Krit. d. Urteilskr. 1901). FRIES: »Ein guter Kopf mit Originalität der Selbsttätigkeit heißt Genie in weiterer Bedeutung« (syst. d. Log. S. 345). Es gibt ästhetische und logische Genialität (l.c. S. 347). SCHILLER betrachtet als constitutives Merkmal des Genies die Naivität. Das Genie erweitert die Natur, ohne über sie hinaus zu gehen (Üb. naive u. sentim. Dicht. Philos. Schr. S. 222). J. PAUL setzt das Wesen des Genies in die »Besonnenheit« (Vorsch. d. Ästhet. § 12). KRUG: »Ein durch eigentümliche Produktivität von Natur ausgezeichnetes Vermögen heißt genial oder schlechtweg Genie« (Handb. d. Philos. I, 54 f.). Nach GRILLPARZER ist Genialität »Eigentümlichkeit der Auffassung«, Talent »Fähigkeit des Wiedergebens.« »Wenn ein Talent und ein Charakter zusammenkommen, so entsteht das Genie.« »Das Genie unterscheidet sich von dem Talente weniger durch die Menge neuer Gedanken, als dadurch, daß es dieselben fruchtbringend macht und sie immer auf der rechten Stelle hat; mit einem Wort, daß bei ihm alles zum Ganzen wird, indes das Talent lauter, wenn auch schöne, Teile hervorbringt« (WW. XV, 151 ff.). - Nach HILLEBRAND stellt das Genie die Vernunftmacht der Seele in einer freien Objektiv- Produktion dar (Philos. d. Geist. I, 350). Nach SCHOPENHAUER ist Genialität »vollkommenste Objektivität, d.h. objektive Richtung des Geistes«, die zur Contemplation der Ideen (ß. d.) notwendig ist. Genialität ist »die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem Dienste zu entziehen, d.h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrigzubleiben: und dieses nicht auf Augenblicke, sondern so anhaltend und mit so viel Besonnenheit, als nötig ist, um das Aufgefaßte durch überlegte Kunst zu wiederholen« (W. a. W. u. V. I. Bd., § 36). Das Wesen des Genies liegt in der »Vollkommenheit und Energie der anschauenden Erkenntnis«. Es ist eine »Abnormität«. Denn es besteht darin, »daß die erkennende Fähigkeit bedeutend stärkere Entwicklung erhalten hat, als der Dienst des Willens, zu welchem allein sie ursprünglich entstanden ist, erfordert«. »Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehen, ist gerade der Grundug des Genies.« Auf das erhöhte »Nerven- und Cerebralleben« u.s.w. des Genies macht Schopenhauer aufmerksam (W. a. W. u. V. Bd. II, C. 31). VOLKMANN erklärt: »Auf besonders erhöhter Klarheit, Schnelligkeit und leichter Beweglichkeit der freisteigenden Vorstellungen beruht, was man Genialität nennt« (Lehrb. d. Psychol. I4, 416). SIMMEL nennt ein Genie einen Menschen, dessen Anlagen so günstig sind, daß die Reproduktion leicht, auf minimale Anregungen hin, stattfindet (Probl. d. Geschichtsphilos. S. 25). TÖNNIES erklärt das Genie als den »mentalen ›Schaffensdrang‹ oder die Lust, das in Gedächtnis oder Phantasie Lebendige zu ordnen, zu gestalten, mitzuteilen« (Gem. u. Ges. S. 118 f.). Nach K. LANGE: ist Genie »die Fähigkeit, bei allem, was man tut, sagt, fühlt und denkt, aus sich selbst herauszutreten, die Grenzen seiner beschränkten Persönlichkeit zu überspringen, in anderen, in der Natur, in der Gesamtheit aufzugehen« (Wes. d. Kunst I, 380). HELLPACH hebt als die drei Hauptzüge des Genies das Intuitive, das Explosive, das Suggestive hervor (Grenzwiss. d. Psychol. S. 498). Als Entartungszustand (Psychose), der mit dem Wahnsinn Ähnlichkeiten aufweist, faßt das Genie LOMBROSO (Genie u. Irrs.) auf. Dagegen u. a. die Ansichten von BALDWIN (Social and ethical interpretat. in mental developm. B. I), TARDE (Les lois de l'imitat.) F. BRENTANO (Das Genie 1892), W. HIRSCH (Genie u. Entartung). H. TÜRCK betrachtet als Wesen des Genies den selbstlosen Idealismus (Der geniale Mensch 1897). Nach GERHARDI ist Genie »schöpferischer Geist«, Vereinigung höchst ausgebildeter Leidenschaft, Phantasie und Urteilskraft (Das Wesen d. Genies S. 6 ff.). Vgl. Talent.


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