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Priamos bei Achill

Als sich die versammelten Völker getrennt hatten, sättigte sich jeder mit Speise und Schlaf. Nur Achill brachte eine Nacht ohne Schlummer im Andenken an seinen bestatteten Freund hin; er legte sich bald auf die Seite, bald auf den Rücken, bald aufs Angesicht; dann stand er plötzlich auf und schweifte am Meeresufer umher. Am frühen Morgen spannte er seine Rosse ins Joch, befestigte den Leichnam Hektors am Wagensitz und schleifte ihn dreimal um das Denkmal des Patroklos; aber Apollo deckte diesen mit dem goldenen Schirm seiner Ägide und sicherte den Leib vor allen Entstellungen. Achill verließ den Leichnam, in den Staub auf das Antlitz gestreckt. Das erbarmte die seligen Götter im Olymp, mit Ausnahme Heras, und Zeus beschickte die Mutter des Peliden, Thetis; er befahl ihr, schleunig zum Heere zu gehen und dem Sohne zu verkündigen, daß den Göttern insgesamt und Zeus selbst das Herz vor Zorn glühe, weil er Hektors Leib ohne Lösung bei den Schiffen zurückhalte. Thetis gehorchte, ging in das Zelt des Sohnes, setzte sich nahe zu ihm, und sanft mit der Hand ihn streichelnd, sprach sie: „Lieber Sohn, wie lange willst du mit Gram und Seufzern dir das Herz abzehren, des Schlafs und der Nahrung vergessen? Es wäre gut, wenn du dich der Freude des Lebens wieder zuwendetest, denn du wirst mir ja doch nicht lange mehr auf Erden einhergehen, und das grausame Verhängnis lauert schon an deiner Seite. Höre denn die Worte des Zeus, die ich dir melde: Er und alle Götter zürnen dir, daß du Hektors Leiche mißhandelst und bei den Schiffen zurückhältst. Wohlan, entlaß ihn, mein Sohn, gegen reiche Lösung.“ Achill schaute auf, sah der Mutter ins Gesicht und sprach: „So sei es; was Zeus und der Rat der Himmlischen gebieten, muß geschehen. Wer mir die Lösung bringt, soll den Leichnam empfangen.“

Zur selben Zeit schickte Zeus die schnelle Götterbotin Iris in die Stadt des Priamos mit seinen Aufträgen. Diese fand, dort angekommen, nichts als Geheul und Wehklage. Im Vorhofe saßen um den Vater im Kreise die Söhne, sich die Gewande feucht weinend; in der Mitte der Greis, straff in den Mantel gehüllt, Staub auf Nacken und Haupt gestreut. In den Wohnungen lagen Töchter und Schwiegertöchter auf den Knien und jammerten um die gemordeten Helden. Da trat plötzlich die Botin von Zeus vor den König und begann mit leiser Stimme, daß ihm ein Schauer durch die Glieder fuhr: „Fasse dich, Sohn des Dardanos, verzage nicht; ich habe dir kein übles Wort zu verkündigen. Zeus erbarmt sich deiner: er gebietet dir, zu Achill zu gehen und ihm Geschenke darzubringen, womit du den Leichnam deines Sohnes lösen sollst. Du allein sollst gehen, von keinem andern Trojaner begleitet als von einem der älteren Herolde, der dir den Wagen mit den Maultieren lenken und dich mit dem Toten wieder zur Stadt zurückführen kann. Fürchte weder Tod noch einen andern Schrecken; Zeus gesellt dir den mächtigen Argoswürger Hermes zum Schutze zu, daß er dich geleite, zum Peliden führe und auch dort beschirme. Doch ist Achill selbst ja nicht vernunftlos und kein blinder Frevler; er wird von selbst des Flehenden schonen und alles Leid von dir abwehren.“

Priamos vertraute den Worten der Göttin, befahl seinen Söhnen, den Wagen mit dem Maultiergespanne zu rüsten, und stieg dann in die duftige, mit Zedernholz getäfelte Kammer hinab, in welcher viel Kostbarkeiten aufbewahrt lagen. Dorthin berief er seine Gemahlin Hekabe und sprach zu ihr: „Armes Weib, wisse, daß mir Botschaft von Zeus kam: ich soll zu Achill nach den Schiffen wandeln, sein Gemüt mit Geschenken versöhnen und den Leichnam unseres lieben Sohnes Hektor einlösen. Wie deucht dir solches in deinem Herzen? Mich selbst, ich berge dir es nicht, drängt ein heftiger Trieb, nach den Schiffen zu gehen.“ So sprach der Greis; aber seine Gemahlin erwiderte ihm schluchzend: „Wehe mir, Priamos, wohin ist dir dein einst so gepriesener Verstand entflohen? Welch ein Gedanke: du, der Greis, allein zu den Schiffen der Danaer zu wandeln und dem Manne vor Augen zu treten, der dir so viel tapfere Söhne erschlagen hat! Meinst du, der Falsche, Blutgierige werde Mitleid mit dir haben, wenn er dich erblickt? Viel besser, wir beweinen ihn fern, zu Hause, ihn, dem das Geschick schon bei der Geburt bestimmt hat, von den Hunden verzehrt zu werden!“ „Halte mich nicht“, antwortete Priamos entschlossen, „werde mir nicht selbst im Hause zum drohenden Unglücksvogel; und erwartete mich auch der Tod bei den Schiffen: der Wüterich mag mich ermorden, wenn ich nur, mein Herz mit Tränen sättigend, den geliebten Sohn in den Armen halten darf.“ Unter diesen Worten schlug er den Deckel von den Kisten und wählte zwölf köstliche Feiergewande, zwölf Teppiche, ebensoviel Leibröcke und prächtige Mäntel aus. Dann wog er zehn Talente Goldes dar, erlas weiter vier schimmernde Becken, zwei Dreifüße; ja selbst einen köstlichen Becher, den ihm die Thrakier geschenkt hatten, als er zu ihnen auf Gesandtschaft kam, sparte der Greis nicht. So begierig war er, seinen trautesten Sohn zu lösen! Dann scheuchte er sämtliche Trojaner, die ihn aufhalten wollten, aus der Halle und bedrohte sie: „Ihr Nichtswürdigen, habt ihr nicht Gram im Hause genug, daß ihr herkommt, um auch mich zu bekümmern? Achtet ihr es für etwas Kleines, daß Zeus den Jammer über mich verhängte, meinen tapfersten Sohn zu verlieren? Doch ihr werdet’s schon erfahren. Möchte nur ich in den Hades hinuntergehen, eh ich die Trümmerhaufen eurer Stadt schaue!“ So scheuchte er sie mit dem Stabe hinaus; dann rief er scheltend seine Söhne: „Ihr Schändlichen, Untüchtigen, lägt ihr mir doch alle an Hektors Statt getötet bei den Schiffen! Alle Guten sind tot, nur die Schandflecke sind übrig, Lügner, Gaukler, Reigentänzer, die im Fette des Volkes schwelgen! Werdet ihr mir nicht sogleich den Wagen ausrüsten und alles dieses in den Korb hineinlegen, damit ich meinen Weg vollenden kann?“ Erschrocken gehorchten die Söhne dem murrenden Vater, führten die Maultiere vor den Lastwagen und luden die Lösegeschenke auf. Alsdann spannten sie auch die sorglich gepflegten Rosse an den Wagen des Priamos, und der greise Herold, der ihn begleiten sollte, war auf der Stelle. Mit bekümmertem Herzen reichte Hekabe dem König den goldenen Becher zum Opfertrank; die Schaffnerin nahte ihm mit Waschgefäß und Kanne, und als Priamos sich die Hände mit lauterem Wasser besprengt, empfing er den Becher, stellte sich in die Mitte des Hofes, spendete vom Weine und betete mit erhobener Stimme zu Zeus: „Vater Zeus, Herrscher vom Ida, laß mich Barmherzigkeit und Gnade vor Peleus’ Sohn finden! Gib mir auch ein Zeichen, daß ich getrost zu den Schiffen der Danaer gehen kann!“ Kaum hatte er ausgesprochen, so stürmte mit ausgebreiteten Fittichen ein schwarzgeflügelter Adler rechts her über die Stadt. Alle Trojaner sahen es mit Wonne, und der Greis schwang sich voll Zuversicht in den Wagensitz. Vor ihm her zogen die Maultiere den schwerbepackten vierrädrigen Wagen, den der Herold Idaios lenkte. Hinter diesem trieb der Greis mit der Geißel sein Rossegespann an; die Seinigen aber folgten ihm alle wehklagend, als ob es zum Tode ginge. Als die Wagen draußen vor der Stadt waren und Priamos und der Herold am Denkmale des alten Königs Ilos vorbeieilten, hielten sie mit beiden Wagen ein wenig, um die Rosse und Maultiere unten am Strome zu tränken. Der Abend war eingebrochen, und das Gefilde lag rings in Dämmerung. Da bemerkte Idaios ganz in der Nähe die Gestalt eines Mannes, und erschrocken sprach er zu Priamos: „Merk auf, Herr, hier gilt’s Besonnenheit! Sieh den Mann dort; ich fürchte, er steht auf der Lauer und sinnt auf unsern Tod. Wir sind unbewaffnet, dazu Greise; laß uns entweder umkehren und schnell in die Stadt zurückfliehen oder seine Knie umfassen und ihn um Erbarmung flehen.“ Den Greis durchfuhr ein banger Schauer, und seine Haare sträubten sich. Jetzt näherte sich die Gestalt; es war aber kein Feind, sondern der Abgesandte des Zeus, Hermes, der Bringer des Heiles, welcher auserwählte Sterbliche auf ihren Wegen zu begleiten hat. Dieser faßte die Hand des Königes, ohne daß er ihn erkannte, und sprach: „Vater, wohin lenkst du in tiefer Nacht, wo andere Sterbliche schlafen, deine Rosse und Maultiere? Fürchtest du dich denn gar nicht vor den erbitterten Argivern? Wenn dich einer von ihnen so viel köstliche Habe durchs Dunkel führen sähe, wie würde dir wohl zumute werden? Sorge jedoch nicht, daß ich dir etwas zuleide tue; vielmehr möchte ich dich auch vor andern beschirmen, gleichst du doch meinem lieben Vater an Gestalt! Aber sage mir, führst du soviel auserlesene Güter flüchtend nach einem fremden Lande? Oder verlasset ihr alle bereits Troja, nachdem ihr den tapfersten Mann verloren habt, der keinem Griechen an Mute wich?“ Priamos schöpfte leichter Atem und antwortete: „Wahrlich, jetzt sehe ich, daß die Hand eines Gottes mich beschirmt, da mir ein so liebreicher und verständiger Gefährte auf meinem Weg begegnet, der so schön vom Tode meines Sohnes redet. Aber wer bist du, mein Guter, und welcher Eltern Kind?“ „Mein Vater heißt Polyktor“, antwortete Hermes, „ich bin von sieben Söhnen der letzte, ein Myrmidone und Genosse des Achill; daher ich denn oft mit meinen Augen deinen Sohn kämpfen und die Argiver zu den Schiffen treiben sah, während wir bei unserm zürnenden Herrn standen und jenen aus der Ferne bewunderten.“ „Wenn du ein Genosse des schrecklichen Peliden bist“, fragte Priamos jetzt voll Ungeduld, „o so verkündige mir, ob mein Sohn noch bei den Schiffen ist oder ob Achill ihn schon, in Stücke zerhauen, den Hunden vorgeworfen hat!“ „Nein“, antwortete Hermes, „er liegt noch im Zelte des Achill, von Moder unberührt, obgleich schon der zwölfte Morgen verflossen ist und der Held ihn mit jedem Sonnenaufgang ohne Mitleid um das Grab seines Freundes schleift. Du würdest dich selbst verwundern, wenn du sähest, wie frisch und tauig er daliegt, vom Blute gereinigt, alle Wunden geschlossen. Selbst im Tode pflegen die Götter noch seiner.“ Voll Freude langte Priamos den herrlichen Becher hervor, den er bei sich im Wagen liegen hatte. „Nimm ihn“, sprach er, „verleih mir deinen Schutz dafür und geleite mich zum Zelte deines Herrn.“ Hermes, als scheute er sich, ohne Achills Wissen Geschenke zu nehmen, wies die Gabe ab, schwang sich jedoch zu dem Helden in den Wagen, ergriff Zaum und Geißel, und bald hatten sie Graben und Mauer erreicht. Hier fanden sie die Hüter eben mit dem Nachtmahle beschäftigt. Doch ein Wink des Gottes versenkte sie in tiefen Schlaf, und ein Druck seiner Hand schob den Riegel vom Tore. So gelangte Priamos mit seinem Lastwagen glücklich vor die Lagerhütte des Peliden, die hoch aus Balken gebaut und mit Schilf bedeckt, auch mit einem geräumigen Hofe umgeben war, den eine dichte Reihe von Pfählen umschloß. Nur ein einziger tannener Riegel verschloß die Pforte, aber so schwer, daß nur drei starke Griechen ihn vor- oder zurückschieben konnten; nur Achill selbst brauchte keine Beihilfe dazu. Jetzt aber öffnete Hermes das Tor ohne Mühe, stieg vom Wagen, gab sich als Gott zu erkennen und verschwand, nachdem er dem Greis geraten, des Helden Knie zu umfassen und ihn bei Vater und Mutter zu beschwören.

Priamos sprang jetzt auch vom Wagen und übergab dem Idaios Rosse und Maultiere. Er selbst ging geraden Weges auf die Wohnung zu, wo Achill saß. Er traf ihn zu Hause, getrennt von den Seinigen, nur von den Helden Atomedon und Alkimos bedient, eben von der Mahlzeit ruhend, und die Tafel stand noch vor ihm. Unbemerkt trat der erhabene Greis ein, eilte auf den Peliden zu, umschlang seine Knie, küßte ihm die Hände, die entsetzlichen, die ihm so viele Söhne gemordet hatten, und sah ihm ins Antlitz. Staunend betrachteten ihn Achill und seine Freunde, da fing der Greis an zu flehen: „Göttergleicher Achill, gedenke deines Vaters, der alt ist wie ich, vielleicht auch bedrängt von feindlichen Nachbarn, in Angst und ohne Hilfe wie ich. Doch bleibt ihm von Tag zu Tag die Hoffnung, seinen geliebten Sohn von Troja heimkehren zu sehen. Ich aber, der ich fünfzig Söhne hatte, als die Argiver herangezogen kamen, und davon neunzehn von einer Gattin, bin der meisten in diesem Kriege beraubt worden, und zuletzt durch dich des einzigen, der die Stadt und uns alle zu beschirmen vermochte. Darum komme ich nun zu den Schiffen, ihn, meinen Hektor, von dir zu erkaufen, und bringe unermeßliches Lösegeld. Scheue die Götter, Pelide, erbarme dich mein, gedenke deines eigenen Vaters! Ich bin des Mitleids noch werter: dulde ich doch, was noch kein Sterblicher geduldet hat, und drücke die Hand an die Lippe, die meine Kinder mir getötet.“ So sprach er und erweckte dem Helden sehnsüchtigen Gram um seinen Vater, daß er den Alten sanft bei der Hand anfaßte und zurückdrängte. Da gedachte der Greis seines Sohnes Hektor, wand sich zu den Füßen des Peliden und fing laut an zu weinen; Achill aber weinte bald über seinen Vater, bald über seinen Freund, und das ganze Zelt erscholl von Jammertönen. Endlich sprang der edle Held vom Sessel empor, hub den Greis voll Mitleid mit seinem grauen Haupt und Bart, an der Hand auf und sprach: „Armer, fürwahr, viel Weh hast du erduldet, und jetzt, welch ein Mut so allein zu den Schiffen der Danaer zu wandeln und einem Manne vor die Augen zu treten, der dir so viele und so tapfere Söhne erschlagen hat! Du mußt ja ein eisernes Herz im Busen tragen! Aber wohlan, setz dich auf den Sessel, laß uns den Kummer ein wenig beruhigen, sosehr er uns von Herzen geht; wir schaffen ja doch nichts mit unserer Schwermut. Das ist nun einmal das Schicksal, das die Götter den elenden Sterblichen bestimmt haben, Gram zu erdulden, während sie selbst ohne Sorge sind. Denn zwei Fässer stehen an der Schwelle von Zeus’ Behausung, das eine voll Gaben des Unglücks, das andere voll Gaben des Heils. Wem der Gott vermischt austeilt, den trifft abwechselnd bald ein böses, bald ein gutes Los; wem er nur Weh austeilt, den stößt er in Schande, der wird von herzzerfressender Not über die Erde hin verfolgt. So schenkten die Götter dem Peleus zwar herrliche Gaben: Habe, Macht, ja selbst eine Unsterbliche zur Gattin; doch hat ihm ein Himmlischer auch Böses gegeben, denn ihm ward ein einziger Sohn, der frühe hinwelken wird, der des Alternden so gar nicht pflegen kann; denn hier in weiter Ferne sitze ich vor Troja und betrübe dich und die Deinigen. Auch dich, o Greis, priesen die Völker vormals glückselig, jetzt aber haben die Olympischen dir dieses Leid gesandt, und seitdem tobt nur Schlacht und Mord um deine Mauern. So duld es denn und jammere nicht unablässig, du kannst deinen edlen Sohn doch nicht wieder aufwecken!“

Da antwortete Priamos: „Heiß mich nicht sitzen, Liebling des Zeus, solange Hektor noch unbeerdigt in deinem Zelt liegt. Erlaß ihn mir eilig, denn mich verlangt, ihn zu schauen. Freue dich der reichlichen Lösung, schone meiner und kehre heim in dein Vaterland!“

Achill runzelte die Stirn bei diesen Worten und sprach: „Reize mich nicht mehr, o Greis! Ich selbst ja beabsichtige, dir Hektor zu erlassen, denn meine Mutter brachte mir Zeus’ Botschaft; auch erkenne ich wohl im Geiste, daß dich selbst, o Priamos, zu unsern Schiffen ein Gott geführt hat. Denn wie sollte dies ein Sterblicher, und wäre es der kühnste Jüngling, wagen, wie unsern Wächtern entschlüpfen, wie die Riegel der Tore zurückschieben? Darum errege mir mein trauriges Herz nicht noch mehr, ich möchte sonst Zeus’ Befehl vergessen und deiner nicht schonen, o Greis, so demütig du flehst!“

Zagend gehorchte Priamos. Achill aber sprang wie ein Löwe aus der Pforte und ihm nach seine Genossen. Vor dem Zelt spannten sie die Tiere aus dem Joch und führten den Herold herein. Dann huben sie die Lösegeschenke vom Wagen und ließen nur zwei Mäntel und einen Leibrock zurück, um damit die Leiche Hektors anständig zu verhüllen. Dann ließ Achill, fern und ungesehen vom Vater, den Leichnam waschen, salben und bekleiden. Achill selbst legte ihn auf ein unterbreitetes Lager; rief, während die Freunde den Toten auf den mit Maultieren bespannten Wagen hoben, den Namen seines Freundes an und sprach: „Zürn’ und eifre mir nicht, Patroklos, wenn du etwa in der Nacht der Unterwelt vernimmst, daß ich Hektors Leiche seinem Vater zurückgebe! Er hat kein unwürdiges Lösegeld gebracht, und auch dir soll dein Anteil davon werden!“

Nun kehrte er zurück ins Zelt, setzte sich dem Könige wieder gegenüber und sprach: „Sieh, dein Sohn ist jetzt gelöst, o Greis, wie du es gewünscht hast; er liegt in ehrbare Gewande eingehüllt. Sobald der Morgen sich rötet, magst du ihn schauen und davonführen. Jetzt aber laß uns der Nachtkost gedenken; du hast noch Zeit genug, deinen lieben Sohn zu beweinen, wenn du ihn zur Stadt gebracht hast, denn wohl verdient er viele Tränen.“ So sprach der Held, erhub sich wieder vom Sitz, eilte hinaus und schlachtete ein Schaf. Seine Freunde zogen die Haut ab, schnitten das Fleisch in Stücke und brieten es sorgfältig am Spieße. Dann setzten sie sich zu Tische: Automedon verteilte in zierlichen Körben das Brot, Achill das Fleisch, und alle sättigten sich nun mit Speise und Trank. Staunend betrachtete Priamos Wuchs und Gestalt seines edlen Wirtes, denn er glich den Unsterblichen. Aber auch Achill staunte vor Priamos, wenn er ihm in das Angesicht voll Würde schaute und die weise Rede des Greisen vernahm. Als nun das Mahl vorüber war, sprach Priamos: „Bette mich jetzt, edler Held, daß wir uns am erquickenden Schlaf sättigen; denn seit mein Sohn gestorben ist, haben sich meine Augenlider nicht mehr geschlossen, und das erste Mal habe ich Fleisch und Wein gekostet.“

Sofort befahl Achill seinen Genossen und den Mägden, ein Bett unter die Halle zu stellen, mit Purpurpolstern zu belegen, Teppiche darüber zu breiten und zottige Mäntel als Decken darauf. So wurde jedem der Fremdlinge ein gesondertes Lager bereitet; und nun sprach Achill freundlich: „Lagere dich jetzt draußen, lieber Greis, es möchte dich einer der Danaerfürsten, die sich beständig in meinem Zelte zum Rat versammeln, durchs Dunkel hinschleichen sehen und es dem Völkerhirten Agamemnon melden. Der aber könnte dir den Leichnam streitig machen. Jetzt sage mir aber auch noch: wieviel Tage gedenkst du auf die Bestattung deines edlen Sohnes zu verwenden? Damit ich so lange ruhe und auch das Volk von jedem Angriff abhalte.“ „Wenn du mir es vergönnst“, antwortete Priamos, „meinem Sohne eine Leichenfeier zu halten, so gestatte mir deine Güte elf Tage. Du weißt, wir sind in die Stadt eingeschlossen und müssen das Holz fern im Gebirge holen. So brauchen wir neun Tage zur Vorbereitung, am zehnten möchten wir ihn bestatten und das Totenmahl feiern, am eilften ihm einen Ehrenhügel auftürmen; am zwölften Tage, wenn es so sein muß, wollen wir wieder kämpfen.“ „Auch dieses geschehe, wie du begehrst“, erwiderte Achill; „ich werde das Heer so lange zurückhalten, als du gefordert.“ So sprechend, faßte er die Rechte des Greises am Knöchel, um seinem Herzen alle Furcht zu benehmen. Dann entließ er ihn zum Schlaf und legte sich selbst im innersten Raum seines Zeltes nieder.

Während so alles schlief, blieb Hermes der Gott schlummerlos und erwog im Geiste, wie er den König Trojas, von den Wächtern ungesehen, aus den Schiffen zurückführen möchte. Deswegen trat er zu dem Haupte des schlummernden Greises und sprach zu ihm: „Alter, du schläfst fürwahr sehr unbesorgt bei feindlichen Männern, nachdem dich alles verschont hat. Es ist wahr, du hast den Sohn teuer gelöst; aber wenn Agamemnon und die Griechen es wüßten, so müßten deine Söhne daheim dich, den Lebenden, mit dreimal größerem Lösegeld auskaufen!“ Der Greis erschrak und weckte den Herold; Hermes selbst spannte ihnen Rosse und Mäuler ein und schwang sich zu dem König in den Wagen; Idaios lenkte die Maultiere mit dem Leichnam. So fuhren sie unbemerkt durch das Heer und hatten bald das griechische Lager hinter sich.