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Prozess Veith

Oktober 1908

»Die Vorgeschichte des Prozesses, der im Juli dieses Jahres bereits das Gericht beschäftigt hat, ist allgemein bekannt. Mizzi Veith, genannt ›Comtesse Mizzi‹, endete durch Selbstmord, nachdem ihr Ziehvater, der ›Conte Marcell Veith‹, von der Polizei festgenommen worden war.«

Der Zeitungsbericht

»Ein Sittlichkeitsprozeß ist die zielbewußte Entwicklung einer individuellen zur allgemeinen Unsittlichkeit, von deren düsterem Grund sich die erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt.«

Sittlichkeit und Kriminalität

»Die nächste Zeugin, die wiederholt erwähnte Anna Sachs, ist nicht erschienen; es wird auf ihre Aussage verzichtet.«

Der Zeitungsbericht

»Wehe euch, Schriftgelehrten und Pharisäern, ihr Heuchler, die ihr verzehntet die Minze, Anis und Kümmel; und laßt dahinten das Wichtigere im Gesetz: Gerechtig keit, Barmherzigkeit und Treue.«

Evangelium Matthäi 23

Ein schlafender Rüpel regt sich, wirft einen Nachttopf um, legt sich aufs andre Ohr und schnarcht weiter. Das sind die Moralprozeduren des Staates. Die einen rütteln ihn, daß er erwache. Die andern nennen ihn einen Schweinkerl. Vergebens. Er schläft und rumort nur im Faulbett, wenn wieder die Blähungen der Sittlichkeit ihn befallen. Dann nimmt die Gerechtigkeit ihren Lauf ...

O du alter nichtsnutziger Lümmel, du ausgeschämter Hallodri du, heiliger Saufaus und ehrbarer Wüstling, du nimmst den Töchtern der Wollust die sauer erworbenen Groschen, hebst den Zins von allen Schanden ein, und gehst hin und verklagst die überhandnehmende Unsittlichkeit! Denn die eifersüchtige Alte, die dir im Hause sitzt, die Gesellschaft, ist dir hinter deine Zärtlichkeiten gekommen, schwingt den Pantoffel über dir und zwingt dich, einmal im Jahr ihr mit deiner Gesinnung zu Willen zu sein, wenn du schon deine Impotenz so leichtfertig zersplittert hast. Dann schnarchst du Anklagen, rülpsest Erlässe und lassest ein paar Moralsprüche ergehen, daß die Engel im Himmel sich die Nase zuhalten. Schlichest du nicht hinter der kleinen Mizzi Veith einher, du päpstlicher Conte? Hieltest sie nicht vier Jahre den Kavalieren feil, denen du die Kabinette öffnest, wenn sie regieren oder sich auf feinere Art amüsieren wollen! Und nahmst ihr eines Nachts den Champagner vom Munde und gabst ihr Wasser zu trinken. Und umkreistest ihren Leichnam wie eine schwarzgelb gefleckte Hyäne und schleiftest ihn zum Gerichtstisch, wo er als Corpus delicti, nein, als Corpus vile dem Appetit deiner Rache dienen muß! O du alter Tunichtgut, du ärarischer Pförtner der Lust, du Schüler deiner Hausmeister, du Trinkgeldnehmer deiner Huren, der du alles siehst und nichts gesehen haben willst, der du nichts siehst und alles gesehen haben willst, Bordellwirt zweier Reiche, du in Kalksburg geborener und nach Budapest zuständiger, mehrfach vorbestrafter, öfter aus der Zivilisation abgeschobener warmer Betbruder, du Voyeur mit dem ewig zugedrückten und dem Auge des Gesetzes, der du in Abenteuer tölpelst, wenn es verlangt wird, du Mächtiger über die Schwachen und Schwacher vor der Frau Sachs! Wie oft habe ich dich gepackt, wie oft dich gebeten: tus nicht; sei nicht niederträchtig, wenn du nicht die Kraft hast, es bis ans Ende zu sein, wie jener preußische Schutzmann, dessen Beispiel dich verlockt hat; spiel dich nicht auf mit der Devise, daß es noch Richter in Österreich gibt, solange Europa das unerschütterliche Vertrauen in die Wahrheit hat, daß man es sich in Österreich noch richten kann. Wie oft habe ich dich gebeten: tus nicht, und du tatest es doch und schicktest deine Richter über deine Huren. Wie habe ich dir mit einem Buch auf den Schädel geschlagen, daß ich hoffte, die Unvereinbarkeit von Sittlichkeit und Kriminalität werde dir aufgehen, ohne daß dir aus der Lektüre ein innerer Schaden entstände. Aber du schämtest dich deiner Beulen nicht und lachst des Versuchers. Und protzest gar mit der Unschuld deiner Polizisten. Denn sie sind zwar durch die Riehl zu Falle gebracht worden, aber ihre Jungfräulichkeit blieb länger bewahrt als selbst die der armen Mizzi.

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Zigeunermusik umwogt wimmernd das Ohr beseligter Pferdehändler und ermannt sich sofort zu mutiger Melodie, wenn die vom k.u.k. Ulanenregiment usw. das Lokal betreten. An den Tischen sitzen Larven, die genug fühlende Brust haben, um dem heimischen Geschmack zu gefallen, der immer etwas zum Anhalten braucht, weil ihm die Phantasie ihre Hilfe versagt hat. Das sind die Büfettdamen. Die sich an ihrer Seite des Lebens freuen, das sind die Würzen. Eros ist Vertreter einer Sektfirma und dank einer aufmerksamen Bedienung sind die Flaschen rascher gewechselt als geleert. Ein Zug von Bürgerssöhnen, die im Taillenrock wie Puppen aussehen, nur geistig weniger regsam sind, durchschreitet spähend den Qualm, die Kellner, die den französischen Adelstitel Marqueure führen, geben die gewünschten Auskünfte. Artisten, die oben im Etablissement gearbeitet haben, versammeln sich zu jener philiströsen Geselligkeit, die die Staatsanwälte für ein Lotterleben halten, ein Bankkommis erklärt sich durch Zerschmetterung eines Trinkglases mit der Aristokratie solidarisch, ein humpelnder Wagentüröffner erscheint und fragt, ob die Ella schon da sei, ein Dichter bekommt einen Tobsuchtsanfall, weil jemand die Existenz der Frauenseele geleugnet hat; ein hagerer Alter hastet durch das Lokal. Er sieht mit flackerndem Blick nach einer Ecke, in der getrunken wird, ist beruhigt, weil in der andern Ecke der Polizeikommissär sitzt, und kehrt wieder um. Nachtnächtlich durch vier Jahre. Dieser Alte wird, nach vier Jahren, in Haft genommen und dann zu schwerem Kerker verurteilt werden. Er hätte nicht nach der Ecke sehen sollen. Er habe, wird es heißen, die Gesellschaft durch seinen flackernden Blick gestört. Er habe die Unmoral in das Nachtcafé getragen. Zigeuner, Pferdehändler, Marqueure und Toilettefrauen werden als Zeugen wider ihn aufstehen, und das Gericht wird bloß das Urteil bestätigen, das die Nachtkassierin schon längst über ihn gefällt hat: daß er ein Strizzi sei. In der Urteilsbegründung wird der Gerichtshof ausdrücklich betonen, er wolle dem Nachtcafé selbst nicht nahetreten, aber der Angeklagte habe durch seine geschäftliche Verbindung mit diesem das Delikt begangen. Die Gäste werden sagen, daß sie es immer gesagt haben, eine Schande sei es, daß der Vater ihnen seine eigene Tochter verkupple, die Schande selbst wird sagen, es sei eine Schande, und sogar die Nachtlokalredakteure werden empört sein, die um die Mizzi bei Lebzeiten herumgestrichen sind, als ob sie eine Wasserleiche witterten, oder in der Hoffnung, gratis ihrer Prostitution teilhaftig zu werden. Der Leiter eines bekannten Erziehungsheims, das Venedig in Wien heißt, wird bekunden, man habe ihn sofort auf den Mann aufmerksam gemacht und es sei diesem der Besuch der Anstalt untersagt worden, so daß er sich nicht mehr nach den Fortschritten der Tochter erkundigen konnte; auch habe er dem Mädchen selbst wiederholt Vorstellungen gemacht. Die Neue Freie Presse wird einen Leitartikel bringen, in welchem ausgeführt ist, daß es ein Zeichen der Reaktion sei, wenn die Theaterzensur den Werken unabhängiger Dichter Schwierigkeiten in den Weg legt, aber der Hochadel sich ungestört sinnlichen Vergnügungen hingeben darf. »Freilich, als die Geigen klangen und die Champagnerpfropfen knallten«, wird es heißen, »als helles Frauenlachen erscholl und elegante Herren im Frack sich lässig auf ihren Sesseln zurücklehnten und den Dampf feiner Zigaretten in die Luft bliesen ...« Aber jetzt, wird es heißen, »sind diese Nächte längst vergangen, die Geigen klingen schrill und das Frauenlachen grell und gellend«. Der Freisinn wird »Klarheit und Wahrheit« verlangen, denn wir stecken tief im Vormärz, wenn es möglich ist, daß eine Büfettdame mit der Schande ihres Leibes, wird es heißen, ihre Familie ernährt. Die Aristokraten sind an allem schuld, werden die einen sagen, die Juden sind an allem schuld, werden die andern sagen. Und die Nachtportiers, die Hotelstubenmädchen und die Fiaker werden bekunden, welche Schmach sie durch vier Jahre gegen ein relativ geringes Trinkgeld ertragen mußten. Er hat — Nun, was hat er denn? Er hat, aber Herr kaiserlicher Rat, dös kann ma ja gar net aussprechen! Er hat gut g’wußt, daß dös Madel — Nun, was hat sie denn? Na ja, sie hat halt einen Lebenswandel g’führt. Einen Lebenswandel hat sie halt g’führt ... Und das Volk, in dem ein gesunder Kern steckt, wird sich an dem Wort Lebenswandel berauschen, bis sie alle besoffen sind, und die Richter, sie hören es gerne, und die ganze menschliche Gesellschaft, die durch vier Jahre den sittlichen Ruf der Nachtcafés verteidigen mußte, wird einen Veitstanz aufführen, bei dem ein einziger hinfällt und die andern fröhliche Urständ feiern.

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Denn sie hat in der Tat einen Lebenswandel geführt. Selbständig, heißt es, war sie darin nicht. Ein rauher Stiefvater hat sie frühzeitig verhindert, Telephonistin zu werden. Nicht einmal in eine Zündhölzchenfabrik einzutreten oder sich zur Tabakarbeiterin auszubilden, hat er ihr erlaubt. Im Gegenteil wurde sie von Jugend an strenge dazu angehalten, das Leben von seiner heitern Seite zu nehmen und einen Trieb zu entwickeln, der dem Weib als schlimmster Makel anhaftet: den Männern zu gefallen. Ihr Stiefvater verlangte von ihr, daß sie hübsch sei und es nicht einmal verberge. Er erniedrigte sie also dazu, aus einem Körperfehler, dessen Trägerinnen die menschliche Gesellschaft einen Bettelpfennig und ihre Verachtung hinwirft, Gewinn zu ziehen. Wäre sie ohne Hände auf die Welt gekommen, so wäre es sittlich gewesen, davon zu leben, wenn auch als Vagabondage strafbar. Aber weil ihre Hände schön waren, so war sie ein unehrlicher Krüppel, und wieder vom Vagabundengesetz bedroht. Der Vater, der diese Hände nicht dazu zwang, sich in einem Kontor oder einer Fabrik zuschanden zu arbeiten, handelte verbrecherisch an ihr. Sie sank so tief, daß ihre Formen allmählich in einer Toilette zur Geltung kamen, anstatt sich von einem Kittel verhüllen zu lassen. Solche Schaustellung ist Prostitution, und wer sich ihr ergibt, wird um so mehr verachtet, als er dem empörten Betrachter ein ästhetisches Behagen verursacht, während die Gebrechen, die die andern Krüppel zeigen, nur moralische Empfindungen wachrufen. Die Entschuldigung, daß ein Weib für seine Schönheit nichts kann, läßt die Kultur nicht gelten, weil sie tausend Hüllen bereit hält, das Übel zu bergen. Ein Vater, der die Schaustellung fördert oder duldet, macht sich eines Verbrechens schuldig. Mizzi Veith war dazu erzogen worden, sich das Wohlgefallen und somit die Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft zu verdienen.

Manche geht in einem Konflikt zugrunde, der das einzige tragische Problem bedeutet, zu dem sich die Menschheit aus den Niederungen der christlichen Moral emporgerungen hat; manches zur Liebe bestimmte Geschöpf wird das Opfer des großen christlichen Nächstenhasses. Sie setzen sich allen Pfeilen aus, die die soziale Welt für ihre Leugner bereit hält, leisten der Natur Gefolgschaft und gehen in dem Vernichtungskriege unter, der das hehrste Schauspiel dieser subalternen Zeit vorstellt. Was weiß ein Staatsanwalt davon! Verstünde er es, wenn ihm ins Hirn gebrannt würde, daß das Hurentum das letzte Heroentum einer bankrotten Kultur bedeutet? Oder es ist bloß eine soziale Notwendigkeit, und Hunderttausende opfern sich einem Beruf, der Achtung verdient wie ein anderer und dessen Verächter sich hüten sollten, Vergleiche mit Wert und Nutzen ihres eignen Berufes zu provozieren. Hunderttausende folgen keiner Naturbestimmung, sie sind »Verlorene«, schreiben Tagebücher, und ihr Schicksal, fern einer großen Tragik, bietet die Trauer, die die Unfallschronik füllt und durch das mesquine Elend auf allen Straßen geboten wird, wenn wir nur genug christliche Liebe bei uns haben, sie zu empfinden. Vielleicht hat Mizzi Veith zu den vielen gehört, die man bedauern, und nicht zu den wenigen, die man bewundern soll. Dann hat sie doch einem Zweck gelebt, der so reell und lauter, so praktisch und ethisch berechtigt ist wie die Aufgabe, die Ansprüche des Publikums am Postschalter zu befriedigen. Dann hat sie nicht ihrer eigenen Notwendigkeit gedient, aber der fremden, und ihrer eignen Not. Dann hat die Gesellschaft die allergeringste Berechtigung, einen Vater zu tadeln, der bei der Berufswahl für sein Kind dem Vorteil der Familie und dem sozialen Interesse zugleich gedient hat. So, wie ich das arme Geschöpf, dessen toter Leib heute noch für Reklamezwecke taugt, in Erinnerung habe, war Mizzi Veith unter Larven ein Lärvchen und kein Dämon trieb sie auf den Kriegspfad gegen die christliche Welt. Sonst hätte wohl ihre Natur auch nicht so lange dem Zügel des Vaters gehorcht. Immerhin war hinreichend Lust da, zu leben und zu lachen, um den Sporn des Vaters nicht als Druck zu fühlen. Aber ich muß mir den Fall erhöhen. Denn dieser nichtsnutzige Wechselbalg einer Lebensansicht, die sich ethisch dünkt, seitdem sie luetisch geworden ist, besprenzt mir blind die Heiligtümer der Lust wie ihre Betriebsstätten, hetzt Göttin und Dienstmagd zuschanden und weidet so den viehischen Trieb nach Sittlichkeit, daß die Wiesen hysterisch werden und die Natur das Schämen erlernt. Ich muß den Fall der kleinen Mizzi Veith vergrößern, denn die moralische Welt hat eine grundsätzliche Gebärde der Bestialität und statuiert Exempel, wo kaum ein Beispiel geschah. Man könnte in ihre Tiefebene steigen, um ihren Mangel an Perspektive zu beweisen und daß ihre Dummheit in sich selbst gegründet sei. Aber wenn ich schon der Zeitgenosse ihres Wahnsinns sein muß, so will ich mich lieber in die Lage eines Saturnbewohners versetzen, der zufällig das Glück hat, als Vertrauensmann einer geheimen Verhandlung vor dem Wiener Landesgericht beizuwohnen.

Dann scheint mir die Welt so problemarm, wie vor dem Tage, an dem sie erschaffen war. Ihr einziger gordischer Knoten — aus einem Häutchen gedreht; und darüber kommt kein Alexander hinweg. Wie sollte es einem verkrachten päpstlichen Conte gelingen? Unermüdlich jagt er dem Phantom nach, das die jüdisch- christliche Lebensmoral für alle Zeiten geheiligt hat. Ein Don Quichote des Virginitätsideals, der konsequenteste Typus des Sittenrichters, die Vollendung einer Karikatur, die den Schutz der Jungfräulichkeit sogar noch im Nachtcafé betätigt. Daß ihn die Sittlichkeit, der er alles und sogar sie selbst geopfert hat, schließlich im Stich läßt, macht ihn zum christlichen Märtyrer des Christentums. Dieses hat die Christenverfolgungen in eigene Regie übernommen und übt sie an allen Bekennern, die den Glauben auf die Spitze treiben. Ein zerknirschteres Zugeständnis an die herrschende Moral und ein ergreifenderer Hohn auf ihre Unerbittlichkeit lassen sich nicht denken, als Leben und Ende dieses Vaters, der alles mit seinem Kinde geschehen ließ, was die menschliche Gesellschaft freut, ohne jenes letzte Band zerreißen zu lassen, das mit ihrer Achtung verbindet. Er weiß, wo Gefahr droht; mag das Verderben mit hundert Zungen dem ihm anvertrauten Pfand nahe sein, er wacht darüber, daß es nicht verloren gehe. Wie ein Türmer lugt er in alle Richtungen; wie ein Späher erkundet er die Situation in Feindesland. Durch vier Jahre steht er auf der Hut, und jeden Augenblick glaubt man, jetzt werde er eine Lache aufschlagen über eine Sittlichkeit, die ihn zu solchem Dienste zwingt. Aber er beherrscht sich und mit unerschütterlichem Ernst geht er an seine Aufgabe, hastet Nacht für Nacht durch Qualm und Gewimmel, ruft Kellner und Kutscher zum Konsilium und ist erst beruhigt, wenn er den Regierungsvertreter auf dem Platze sieht. Eine widerliche Rolle, sagt die undankbare Moral, da ihr dieser Vater nach vier Jahren schußgerecht präsentiert wird. Widerlich? Ein Vater! Widerlich höchstens, daß er es war. Man hat keine Zeit zu Familiengefühlen, man hat sie in der sozialen Ordnung verlottern lassen. Sie sind so heruntergekommen, daß man einen Klassiker lesen muß, um sie in ihrer ersten Frische zu empfinden. Hier aber hat einer sie im Nachtcafé rehabilitiert. Wir erkennen sie wieder; denn uns sind sie nicht im Strom der Welt, sondern in uns selbst abhanden gekommen. Und wenn je Familienbande für die Ewigkeit geschmiedet schienen, so war es die Zärtlichkeit, die diesen Zuhälter und sein Kind verband. Dergleichen löst nur ein Polizeiprotokoll! Was uns die Angelegenheit erst widerlich macht, ist die Kompromittierung des Freudenlebens durch familiäres Sentiment. Aber die bürgerliche Gesellschaft sollte zu dem Manne aufblicken, welcher den Gefühlsinhalt, der ihr längst zur Form erstarrt war, neu belebt und ein Vorbild geschaffen hat für ein väterliches Pathos, das sie in der kaufmännischen Prosa ihres Lebens lange genug entbehren mußte. Ein den Bedürfnissen der Neuzeit angepaßter Odoardo läßt es bis zum Äußersten kommen, aber rast dann nicht minder. Wir hören Töne, für die heute auf der deutschen Bühne der Stil verloren gegangen ist. Nach vierjährigem Kokottenleben verführt, ruft eine aus: »Vater! Du wirst mich gewiß davonjagen, weil ich das getan habe!« Die Erkenntnis: »Vater, was hab’ ich getan!« gellt durch die Affäre, und man erwartet, daß ein augenrollender Alter mit großer Gebärde zum Dolch oder wenigstens zum Schleier greift. Veiths Schmerz über das Malheur seiner Tochter, sein Zorn gegen den Verführer ist echt wie nur der eines Verrina. Und ganz im Stil einer sentimentalen Luise ist es, wenn das Mädchen sich vor dem Alten niederwirft und ruft: »Mein Vater hat mich nicht verkuppelt! Mit diesen Worten gehe ich zu Gott!« Der Vater diktiert ihr den Abschiedsbrief an den Geliebten »in die Feder«: Ihre Hand schrieb, was ihr Herz verdammte — fast mit diesen Worten sagt es der Staatsanwalt. Nur ist hier der Alte Wurm und Miller in einer Person und Ferdinand der Verführer. Fast hört man solche Sätze: »Der Segen war fort aus meiner Hütte, sobald Sie einen Fuß darein setzten. Sie haben das Elend unter mein Dach gerufen, wo sonst nur die Freude zu Hause war. Sind Sie noch nicht zufrieden? Wollen Sie auch in der Wunde noch wühlen, die Ihre unglückliche Bekanntschaft meinem einzigen Kinde schlug?« Die Antwort: »Was willst du, Graukopf? Mit dir hab’ ich nichts zu schaffen. Hast du die Weisheit deiner sechzig Jahre zu den Buhlschaften deiner Tochter geborgt und dies ehrwürdige Haar mit dem Gewerbe eines Kupplers geschändet?« ... »Die Zeit meldet sich allgemach bei mir, wo uns Vätern die Kapitale zustatten kommen, die wir im Herzen unsrer Kinder anlegten — Wirst du mich darum betrügen, Luise? ... O Tochter! Tochter! gefallene, vielleicht schon verlorene Tochter!« »Ich will in den Fluß springen, Vater, und im Hinuntersinken Gott den Allmächtigen um Erbarmen bitten.« »Hum! rede deutlicher ...« (Spricht zu sich selbst:) »Geduld, armer, unglücklicher Vater! Warte ab, bis es Morgen wird. Vielleicht kommt deine Einzige dann ans Ufer geschwommen — — Gott! Gott! Wenn ich mein Herz zu abgöttisch an diese Tochter hing? Die Strafe ist hart. Ich will nicht murren, himmlischer Vater, aber die Strafe ist hart.« ... Es ist das erste bürgerliche Familiendrama, dessen Gestus sich wieder sehen lassen kann, und es ist der erste Versuch, eine zeitgeborne Handlung in feierlichem Schritt zu führen. Der flache Geschmack unserer Tage, der nur das Stoffliche schmeckt, mag daran Anstoß nehmen. Aber den wahren Blick für das Theater des Lebens scheint mir der zu haben, der heute imstande ist, eine sentimentale Liebhaberin an dem Herzenston zu erkennen, mit dem eine sagt: »Gib mir nicht fünfzig Mark, gib sechzig!«

Und dort trat ein Meister Anton kopfschüttelnd von der Szene, der die Welt nicht mehr versteht, die er so gut verstanden hat. Denn ihre wilden Krieger können über alles wegkommen, wenn ihnen nur die Hoffnung auf den Skalp der Jungfrau bleibt. Der ihn gegen den Willen des Vaters davontrug, ist der sympathische Held des Dramas und darf auf die stilvolle Bemerkung des Richters: »Sie ist nicht unschuldig gestorben, da war nichts mehr zu verkaufen«, stolz erwidern: »Daran bin ich schuld!«, worauf Zeuge den Tag angibt, »an dem seine Beziehungen zur Mizzi Veith sich zu intimen gestaltet haben«. Er hat sie aus reinen Motiven »drangekriegt« und ist deshalb der Vertreter einer wahrhaft sittlichen Lebensanschauung, während der betrogene Vater bloß der Vertreter der starren Konvention ist, welche die moralische Forderung überspannt hat und deshalb von der Moral im entscheidenden Moment verleugnet wird. Der öffentliche Ankläger feiert jenen, dem das Außerordentliche gelungen ist, wie man einen Bahnbrecher, einen Pfadfinder, einen Eroberer feiert, und der andere, der an der Überlieferung festhielt, ist ein Auswurf der Menschheit. Aber übertragen wir den Fall einmal aus dem Familienleben der Boutique in die Boutique des Familienlebens. Die Presse, aus deren Annoncenteil Stammbäume wachsen, meldet mit ironischer Gebärde: »Ein anderer Liebhaber, der sich erbötig gemacht hat, zweihunderttausend Kronen für Mizzi anzulegen«, sei »von ihr abgewiesen worden, weil er einen Kropf hatte. Mit Bedauern bemerkt der Angeklagte zu diesem Punkte: ›Und er hätte sie in Gold gekleidet!‹« Solcher Schmerz eines aus allen honetten Erwerbsmöglichkeiten gejagten Menschen weckt in den Gemütern der journalistischen Schadchen nur überlegenen Hohn. Man nenne mir aber die Leser der Neuen Freien Presse, die Töchter zu versorgen haben und nicht in jedem Falle einen gefüllten Kropf einer leeren Tasche vorzögen! Daß ein Rabbiner dabei ist und zur Mißheirat noch ein lautes vernehmliches Ja verlangt wird, das allein, ihr Hunde, soll den moralischen Wertunterschied machen? Daß sich Herr Siegfried Abeles aus Deutschbrod nach Einsicht in die Geschäftsbücher und gründlicher Kalkulation mit Fräulein Rosa Bachrach aus Arad verlobt hat, das dünkt euch appetitlicher als die Versuche eines Ausgestoßenen, seiner Tochter ein annehmbares Verhältnis zu verschaffen? Und den Familienerhalter, der zu toben begänne, wenn sein Roserl einen hergelaufenen Bocher anstatt des Sohnes der Firma Abeles begehrte, und der sie bis ins dritte und vierte Geschlecht verfluchte, wenn sie das wichtigste Wertobjekt der Inventur verschleuderte — ihn würdet ihr entschuldigen? Ihr, die ihr Monogamie mit »Einheirat« übersetzt, mögt freilich vor krimineller Verantwortung geschützt sein; denn in euren Geschäftsbüchern ist der Schandlohn, den ihr aus euren Töchtern zieht, nur eine versteckte Reserve. Aber gerade darum reicht euer Treiben an die moralische Sauberkeit des Mädchenhandels nicht heran! Das stolze Wort dieses Kupplers: »Eine brave Tochter ist, die keine Mittel scheut, um ihren Eltern zu helfen«, flößt euren Staatsanwälten Entsetzen ein. Sie sagen: »Er leugnet nicht, sie in die Lebewelt eingeführt zu haben, um sie aushalten zu lassen — das allein ist schon ein Geständnis der Kuppelei«. Der brave Staatsanwalt mag innerhalb der Möglichkeiten eines aus dem sittlichen Irrsinn gezeugten Gesetzes Recht haben. Wie stand der Angeklagte da, der »zugeben mußte, daß er das Mädchen in eine Welt eingeführt hat, in der man sich nicht langweilt«! In einer Welt aber, in der solche Aussage ein »Geständnis« und solches Geständnis die Verurteilung wegen Verbrechens bedeutet, und in der die Langweile ein Lebensziel ist, mag der alte Bachrach aus Arad ein Moralist sein; denn er zwingt seine Tochter, in dem Kommis, den er ihr zuführt, den einen und einzigen Kommis zu lieben, außer welchem kein anderer Kommis ist auf Erden, er gibt ihr nebst der Langweile den lebenslänglichen Ekel zur Mitgift und macht sie hysterisch bis ins dritte und vierte Geschlecht. Der Unterschied zwischen dem Leben einer Mizzi Veith und dem Leben der Rose von Arad ist der, daß vor den Kohorten der Widerwärtigkeit, mit denen jene es aufnimmt, ihr Wahl und Wechsel bleibt, während diese das Paar Schweißfüße, das ihr die Vaterliebe zugeführt hat, als Bestimmung und als Gnadengeschenk des Schicksals, als die Erfüllung all ihrer Lebenswünsche und als die unabänderliche Fasson der Männlichkeit betrachten muß. Daß die so versorgten Jungfrauen nicht samt und sonders am Hochzeitstag ins Wasser gehen, zeugt für die gesunde Prostitutionsfähigkeit ihres Geschlechts, der keine Familienerziehung etwas anhaben kann. Wohl aber verdirbt diese den Charakter und macht ihn zu heroischen Entschlüssen unfähig. Mizzi Veith hatte den Geliebten ihrer Wahl; und nahm sich das Leben, weil die Polizei ihr den Vater nahm.

Was dieser da getan und geduldet hat, ist zehntausendmal moralischer, ästhetischer, mit Menschenwürde und Gotteswillen vereinbarer, als was an einem Tag zehntausend bürgerliche Väter tun und fordern. Trotzdem ist es hier, wie in jedem Fall einer sittlichen Verfehlung der Justiz, notwendig, die sogenannte Schuldfrage zu bejahen, um sich über die Unschuld des Angeklagten klar zu werden. Der juristische Beweis war brüchig, aber Veith hat meinetwegen nicht nur »Unterschleif« oder »Unterschlupf« gewährt oder wie der terminologische Blödsinn sonst heißen mag, den erwachsene Richter in den Mund zu nehmen sich nicht scheuen, er hat auch »Gewinn aus der Schande seiner Tochter gezogen«. Er hat also eine strafgesetzlich erlaubte Handlung, die Prostitution seiner Tochter, geduldet und eine ethische Handlung, die Unterstützung des Vaters durch das Kind, gefördert. Der Konnex einer erlaubten und einer sittlich gebotenen Handlung bildet das Verbrechen der Kuppelei. Still, ich wohne nur noch als Saturnbewohner den irdischen Affenkomödien bei, ich bringe die Empörung des Erdensohnes nicht mehr auf, die vielleicht wirksamer wäre! Daß die Sittenpolizei, diese direkt aus dem Chaos erschaffene Einrichtung, Lizenzen an Prostituierte erteilt und die »Ausübung des Schandgewerbes« zwar von keinem Befähigungsnachweis, aber von der Zustimmung des Vaters oder Vormundes abhängig macht, wir hören es und sinds zufrieden. Daß Töchter ihre Väter unterstützen, wenn diese erwerbsunfähig sind, erscheint uns natürlich. Daß sämtliche Büfettdamen, die vier Jahre lang sich die Konkurrenz der Mizzi Veith gefallen lassen mußten, irgendwo eine alte Gemüsefrau oder einen alten Landbriefträger haben, denen sie monatlich Geld schicken — es schiene uns unchristlich, wenns anders wäre. Und daß Väter nicht immer Mitgift zahlen, sondern manchmal auch Mitgift bekommen, wir wissen es. Aber ein grenzenloses Staunen geht durch die Welt, wenns einmal in der Zeitung stand, wenn wir es uns nicht mehr bloß vorstellen müssen, sondern wenn es uns ausdrücklich gesagt ward. Die Moralbestie braucht »Fälle« zum Fraß, an denen sie sich auf Jahre hinaus gütlich tut, und dankt dem Schöpfer, weil sich hinter einem armen Teufel die Kerkertür schloß, der von seinem Kind, das ihn mit Schätzen überhäuft hätte, Zigarren und Wäsche nahm. Und ein verwundertes Summen braust durch das All, da sich herausgestellt hat, daß Liebe käuflich ist, und ein Schrei der Entrüstung, weil ein Vater das zynische Bekenntnis ablegte: »Mir wär’s recht gewesen, wenn sie einen gefunden hätte, der sie versorgt!« Wenn aber die empörte Moral der Sünde den Rücken zuwendet, dann sehen wir ihre Kehrseite: den Konkurrenzneid. Denn wie sollten die Büfettdamen nicht sittlich alteriert sein, wenn die Kollegin größere Würzen fand? Und wie sollten es die Richter nicht sein, wenn sie Vergleiche zwischen ihrem Gehalt und den Beträgen ziehen, die in der Welt auf so mühelose Art verdient werden können? Sie werden es ja doch nie einsehen, daß die Prostitution die Menschheit mehr freut als die Jurisdiktion, daß die Existenz der letzten »Schanddirne« kulturvoller und sauberer ist als die eines Staatsanwalts, der sich nicht scheut, das hundertjährige Pöbelwort in einen Mund zu nehmen, den er vielleicht soeben vom Kuß einer Schanddirne abgewischt hat. Sie brauchte nur zu winken, und er kam, sie brauchte nur das Zauberwort zu sprechen: »Gehst her, elender Sklave!«, und er nannte sie seine Herrin. Sie dient einer Naturnotwendigkeit, die unverwüstlich ist und keiner Verbesserung fähig; er aber prostituiert sich einer miserablen Gesetzlichkeit, die er nicht fühlt und die er doch erfüllen muß, weil er von ihr lebt. Es ist ein widerwärtiger Anblick, einen Staatsanwalt mit züchtigen, verschämten Wangen vor sich stehen zu sehen; aber es ist eine unaussprechliche Schande, wenn einer einen Glauben nachbetet, den er nicht glaubt, und wenn er dazu noch mit der Enthaltung von allem besseren Wissen protzen darf. Männer im Talar, die einen Sexualprozeß für eine Gelegenheit zum Beweise ihrer Keuschheit halten, mit ihrer Uneingeweihtheit renommieren und sich dagegen verwahren, daß sie die Gebräuche des Nachtlebens kennen, dessen Typen sie zu richten haben: das ist die schlimmste Perversität, die solch ein Verfahren ans Licht bringt! Da wird salbungsvoll die Stimme eines »juristischen Altvaters« zitiert, »der da« das schöne Gesetz noch schöner interpretiert und verlangt hat, daß die Vermittlung einer sexuellen Gelegenheit »auch ohne gewinnsüchtige Absicht« strafbar sei. Hol mich der Teufel, dieses Deliktes würde ich mich jederzeit schuldig machen, und wenn ich die Wahl hätte, einen juristischen Altvater zu achten oder einer jungen Freudenspenderin gefällig zu sein, ich bedächte mich keinen Augenblick. Mein Reinlichkeitsgefühl ist so sehr entwickelt und die ethischen Hemmungen in mir sind so stark ausgebildet, daß ich es einst verschmäht habe, Jurisprudenz auszustudieren. Welch ein Geschäft, das einen Menschen zwingt, Anklageschriften gegen die Natur zu verfassen! Und eine, in der der Satz vorkommt: »In der Prostituiertenlaufbahn der Mizzi Veith lassen sich deutlich drei Perioden unterscheiden. Die erste reicht vom März 1904 bis Ende 1904. In dieser Zeit besuchte Mizzi Veith fast jede Nacht ›Venedig in Wien‹, das Etablissement Ronacher und das dabei befindliche Nachtcafé ... Die zweite Periode, die der Freundschaft mit Leopoldine Jellinek, reicht von Ende 1904 bis Mai 1906. In diese Periode fallen Unterhandlungen mit einem Russen, der ihr die Jungfernschaft abkaufen wollte.« Wenn einer bloß Juristerei studiert hat und noch nicht zu dem Gefühl gelangt ist, daß kein Hund so länger leben möchte, dann ist ihm eben nicht zu helfen, und dem Volk bleibt die Aussicht, der Lebensfremdheit einer Kaste noch ferner Opfer zu bringen und dafür höchstens zeitweise durch ein Spektakel entschädigt zu werden. Jedesmal hofft man, jetzt sei der Moment gekommen: jetzt würden Männer, die Vollbarte tragen und dabei Anschauungen entwickeln müssen, die in der Zeit vor der Pubertät obligat waren, jetzt würden sie die Akten zuklappen und erklären, daß sie das Kinderspiel satt haben und nicht mehr mittun. Und jedesmal hat man vergebens gehofft. Mit dem gleichen Ernst, der nicht nach rechts und nicht nach links blickt und nur hin und wieder nach oben, werden die Ereignisse in einem Chambre separée abgehandelt, als wäre die Menschheit hier zum ersten Male einem noch nicht enträtselten Geheimnis der Schöpfung nah. Gott weiß alles, aber damit befriedigt sich ein dunkler Drang nicht, der die letzten Dinge erkennen möchte, und man fragt deshalb auch den Hausmeister, ob er »etwas bemerkt« hat. Der Ton aller dieser Feststellungen, jede Gebärde des Richters, jedes Kopfschütteln des Anklägers, Scherz und Ernst, Pikanterie und Pathos, das ganze Schauspiel und seine Resonanz in der Öffentlichkeit, all dies im Besondern und im Allgemeinen, es dreht sich immerzu um die Angel der Vorstellung, daß der Koitus ein Tatbestand sei und die Lust ein Indiz; es setzt den teuflischen Ursprung der außerehelichen Liebe als notorisch voraus. Wenn Aphrodite selbst herabstiege — vor einem Wiener Gericht würden der Obletal, der Hlawatschek und der Schabetsberger befragt werden, ob sie etwas bemerkt haben ... Und es ist ein alter Zauber der Heuchelei, daß in ihrem Reigen die Sünde selbst nicht fehlen will. Sie nimmt an ihren Heimlichkeiten teil und ist die erste, die ihr bei den Aufklärungen hilft. Die willfährigsten Zeugen der Moral sind die Pächter der Freude, und wenn die Gerechtigkeit sich an ehrlicher Entrüstung über eine Hure und eine Kupplerin weiden will, so braucht sie bloß die Huren und die Kupplerinnen als Zeugen zu rufen. Die Frage, die alle Herzen öffnet, heißt: ob »etwas Unrechtes geschehn ist«. Damit umschreibt die Sittlichkeit ihr Entsetzen darüber, daß einmal in dieser impotenten Zeit etwas Rechtes geschehen sein könnte. Die Interessenten der Freude mißverstehen zuerst und meinen verlegen, es sei »nichts Rechtes geschehn«: nicht »das Eigentliche«. Dann aber werden sie gesprächig und versichern, daß sie in ihrem eigenen Rayon natürlich keine Unmoralität nicht dulden und daß sie schon seit Jahren mit immer wachsendem Ärgernis das Treiben des Angeklagten beobachtet haben, und überhaupt. Nur eine Champagnerkneipenwirtin, aus deren moralischer Anstalt das Lied: »Die Mizzi und der Jean gehn miteinanda drahn« zu den Sternen dringt, ist schweigsam — denn sie bringt es einfach nicht über die Lippen. Aber alle Institutionen der Unmoral sind plötzlich anerkannt, wie die Justiz die Parlamente anerkennt, an die sie behufs Auslieferung eines Abgeordneten herantritt, und die Tugend verständigt sich mit dem Laster darüber, daß es ein Ausnahmsfall war, und der Konkurrenzneid ist ein Bundesgenosse der Entrüstung, und in das Café Ronacher war ein Werwolf eingebrochen und geendet sind die Nächte der Not.

Nicht immer freilich fühlt sich das Laster durch seine moralische Mission geschmeichelt und fände es manchmal sogar seiner unwürdig, die Ovationen des Gerichtshofes über sich ergehen zu lassen. So bemüht sich die Justiz seit Jahren vergebens um die Möglichkeit, der Frau Sachs, einer Hoflieferantin, durch Berufung zum Zeugenamt eine offizielle Ehrung zu erweisen. Ihr Name schwirrt durch den Gerichtssaal, so oft eine kleine Kupplerin gehängt werden soll, und von allen Mienen liest man das Bedauern: Ja, wenn wir die als Sachverständige hier haben könnten! Die Sachs! Aber eher dürfte ein schwärmerischer Staatsanwalt die Hoffnung hegen, in einem Hochverratsprozeß werde auf Vorladung die Austria erscheinen, als daß jener Traum in Erfüllung geht. Man kann die Sachs so wenig vor Gericht stellen, wie man einen Ton vor Gericht stellen kann oder ein Symbol. Darum müssen sich die Funktionäre damit begnügen, sie wie eine oberstgerichtliche Entscheidung zu zitieren, wie eine Gesetzesstelle zu interpretieren oder einfach auf ihre Notorietät hinzuweisen. Die Sachs in einer Kuppeleisache vor dem Gericht haben wollen, das kommt etwa dem Verlangen eines Reisenden gleich, den Baedeker persönlich zu sprechen, wenn ihm das Hotel nicht paßt. Es gibt wahrscheinlich den einen so wenig wie die andere, und die Gelegenheit, die Sachs bei Gericht zu sehen, ist jedenfalls die einzige, die sie nicht macht. Und kein maßvoller Beurteiler, der Respekt vor einer Staatsnotwendigkeit hat, wird daran Anstoß nehmen. Nicht die Zurückhaltung vor der Sachs, die eine viel wichtigere und lebensfähigere Institution vorstellt als die Justiz, sondern der Eifer gegen die kleinen Kupplerinnen wird ihm ein Gefühl der Übelkeit einflößen. Man findet es begreiflich, daß sich ein Gerichtshof der Zeugenaussage der Madame Sachs entschlägt, weil sie ihm zur Schande oder zum Schaden gereichen könnte, und man sieht auch ein, daß eine Vernehmung vor dem Obersthofmarschallamt das Verfahren unnötig verschleppen würde. Nur die prinzipielle Abneigung der Justiz gegen das Delikt der Kuppelei will man nicht begreifen. Nur die Distanzlosigkeit gegenüber dem »Fall« nicht und die Entfernung vom Leben. Nicht das Pathos einer Betrachtung, die immer eine eben erschaffene Welt voraussetzt, in der das erste Animiermädchen den ersten Stammgast verfuhrt. Nicht diese Pubeszenz einer Amtlichkeit, Scham und Drang zugleich, über die Geheimnisse des Nachtlebens endlich aufgeklärt zu werden. Ach, man muß nur die raunende Vertraulichkeit erlebt haben, wie sie einem Oberkellner zusetzen, sein Herz von dem Kummer zu erleichtern, mit dem eine von der Poldi ihm zugesteckte Visitkarte sein Familienglück beschwert hat. Oberkellner und Polizeibeamte gehen rein aus dieser Affäre hervor. »Aus meiner zwölfjährigen Verbindung mit dem Oberkommissär Dr. B. weiß ich ganz genau«, ruft ein Zeuge pathetisch, »daß er weiblichen Einflüssen absolut unzugänglich ist!« In Hardens Berlin wäre solches Leumundszeugnis einfach vernichtend; in Wien, wo zum Glück ein normaler Geschlechtsverkehr herrscht, weiß man, daß es ein Zeugnis für Fleiß und gute Sitten eines Beamten und Ehemannes bedeutet. Und alles heult vor Rührung, weil es dem Herrn von der Polizei gelungen ist, dank den über seine Sittlichkeit hieramts gepflogenen Erhebungen die diesbezügliche Verleumdung zu widerlegen. Nicht so sehr, weil er den Vorwurf des Amtsmißbrauchs, als weil er den Verdacht der Ausschweifung widerlegt hat. Keusch ist er wie Hermione: ihr Götter, blickt herab! Und die Öffentlichkeit erlebt die Freude, einmal etwas Genaueres aus einem geordneten Familienleben zu erfahren. »Mein Leben ist ein offenes Buch, als Sohn eines Arbeiters war ich von Jugend an auf mich selbst angewiesen. Ich habe ein armes Mädchen, mit dem ich drei Jahre verlobt war, zu meiner Frau gemacht und lebe von meinem Gehalte in idealer Ehe, der drei Kinder entsprossen sind.« Wie rühmlich das alles aber auch sein mag, weit verdienstlicher noch ist eine andere Eigenschaft, die der Gekränkte in öffentlicher Gerichtsverhandlung nicht oft genug hervorheben kann. Sein Alibi gegen den Vorwurfehelicher Untreue ist seine Grobheit gegen hübsche junge Mädchen, und auf die ist er stolz. Immer wieder gibt er unter dem Jubel der Öffentlichkeit zum Besten, wie er »in schroffer, ja unhöflicher Weise« die Annäherung der armen Mizzi Veith zurückgewiesen habe, wie er »noch in der Weihburggasse« grob geworden sei, wie er überhaupt brüsk und barsch gegen Prostituierte sei, bei denen er »als Wauwau gilt«, er, der bekanntlich »seit dem Jahre 1895 keine wie immer gearteten außerehelichen Beziehungen gepflogen« hat. Mit einem Wort, ein Kulturmensch, und des Avancements würdig wie nur einer. Glücklich der Staat, dessen Sittenpolizei den Mädchenhandel durch Grobheit eindämmt! In Frankreich zum Beispiel hätten sie nicht das richtige Verständnis dafür und würden bei solcher Rehabilitierung eines gekränkten Beamten nicht gerührt sein, sondern pfeifen. Aber dort weiß man gewiß auch die kulturelle Bedeutung des Hausmeisters nicht zu würdigen. Ich sah einmal von meinem Fenster, wie ein solcher eine Prostituierte mit einer Hundspeitsche durch die Gasse jagte. Er berief sich darauf, daß ein Polizist ihm die Bewilligung erteilt hätte. Diesem Polizisten hätte sich gewiß die allgemeine Teilnahme zugewendet, wenn er fälschlich einer Beziehung zu dem Mädchen beschuldigt worden wäre, und er hätte sich mit Erfolg auf die Auspeitschung berufen können ... Das Nachspiel zu dem Kuppeleiprozeß enthüllt unsere Weltanschauung noch besser als dieser selbst. Und wenn die Grobheit eines Oberkommissärs bloß ein Alibi ist, so ist die Empfindsamkeit eines Polizeirats eine Sensation. Er weint im Gerichtssaal: weil endlich der Verdacht von ihm genommen ist, mit der Mizzi bekannt gewesen zu sein. Ein Mann, der die Tiefen der Verbrecherseele kennt und abgehärtet genug ist, die Beschreibung seiner kühnsten kriminalistischen Leistungen mit Vergnügen im ›Extrablatt‹ zu lesen, weint, weil er nach bangen Wochen von dem Makel befreit wurde, er sei mit der Mizzi Veith im Theater an der Wien gewesen; weil er unter einer Verleumdung leiden mußte, durch welche, wie er versichert, die kostbarsten Güter der Menschheit, nämlich sein ehelicher Friede und seine Tugend gefährdet worden seien. (Weint abermals.) Und »wäre es nicht pathologisch, zu glauben, daß er mit einer stadtbekannten Kokotte sich habe blicken lassen?« Aber es wäre gewiß nicht pathologisch, zu glauben, daß er sich mit stadtbekannten Wucherern blicken läßt. Denn der Verkehr mit diesen stört weder das Eheglück noch die Moral. Ein stadtbekannter Geldagent bezeugt, daß der Chef des Sicherheitsamtes die Mizzi Veith nicht gekannt hat. Sie bat ihn darum, die Bekanntschaft zu vermitteln, er aber »habe seine Hand nicht dazu geboten«. (Bewegung) Und daß der Geldagent imstande gewesen wäre, die Bekanntschaft zu vermitteln, dünkt der Beamtenehre eine rühmlichere Enthüllung als der Nachweis der Bekanntschaft. Nein, der Gekränkte saß nicht mit der Prostitution im Theater, er hat an jenem Abend bei der Hautefinance soupiert. Auch das ist ein Alibi. Aber wahrlich, besser stünde es um diesen Staat, wenn seine Beamten sich von dem Verdacht, mit den Popper, Goldberger und Rappaport gesehen worden zu sein, durch das Alibi retten könnten, daß sie den Abend bei Veiths zugebracht haben! Der Reinigungsprozeß, der in solchem Falle geführt würde, hätte nichts von jener schmalzigen Pathetik, die uns als Dessert zu einem unverdaulichen Moralgericht serviert worden ist, und die Tatsache, daß das Sicherheitsbureau am Schottenring liegt, wäre ein Zufall und kein Verhängnis. Und sollte man nicht glauben, daß gegen den Verdacht der Bekanntschaft mit einem hübschen Geschöpf der Eid genügt hätte? Die Erkenntnis, daß Weiber lügen und Prostituierte mit hochgestellten Klienten renommieren, ist nicht so kostbar, daß sie uns erst durch eine umständliche Sühneprozedur vermittelt werden müßte. Der Eid des Betroffenen schlägt den Verdacht der Beziehung nieder, die Zeugen beweisen bloß, daß die Behauptung der Zusammenkunft erlogen war. Und es kann eine noch so alte Erfahrung sein, daß Prostituierte »sich mit Vorliebe an Polizeibeamte anlehnen«, der Gegenbeweis gegen eine öffentliche Zusammenkunft bewiese noch nichts gegen eine geheime. Die Andichtung des sexuellen Verkehrs — und um eine solche handelt es sich, nicht um die des sozialen Verkehrs — läßt sich nur durch die eidliche Aussage entkräften. Das ist mit dem für die k.k. Sittenreinheit wünschenswerten Erfolg geschehen und hätte hinreichen sollen. Das Angebot eines Alibi — es wäre denn die Bereitwilligkeit, seine Impotenz zu beweisen — ist hier ein ebenso sinnvoller Versuch, wie wenn der Herr dem Vorwurf, Poker gespielt zu haben, nicht mit der Aufforderung begegnet, daß der andere es beweise, sondern mit dem Angebot des Beweises, daß er »nie im Leben Poker gespielt« habe. Ein Kriminalist, der beweisen kann, daß etwas nicht geschehen ist, ist sehenswert und verdient einen Platz im Polizeimuseum; und es gehört schon der ganze Schwachsinn journalistischer Lobhudler dazu, den kriminalistischen Scharfsinn zu preisen, der »durch einen glänzend komplizierten, schlagenden Gegenbeweis die völlige Haltlosigkeit der vorgebrachten Beschuldigungen erwiesen hat«. Die eidliche Widerlegung hätte diesen Tröpfen wahrscheinlich nicht genügt, um den Klischees der Polizeireklame ein neues hinzufügen zu können, welches das einzige erfreuliche Ergebnis dieser Prozeßführung bedeutet: Dem Chef des Sicherheitsbureaus gebührt das Verdienst, mit der Mizzi Veith nicht verkehrt zu haben. Oder: Der Polizei ist es gelungen, nachzuweisen, daß sie seit dem Fall Riehl keine wie immer gearteten außerehelichen Beziehungen gepflogen hat. Was auch schließlich dafür entschädigt, daß es ihr noch nicht gelungen ist, die Adresse der Frau Sachs ausfindig zu machen.

Aber wenn man schon aufzählt, was der Polizei alles gelungen ist und was nicht, dann steht eine Tat vor unseren Augen, vor der die Reklame sich zum Ruhme erhöht. Der Selbstmord der Mizzi Veith ist ihr gelungen, wie ihr noch nichts gelang. Ja, es war pure Verleumdung, daß ihre Funktionäre den Leib dieses Mädchens berührt hätten. Aber mit dem Leichnam stehen sie in einer Beziehung, gegen deren Vorwurf kein Alibi hilft! Sie wird ihr eheliches Glück nicht gefährden. Aber möge sie den Schlaf stören, den ihr eheliches Glück ihnen übrig läßt! Möge sie’s; ich wünsche es aus ganzem Herzen. Denn sie haben einen Kuppler seiner Strafe zugeführt und den Zweck aller kriminalistischen Mühe, zu verhüten und abzuschrecken, in geradezu vorbildlicher Weise durchgesetzt: Marcell Veith wird sein Kind nicht mehr verkuppeln. Wenn man nun einwendet, daß dieser Effekt auch ohne letale Zutat zu erreichen gewesen wäre, so vergißt man, daß noch wichtiger als die Verhütung eines Verbrechens die Feststellung eines Verbrechens ist. Die Sittenpolizei hat, wie ihr schwergekränkter Vertreter vor Gericht zugab, lange Jahre gewußt, was dieser Conte Veith trieb, aber eine gewissenhafte Behörde läßt einen Vater sein Kind so lange dem Ruin preisgeben, bis sie ihm mit Fug die Schuld beimessen kann. Erhebungen sind wichtiger als Warnungen und auf einen Tatbestand kommt es an, nicht auf eine Rettung. Bis man seiner Sache sicher ist und gegen ein Treiben, das man für verbrecherisch hält, einschreiten darf, hilft man sich eben mit Grobheit gegen das Opfer, so gut man kann. Es ist eine alte Polizistenweisheit, daß man ein Verbrechen »auswachsen lassen« muß. Eine Warnung hätte den Verdächtigen vielleicht davon abgehalten, sein Kind weiter zu verkuppeln, und dann hätte man überhaupt nicht mehr einschreiten können. Übrigens war der Hausmeister noch nicht befragt worden. Gleichwohl war die Sittenpolizei in all den Jahren nicht müßig gewesen. Im Jahre 1904, so erzählt der Oberkommissär, habe er die Mizzi Veith bei Ronacher gesehen, »wie sie champagnisierte und vom Vater abgeholt wurde«; er »hatte damals schon den Eindruck, daß Marcell Veith seine Tochter dem Laster zuführe«. 1905 »glaubte er in seinen Beobachtungen schon so weit zu sein, um mit der Verhaftung vorgehen zu können«. Da ergibt sich »ein Zwischenfall, der ihn wieder davon abhält«. Veith war nämlich im Kaffeehaus von der Kassierin ein Zuhälter genannt worden. Also eine Zeugin für den polizeilichen Verdacht? Mit nichten! Veith klagte wegen Ehrenbeleidigung und produzierte ein Virginitätszeugnis seiner Tochter. »Das machte mich stutzig.« Wie denn auch anders? Hieramts ist nur eine Pforte der Lust bekannt, und wenn die vorschriftsmäßig geschlossen bleibt, so zweifelt ein Sittenpolizist nicht, daß »nichts Unrechtes« geschehen ist. Das Jahr 1906 kommt, und der Mann avanciert zum Vorstand einer Abteilung für Prostitutionswesen. Was sich sonst begab, erzählt der Zeuge nicht. Aber 1907! In diesem Jahre langt eine anonyme Anzeige gegen den Veith ein. Der Oberkommissär weist sie dem Kommissär zu. Dieser freilich meint, da werde »nicht viel zu machen sein«. Trotzdem wird ein Akt requiriert, werden Erhebungen gepflogen, und der Oberkommissär versichert sogar einmal gesprächsweise, daß er von der Richtigkeit der Anzeige überzeugt sei. Aber es ist eben nichts zu machen, bis eines Tages Veith glücklicherweise »unvorsichtig wird« und Besuche im eigenen Hause zuläßt. Jetzt, endlich, kann der Hausmeister befragt werden! Da er Ja sagt, schreitet die Polizei ein. Und zwar im Jahre 1908 ... Der Staatsanwalt trat später von der Anklage, es sei auch im Hause gekuppelt worden, zurück, und so mag man sich heute vorstellen, daß die Polizei noch weiter nach der Lehre Tolstojs gelebt und dem Übel nicht gewehrt hätte, wenn die entscheidende Recherche sich schon damals als haltlos erwiesen hätte. Veith ist wegen all der Indizien verurteilt worden, mit denen die Polizei nichts anfangen konnte, bis sie jenes Faktum ermittelte, von dem er loskam. Das schafft einige Beunruhigung. Aber zum Glück weiß man, daß zu den juristischen Gesichtspunkten, die bei der Formulierung eines Tatbestandes maßgebend sind, auch die Rücksicht auf Aristokraten gehört. Daß der Staatsanwalt die Unterhändlerschaft des Marcell Veith »gar nicht beweisen wollte«, hob der Gerichtshof dankbar hervor; es blieb ihm erspart, die Herren einzuvernehmen, denen die Übeltat des Angeklagten wohlgetan hatte. Nun war ja die demokratische Heuchelei, die sich gegen die Konsumenten der Prostitution kehrte, gewiß eine der greulichsten Erscheinungen in diesem moralischen Fiebertraum. Aber noch weit unappetitlicher ist eine Gerechtigkeit, die den zahlenden Teilnehmer an der verbrecherischen Handlung sogar von der Zeugenschaft freispricht; die hier lieber auf einen Tatbestand verzichtet als einen Beweis zuzulassen, und die sich zwar für die Einsicht gewinnen läßt, daß es notwendig sei, sich eines Kupplers zu bedienen, jedoch nicht für die Erkenntnis von der Notwendigkeit des Kupplers. Man mag den historischen »Zweihundertfünf«, auf deren Aussage das Gericht verzichtet hat, das Recht auf ein Privatleben zusprechen: allzutief scheint mir der Mann, der von seiner Tochter Geld nimmt, nicht unter einer Menschenklasse zu stehen, deren Vertreter sich bei den Fiakern beschweren, daß sie mit der Poldi vorlieb nehmen mußten, wenn die Mizzi nicht wollte. Wehe der Unglücklichen, die vor dieser Horde kein Zuhälter schützt! Daß die bürgerliche Welt mit Verachtung auf ihn blickt, ist begreiflich; denn er ist der heroische Widerpart ihrer Unterhaltungen. Sie sind bloß schlechtere Christen, er aber ist der bessere Teufel. Er ist der Antipolizist, der die Prostituierte besser vor dem Staat schützt, als der Staat die Gesellschaft vor ihr. Er ist der letzte moralische Rückhalt eines Weibes, das an der guten Gesellschaft zuschanden geht. Von ihr kann sie nur reich werden; von ihm wird sie schön. Wenn er sie ausraubt, so hat sie mehr davon, als wenn jene sie beschenken. Weil er »zu ihr hält«, ist er mißachteter als sie selbst. Doch diese Mißachtung ist nur ein Mantel des Neides: die Gesellschaft muß ihre Lust bezahlen, sie empfängt Ware für Geld, aber das Weib empfängt das Geld und behält die Lust, um den Einen doppelt zu beschenken. Dort ist die Liebe eine ökonomische Angelegenheit; hier macht eine Naturgewalt die Rechnung. Wo fängt die Ethik an und wo hört sie auf? Die Beziehung des Adoptivvaters zur Mizzi Veith ist vielleicht mehr Familienangelegenheit als erotisches Mysterium. Wer Geschäftsbücher führt, ist ein Administrator, kein Räuber; dieser Beschützer hat sein Mädchen auch vor dem Zuhälter beschützt. Die Gesellschaft mag den Geschmack mißbilligen, der ihn bei der Wahl des Berufes für seine Tochter geleitet hat: in der Konsequenz des Schrittes ist er allen Anforderungen der Familienmoral gerecht worden.

Und die Hannelevisionen, die die öffentliche Meinung um den Fall webt, zerstieben vor der Enthüllung, daß die Polizei die Mizzi Veith ins Wasser getrieben hat, als sie ihr den Vater nahm, den die Tochter ernähren wollte. Und daß nicht der Vater, sondern der Polizist gegen sie grob war. Ehe er ihren Selbstmord beging! Hätte der Vater sein Kind geschlagen, gepeitscht, am Familienherd geröstet, er wäre mit der Strafe des Verweises davongekommen. Aber weil er ihren Körper Zärtlichkeiten aussetzte, kommt er auf ein Jahr ins Zuchthaus. In diesen Grenzen des Irrsinns lebt unsre Sittlichkeit. Und infernalisch ist die Bosheit, mit der sie dann noch den Mund einer Toten verstopfen möchte. Wenn die Tote vor Gericht bekundet, daß ihr Vater sie nicht verkuppelt habe — man halte sie für befangen und lehne ihr Zeugnis in Gottes Namen ab. Wenn sie sich aber selbst für befangen erklärt und sagt, sie sei aus Liebe zu ihrem Vater ins Wasser gegangen, dann sollten wir meinen, daß nur ein von der Moral verbranntes Hirn sich eines Zweifels vermessen darf. »Weil sie den Lebenswandel nicht mehr ertragen konnte«, so lautet der Blindheit letzter Schluß. Sie sehen nur einen Leichnam und ein Nachtcafé. Aber Mizzi Veith hat sich nach der Verhaftung ihres Vaters ertränkt und nicht eine Stunde früher; sie war frei, von dem Zwang eines Kupplers erlöst, konnte endlich Tabakarbeiterin werden, und hat sich dennoch ertränkt. Nein, die Freude hätte sie noch lange gefreut, und man kann nicht einmal sagen, daß sie das Familienleben satt hatte. Das Laster mag ja im allgemeinen von den Moralbegriffen der bürgerlichen Gesellschaft schon ziemlich angefressen sein; aber noch ist kein Familienerlebnis imstande, ihm die Lebensfreude zu verderben. Die Prostitution mag arg verchristlicht sein — so schlimm steht es noch nicht um sie, daß man die Hoffnung aufgeben müßte, das Dasein durch sie ein wenig heiterer zu gestalten! Ach, ein Verbrechen ist immer erst das, was nach vier Jahren herauskommt und bis dahin allen beteiligten Christen einen Heidenspaß gewährt hat. Die Unsittlichkeit lebt so lange in Frieden, bis es dem Neid gefallt, die Moral auf sie aufmerksam zu machen, und der Skandal beginnt immer erst dann, wenn die Polizei ihm ein Ende macht. Sie übt eine Räson, der wir uns alle zu beugen haben. Nur manchmal gelüstet uns, zu glauben, daß der einzige Bezirk, durch den die Linie eines logischen Lebens zieht, die Welt der besinnungslosen Huren sei. Daß der einzige würdige Betrieb im Staate die Prostitution sei, normal neben der Perversität des geistigen, planvoll neben der Wirrnis des politischen, reell neben dem Schwindel des gesellschaftlichen Lebens. Der Freudenmarkt mag seine Auswüchse haben und seine Unordnung, Mißbräuche und irdische Mängel, Ekel und Verdruß. Aber er ist die einzige Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft, die nicht von Grund aus verkommen ist! Sollen wir uns auch die noch verhunzen lassen? Das Beispiel, das die bürgerliche Gesellschaft an jedem Tage der Prostitution gibt, ist schlimm genug: braucht’s noch einer Einmischung der Autorität? Sie imponiert schlecht! Denn schlechter als der Amtsmißbrauch, dessen Vorwurf die Polizisten entkräftet haben, ist jener Gebrauch des Amtes, der vier Jahre ein Verbrechen sich in der Stille entwickeln läßt, um dann mit mörderischem Eklat den Erfolg zu erzielen. Welch eine kriminalistische Beute: In der einen Hand ein Tatbestand, in der andern eine Wasserleiche! Ein nasses Abenteuer der Moral. Macht nichts, wir schütteln uns, und leben gesund weiter. Es gurgelt, man prozessiert um eine Welle im Meer, und der Schlund schließt sich — —. Der Plumpsack geht um, schlägt ein kleines Mädchen tot, und legt sich wieder hin. Dann geht das Spiel von neuem los. Das sind die Moralprozeduren des Staates. Quousque tandem, Cato, abutere patientia nostra!