Zum Hauptinhalt springen

Februar 1917

Eine Audienz bei Kaiser Wilhelm

Wien, 13. Februar.

Der deutsche Kaiser hat den Verfasser des mit so großem Erfolge aufgeführten Dramas »Könige«, Doktor Hans Müller, zur Audienz in die Hofburg beschieden. Herr Dr. Hans Müller hatte die Freundlichkeit, einem unserer Mitarbeiter folgende Mitteilungen zu machen:

»Ich wußte nichts von der bevorstehenden Berufung, als die Generalintendanz der Hoftheater mir vormittags mitteilte, der deutsche Kaiser hätte an sie den Wunsch gerichtet, mich für ¾12 Uhr zu ihm in die Hofburg zu bestellen.«

Eine Weile warte ich in den offenen Sälen des großen Fremdenappartements, das Kaiser Wilhelm bewohnt, und indes ich meine Spannung durch den Blick auf die uralten Gobelins zu beschwichtigen trachte, tritt Militärattaché Oberst Graf Kageneck mit freundlichen Worten auf mich zu, dann der diensttuende Flügeladjutant, zuletzt Generaladjutant Generaloberst v. Plessen, der den Eindruck, welchen das Drama »Könige« im Deutschen Reiche erwecke, auf die liebenswürdigste Weise betont. Einige jüngere Offiziere aus dem Gefolge des Kaisers setzen das Gespräch fort, alle von lebhaftestem Interesse für die zeitgenössische Kunst erfüllt.

»Seine Majestät lassen bitten.« Die Türen gehen auf, da kommt der Kaiser selbst mir bis an die Tür entgegen, er streckt mir die Hand hin, er blickt mich aus seinen großen, strahlenden Augen mit dem gütigsten Lächeln an und sagt: »Sie haben uns im Kriege eine so schöne Dichtung geschenkt — was dürfen wir im Frieden von Ihnen erwarten?« Vor dieser Stimme schwindet sogleich jede Befangenheit: frisch, lebhaft, impulsiv in Ausdruck und Gebärde, anregend in jedem schnell gesprochenen Wort, dabei von einer ganz selbstverständlichen Würde, entspricht Kaiser Wilhelm wohl den besten Bildern, die man von ihm kennt, und übertrifft sie doch durch die Leuchtkraft seiner Augen auf die überraschendste Weise. Diese Augen lassen einen nicht los. Sie sind der erste Eindruck seiner Persönlichkeit, und wie sie mit ihrem offenen, männlichen Blick jeden seiner Sätze begleiten und erhellen, leuchten sie einem noch am Ende nach als der Spiegel einer klaren, im tiefsten Sinne sittlichen Natur. Von den Augen gleitet der Blick über Antlitz und Gestalt des Kaisers. Leicht ergraut, doch immer noch im Gesamteindruck blond, das Haar aus der hohen Stirn zurückgestrichen, tannenschlank in seiner echten Soldatenhaltung, vortrefflich gekleidet durch die österreichisch-ungarische Felduniform, straft Kaiser Wilhelm die Sorgenzeit des Krieges Lügen. Er ist von einer Jugend und inneren Lebendigkeit, die wie ein Geschenk der Natur anmuten.

Lange spricht der Kaiser über mein Stück zu mir. Nur was die Allgemeinheit interessiert, sei hier andeutungsweise wiedergegeben. Kaiser Wilhelm betrachtet die Freude an der Kunst als seine einzige Erholung von den hunderttausend Staatsgeschäften und Volkssorgen, die ihn jetzt ganz erfüllen. »Den Sinn für die Bühne«, sagt er, »habe ich von meiner Mutter ererbt; meine Mutter war Künstlerin und Kennerin ....« Daß der Kaiser nicht nur an Wissen, sondern auch an Einfall, Phantasie, malerischem Blick einer der ursprünglichsten Regisseure ist, weiß an den Berliner Hofbühnen jedermann; dankbar erwähne ich dies im Zusammenhang mit der Berliner Inszenierung der »Könige«.

»Ja, wir haben uns mit dem Stück Mühe gegeben«, sagt der Kaiser in seiner schlichten Art; »alles ist zeitgetreu nach alten Stichen und Urkunden gemacht, denn ein historisches Drama soll nicht nur im Wort, sondern auch im Bild den Zuschauer treu in die vergangene Welt zurückführen. Jedes Jahrhundert hat seine Silhouette. Diese Silhouette nicht als Flickwerk, sondern als ganzes Kulturbild auferstehen zu lassen, ist eine der bleibenden Aufgaben des Theaters ....« Und jäh auf den Krieg übergehend, fragt der Kaiser plötzlich: »Wissen Sie, daß wir in Belgien alle Kirchen, alle alten Kunstdenkmäler sorgsam herstellen, daß wir alles, was nur irgendwie historischen Wert hat, schützen und restaurieren? Ja, wir sind eben Barbaren ....«

Dann ist von meinen neuen Arbeiten die Rede. »Sie sollten immer wieder in den Brunnen der deutschen Vergangenheit hinabtauchen«, sagt der Kaiser lebhaft, »welche Fülle von Gold liegt dort noch ungehoben! Seit frühester Jugend gehen mir ein paar Gestalten nach, die nach der Vertiefung durch den Dichter verlangen. Da ist der Ostgotenkönig Theoderich, der im letzten Teil von Hebbels ›Nibelungen‹ ja nur als Episode gestaltet ist. Da ist aus späterer Zeit Friedrich II., einer der schöpferischesten und interessantesten Männer, noch lange nicht in seiner Größe erkannt. Da ist vor allem Karl v. Denken Sie sich, daß er mit Martin Luther zusammenkäme — ist das nicht einer jener ewigen Gegensätze, die auch auf der Bühne ewige Wirkungen erzeugen —?« Und nach einem kleinen Schweigen fügt der Kaiser langsam und ruhig hinzu: »Wer weiß, wenn die beiden, Karl und Luther, wirklich zusammengekommen wären, wer weiß, wo heute das deutsche Volk stünde ....«

Während der Kaiser so spricht, in die letzte Tiefe der menschlichen Erkenntnisse hinabgreifend, sehe ich immer seine Augen an; diese Augen erst lassen einen ganz begreifen, was er meint und wie er ist. Kein ernstes Problem der Zeit, es sei wissenschaftlicher, staatsmännischer, künstlerischer Art, ist scheinbar ohne Spur an ihm vorübergegangen. Jedes seiner Worte, je unwillkürlicher er es sagt, zeigt um so bedeutender sein Gefühl für die Verantwortung des Königsberufes. Da ich jenen schönen Brief an den Reichskanzler erwähne, durch den er das Friedensangebot der Mittelmächte begründet hat, sagt Kaiser Wilhelm mit starkem Kopfnicken: »Ja, dieser Brief mußte geschrieben, dieser Schritt mußte getan werden; jetzt weiß doch die ganze Welt, wer diejenigen sind, die der Menschheit weitere Qualen auferlegen.«

Und da stehen wir unvermittelt im Gespräch über die letzte Phase des Krieges. Könnte ich den Ton der Sittlichkeit, aber auch den Ton des Wissens wiedergeben, mit dem Kaiser Wilhelm seiner Zuversicht prachtvollen Ausdruck gibt! In jedem unserer Häuser flöge ein Fenster auf, durch jedes offene Fenster schiene uns eine neue Frühlingssonne hell auf den Tisch. Denn der Kaiser macht keine Redensarten; er vertraut wie einer, der aller Gefahr offen ins Gesicht geblickt hat. Und noch etwas: er liebt Österreich-Ungarn von ganzem Herzen. »Vergißt man schon«, fragt er, »daß die Entente die Mörder des Erzherzogs Franz Ferdinand schützt? Wie kurz ist das Gedächtnis der Welt! Als ich heute den Obersthofmeister meines verewigten Freundes, Baron Rumerskirch, sah, seit jenen Konopischter Frühlingstagen zum erstenmal, da kam es mir wieder ganz stark zu Bewußtsein: über unseren Feinden liegt doch von Anfang an der Schatten des Verbrechens! Auf unserer Seite ist Recht und Sittlichkeit — und ihnen zum Triumph zu verhelfen, muß jede blanke Waffe uns willkommen sein ....« Es ist ein Quell der Aufklärung und der Zuversicht, Kaiser Wilhelm über die schärfste dieser Waffen, den neuen Unterseebootkrieg, sprechen zu hören, dessen Ergebnis — militärisch, politisch und psychologisch — er schon jetzt als sehr bedeutend einschätzt. »Sehen Sie doch die europäischen Neutralen«, ruft er aus, »lesen Sie die schwedische Antwort, dieses wie für die Ewigkeit geschriebene Dokument — nun wissen wohl die Neutralen schon insgesamt, wie sie unsere Kraft, aber auch wie sie unseren Willen zum Frieden einzuschätzen haben. Zum erstenmal steht in gewissem Sinne der erklärte Wille der kleinen Staaten gegen die angelsächsische Welt. Und Napoleons Kontinentalsperre wird aus einem Phantom zur Wirklichkeit, zu einer, die England härter trifft als alles, alles Bisherige.« Ich werfe ein, daß auch bei uns die Bevölkerung fest und opfermutig zu dem jüngsten Entschluß steht. Kaiser Wilhelms Auge blitzt freudig auf, er nickt mit dem Kopf und sagt strahlend: »Ja, ich weiß es. Und es erfreut mir das Herz, wie prächtig Ihre blauen Jungens mit den meinen zusammenarbeiten. Da ist ein großer Zug darin, das hat sein Ziel, das geht voran ....«

Ist es möglich? Eine Viertelstunde, mehr als sie, ist wie im Rausch verflogen. Se. Majestät nimmt meine Hand, schüttelt sie wieder und sagt: »So danke ich Ihnen denn noch einmal für das Werk, das Sie uns gegeben haben, danke Ihnen auch dafür, daß mein Berliner Schauspielhaus mit Ihrem Drama während des Krieges das Publikum erheben konnte ....« Und dann, dann stehe ich draußen vor dem Tor der Burg, und wie meine Augen noch einmal zu den Fenstern des Kaisers zurückkehren, durchströmt mich eine heiße Welle der Zuversicht — der Zuversicht auf ein baldiges, glückliches Ende unserer Prüfung. »Das hat sein Ziel, das geht voran ....« »Möchten alle Menschen, Soldaten und Bürger, sich an diesem Wort des deutschen Kaisers im Innersten aufrichten.«

Neue Presse, 14. Februar 1917

Vgl.: Die Fackel, Nr. 454-456, XIX. Jahr
Wien, 1. April 1917.