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Nulla dies ...

Mai 1907

Kein Tag vergeht, ohne daß ein Gerichtsfall die Erkenntnis von der wahren Bestimmung aller Gesetzlichkeit und Behördlichkeit predigte: ein Hohn ihrer Bestimmung, ein Lohn ihrer Verhöhnung zu sein. Seit langer Zeit ahnt man es, aber die Ahnung wird zur Gewißheit erwachsen, wenn erst ein neues Strafgesetz die Gehirnschande besiegelt haben wird: Diese dreiste Richterspielerei erwachsener Schulknaben, denen man durch Ministerialerlässe die Lebensfremdheit abzugewöhnen sucht, taugt nichts. Diese ganze Institution »Justiz« kann in einer Welt, der der Mensch ein Fremdling ist und der nur die Tat gilt, nie etwas anderes bedeuten als die kostbare Gelegenheit für eine Rotte schlechtbezahlter Sünder, sich an den Gerechten zu rächen, nie etwas anderes als die wollüstige Bereitschaft der Spießruten, zwischen denen der Menschenwert hindurch muß und von allen Lebensgütern zuerst das Schamgefühl verblutet. Kreaturen, die höchstens durch ihren Ursprung aus dem Aktenstaub der Schöpfungsprotokolle an eine göttliche Absicht glauben lassen, deren Anblick aber in keinem Falle die Feststellung, daß es gut war, provoziert haben kann, sind berufen, über Menschen zu richten. Das Weltbild, das uns die Justiz an jedem Tage bietet, zeigt, daß die Flüsse an ihrer Mündung entspringen und in ihre Quelle münden. Das Verbrechen beginnt mit der Gerichtsverhandlung. Alle bösen Triebe sind zur Sitzung versammelt, aller dolus der Welt ist aufgeboten, um eine culpa zu schaffen. Die Menschheit verblutet unter dem trostlosen Scharfsinn einer Wissenschaft, die operiert und nicht verbindet. Wie lange noch wird sie’s ertragen? Wie lange werden ihre Richter ungestraft strafen dürfen? Gäbe es doch eine Statistik der durch die Gerechtigkeit erzeugten Übeltaten! Die Summe moralischen und materiellen Schadens, der einem Volk durch seine Verbrecher zugefügt wird, ist nichts neben der Summe moralischen und materiellen Schadens, den seine Richter bewirken. Der Strafe mag es gelingen, Verbrecher abzuschrecken. Einen Richter hat sie noch nie abgeschreckt.

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Der Landesschulrat hat beschlossen, in eine neue Ausgabe der Fibel das folgende Lesestück aufzunehmen:

»Im Juli 1894 — also vor mehr als zwölf Jahren — wurde der gegenwärtig 27 Jahre alte Privatbeamte L.P. unter eigenartigen Umständen vom Bezirksgerichte Favoriten wegen Übertretung des Diebstahls zu acht Tagen Arrest verurteilt. P., der damals 15 Jahre alt und in der Elektrizitäts-Aktiengesellschaft E. als Lehrling bedienstet war, hatte in Favoriten auf der Straße ein kleines Kind weinend angetroffen, das sich verirrt hatte und nicht anzugeben wußte, wo seine Eltern seien. Aus Mitleid führte der Lehrling das Kind auf die nächste Wachstube, wo sich inzwischen die Eltern des Kindes bereits gemeldet hatten. Als der Lehrling sich aus der Wachstube entfernen wollte, fragte ihn der diensthabende Polizeibeamte, woher er die zwei Zinkpole, einen Metalltaster und eine Platte, die aus seiner inneren Rocktasche hervorlugten, habe. Der Lehrling gab freiwillig an, daß er die Metallstücke aus der Fabrik genommen habe, um sie für häusliche Arbeiten zu verwenden. Er wurde nun beim Bezirksgerichte Favoriten wegen Diebstahls der beiden Zinkpole im Werte von 80 Kreuzern angeklagt. In der im Juli 1894 durchgeführten Verhandlung gab P. zu seiner Verantwortung an, daß er der Meinung war, die beiden Metallstückchen für häusliche Arbeiten mitnehmen zu können. Auf Grund seines Geständnisses wurde der Lehrling wegen Diebstahls zu acht Tagen Arrest verurteilt. Die Eltern des Knaben waren von der Verhandlung nicht verständigt worden. Der Verurteilte wurde sofort in Haft behalten und büßte die Strafe ab. In späteren Jahren aber konnte er wegen der verbüßten Strafe nirgends Arbeit finden. Er wendete deshalb alles auf, um die Verurteilung rückgängig zu machen. Ein von ihm überreichtes Majestätsgesuch blieb erfolglos, ebenso ein Gesuch um Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Erst eine von seinem Rechtsfreund überreichte Beschwerde hatte Erfolg. Es wurde dem Bezirksgerichte Favoriten die Vornahme einer neuerlichen Verhandlung wider P. aufgetragen. Der Angeklagte beteuerte jetzt, daß er sich, als er als Lehrling die beiden Metallstücke aus der Fabrik nach Hause nahm, nicht bewußt war, eine strafbare Handlung zu begehen. Es sei oft vorgekommen, daß Arbeiter kleine Metallstücke für ihren Gebrauch anstandslos nach Hause nahmen. Der als Zeuge vernommene Professor R., der im Jahre 1894 Direktor der Fabrik war, entlastete den Angeklagten, indem er angab, daß er ihm, wenn er darum ersucht hätte, ohneweiters die Metallstücke geschenkt hätte. Seitens der Fabrik sei auch keine Anzeige gegen den Angeklagten erstattet worden. Auch ein als Zeuge vernommener Werkführer bestätigte die Richtigkeit der Verantwortung des Angeklagten, der nun von der vor zwölf Jahren verbüßten Strafe freigesprochen und rehabilitiert wurde.«

Die Moral: Sei nicht mitleidig, sonst wirst du in späteren Jahren keine Arbeit finden. Wenn du ein verirrtes Kind auf der Straße siehst, führe es nicht auf die Wachstube, sonst kann es dir geschehen, daß du dort behalten wirst und dann als verirrtes Kind auf der Straße stehst. Laß dich von fremden Tränen nicht rühren, damit du nicht eigene trocknen mußt ... So findet’s der Bürgersinn in Ordnung. Er geht an der Gerichtssaalwelt vorüber: es ist nichts. Die Märtyrer wohnen auf der Teufelsinsel. Aber die diensthabenden Polizeibeamten und die Bezirksrichter wohnen in Wien, zertreten Existenzen und sind auch nach zwölf Jahren noch davor geschützt, daß die Chronik, die ihre Taten kündet, auch ihre Namen verrät. Zwölf Jahre hat der Angeklagte gebraucht, um sich zu rehabilitieren. Die Diensthabenden waren in all der Zeit nicht müßig und sind avanciert. Wenn sie Mut haben, mögen sie vortreten. Schlimmere Lynchjustiz, als sie geübt haben, kann ihnen nicht widerfahren. Man wird sie als Vertreter des verbreitetsten Amtstypus höchstens fragen, ob die Wichtigmacherei auf Kosten des Menschenglücks zu den Grundbedingungen des staatlichen Lebens gehört. Man wird einen Polizeibeamten, der ausschließlich jene Platten für gefährlich hält, die aus der inneren Rocktasche eines Lehrlings hervorlugen, fragen, ob die Deklassierung der Ehrlichen eine Aufgabe der behördlichen Fürsorge sei. Der arme Junge wollte den Verstand darüber verlieren, daß gerade er zu einem tragischen Konflikt mit der Gesellschaftsordnung ausersehen sei. Die acht Tage Arrest für die Einmengung in die Untätigkeit einer Behörde leuchteten ihm ein. Aber die zwölf Jahre Ehrverlust empfand er als grausame Verschärfung. So lange Zeit mußte er sehen, daß die Welt sich zwischen zwei Zinkpolen bewege, — und hatte vordem nicht einmal geahnt, daß man Metallstücke auch zum Schutz gegen einen diensthabenden Peiniger verwenden könne. Wehe einer Gerechtigkeit, die solche Erkenntnisse vorbereitet!

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Eher noch möchte eine Feuersbrunst durch Hineinspucken gelöscht werden, als daß ein Ministerialerlaß jene freiheitliche Errungenschaft ersticken könnte, die wir als die richterliche Unabhängigkeit von Takt, Würde, Einsicht und Erbarmen kennen. Nulla dies ... Aber derselbe Tag sah nebeneinander die folgenden publizistischen Tatsachen:

»Das Justizministerium will nicht behaupten, daß diese Mahnungen fruchtlos geblieben sind; aber einige Fälle neueren Datums, in denen das Verhalten der Vorsitzenden in der Öffentlichkeit nicht ohne Grund einer herben Kritik unterzogen wurde, verpflichten, auf diesen Gegenstand zurückzukommen und die eben erwähnten Mahnungen des Erlasses vom Jahre 1892 in Erinnerung zu bringen ... Wenn menschliche Schwächen des Beschuldigten und Verirrungen, die mit der Tat selbst in keinem Zusammenhange stehen, in gesuchter Weise hervorgekehrt, dessen Antworten mit ironischen oder mißgünstigen Bemerkungen begleitet oder gegen ihn auffahrend und rauh verfahren würde, so steht das nicht bloß mit den Pflichten des Vorsitzenden als Richter und Verhandlungsleiter in Widerspruch, sondern ein derartiges Verhalten vermag auch Konflikte aller Art heraufzubeschwören, Leidenschaften zu wecken und das Urteil zu trüben. Der Vorsitzende soll durch die gelassene und sachgemäße Methode seines Verfahrens beruhigend und ernüchternd wirken und darf nicht der Versuchung unterliegen, seinen Scharfsinn, seine Gewandtheit, seinen Witz im Lichte der Öffentlichkeit glänzen zu lassen oder sonst durch die Art der Vorführung der Beweise und der Fragestellung die Sensationslust zu fordern Der Vorsitzende wird überdies mit aller Sorgfalt zu verhüten haben, daß Vorkommnisse des Privat- und Familienlebens, sei es eines Zeugen, sei es des Angeklagten, die in keiner Beziehung zur Sache stehen, unnütz zur Erörterung gelangen und der Öffentlichkeit preisgegeben werden. Unser Strafgesetz hat die nicht durch besondere Umstände gerechtfertigte Veröffentlichung ehrenrühriger Tatsachen des Privat- und Familienlebens unter Strafsanktion gestellt. Der Gerichtssaal darf nicht als eine Stätte gelten, an der diese Vorschrift ungescheut übertreten werden kann. Daß der Richter sich von derlei Mitteilungen fernhalten müsse, ist selbstverständlich. Er wird aber auch bei der Leitung der Verhandlung darauf Bedacht zu nehmen haben, daß Fragen unterbleiben oder zurückgewiesen werden, die darauf abzielen, Privat- oder Familienangelegenheiten ohne zwingende Ursache in die Verhandlung einzubeziehen. Ebensowenig wäre es zu billigen, wenn ein Vorsitzender an der Handlungsweise der Zeugen und an ihrem Verhalten in bestimmten Lebenslagen Kritik üben oder von der Aufgabe und dem Zwecke der gerichtlichen Verhandlung abschweifend, über allgemein gesellschaftliche, sittliche, religiöse und ähnliche Fragen individuelle Urteile und Auffassungen oder sonst persönliche Ansichten in einer Art äußern würde, die den Zeugen bloßstellen oder das Gericht in ein schiefes Licht setzen könnte. Der Vorsitzende als Leiter der Verhandlung wird zu solcher Kritik am allerwenigsten berufen und berechtigt sein.«

»Vor dem Schwurgerichte unter Vorsitz des Landesgerichtsrates Dr. Engelbrecht hatte sich der 26jährige Holzdrechslergehilfe Leopold Sch. wegen Verbrechens der Notzucht zu verantworten. Die Anklage vertrat Staatsanwaltssubstitut Dr. Wiesner, als Verteidiger fungierte Dr. L. Der Angeklagte bewohnte seit Mai 1906 bei einer Frau und deren 13jähriger Tochter im 16. Bezirk als Aftermieter ein Kabinett. Nach einigen Monaten fiel der veränderte Zustand des Kindes auf und es gestand der Mutter, daß seine Niederkunft bevorstehe. Sch. gibt die intimen Beziehungen zu dem Mädchen zu, er habe dessen Alter gekannt und sei auch der strafbaren Folgen seines Tuns sich bewußt gewesen. Auf die Frage des Präsidenten, warum er dann so gehandelt habe, antwortet er einfach: ›Ich hab’ sie lieb gehabt.‹ Später fügt er dann noch hinzu: ›Seit Jahren hab’ ich sie gern gehabt und dann hab’ ich mir gedacht, wenn die Zeit kommt, wirst du sie heiraten.‹ — Verteidiger: ›Haben Sie auch jetzt noch diese Absicht?‹ — Angekl.: ›Ja, wenn sie vierzehn Jahre alt ist, werden wir heiraten.‹ Die 13jährige Marie H., ein kräftig entwickeltes, hübsches Mädchen, bestätigt die Verantwortung des Angeklagten. Sie gibt an, daß sie am 6. März d.J. eines Mädchens genas, das sich in Pflege befindet. Die Zeugin sagt verschüchtert aus, worauf der Präsident bemerkt: ›Genieren Sie sich nicht, Sie haben sich früher auch nicht geniert. Wenn Sie schon die sonstigen Begriffe von Anständigkeit und Moral nicht gehabt haben, mußten Sie doch wissen, daß das eine unerlaubte Handlung ist.‹ — Zeugin (leise): ›Ich habe es nicht gewußt.‹ — Präs.: ›Daß es eine Sünde ist, haben Sie wissen müssen.‹ — Zeugin: ›Ich habe es nicht gewußt.‹ — Präs.: ›Warum haben Sie Ihre Schamhaftigkeit nicht gewahrt?‹ — Zeugin schweigt. — Präs.: ›Sind Sie nicht während der Zeit in der Beichte gewesen? Sie mußten doch vom Priester hören, daß das nicht gestattet ist.‹ — Zeugin schweigt. — Vert.: ›Wären Sie bereit, den Sch. zu heiraten, wenn Sie vierzehn Jahre alt sind?‹ — Zeugin: ›Ja. Ich hab’ ihn gern.‹ — Staatsanwalt: ›Wissen Sie denn überhaupt, was das heißt, einen Mann gern haben, mit Ihren dreizehn Jahren? Ich glaube, das sind Begriffe, die bei Ihnen nicht vorhanden sein können.‹ — Zeugin: ›Ich hab’ ihn sehr gern.‹ — Der Staatsanwalt plädiert für die Schuldigsprechung des Angeklagten und hebt hervor, daß das Gesetz sich eine zu große Selbstbeschränkung auferlegt habe, indem es die Grenze mit vierzehn Jahren setzte. Der Verteidiger bittet um Freispruch seines Klienten, die Geschwornen mögen Gnade üben und drei Existenzen retten. — Die Geschwornen verneinten die Schuldfragen mit sieben gegen fünf Stimmen, worauf der Präsident den Freispruch des Angeklagten verkündete.«

Aber wenn Erlässe nicht helfen, wird man mit einer Justiz, die sich’s nicht versagen kann, an einen Angeklagten die Gretchenfrage nach der Religion zu stellen oder ein Gretchen als böser Geist in der Domszene zu quälen, in einer anderen Sprache sprechen müssen. Es ist in Österreich möglich, daß eine Sühne, wie sie die Kundgebung des Justizministers nach den schmachvollen Offenbarungen des Rutthofer-Prozesses bedeutet, auf der Stelle durch eine Tat wettgemacht wird, die alles hinter sich läßt, was bis dahin in Osterreich möglich war. Nie hat kriminalistischer Wahn blinder am Leben vorbeigetappt als in diesem Zeitalter einer barbarischen Humanität, aber nie war das Ärgernis der Sehenden größer als in diesem letzten Gerichtsfalle. Wenn ein Meßner den Staatsanwalt machte und ein Kerzlweib präsidierte, könnte das Liebesleben einer Zeugin nicht fühlloser mißhandelt werden. Wieder einmal ist in einer Österreichischen Gerichtsverhandlung die Natur mit ihren Ansprüchen auf den Kirchenrechtsweg verwiesen worden. Aber daß darüber gleich auch judiziert worden ist und der Gerichtshof sich für kompetent erklärt hat, einer Zeugin das Beichtgeheimnis abzunehmen, ist das Besondere des Falles Engelbrecht-Wiesner. Diese Kompagnie erdreistet sich, eine Gerichtsbarkeit über »Sünden« auszuüben, hält das Kruzifix, das auf dem Gerichtstisch steht, dem Zeugen nicht zum Schwur, sondern zum Gebet vors Antlitz. So mag dem Priester künftig nichts mehr übrig bleiben als die erstaunte Frage an sein Beichtkind, ob es denn nicht in der Gerichtsverhandlung gewesen sei und ob ihm der Landesgerichtsrat nicht gesagt habe, daß der außereheliche Geschlechtsverkehr verboten ist. Aber ein Hirn, in dem eine Altarkerze brennt, ist immer noch heller als eines, an dessen Paragraphenwindungen sich die Strahlen des Lebens brechen. Man sehe nur, wie sich in den Köpfen des Wiener Landesgerichts die Sexualentwicklung eines jungen Mädchens malt. Zuerst bekommt es die »sonstigen Begriffe von Anständigkeit und Moral«. Dann erfährt es, daß der Geschlechtsverkehr eine unerlaubte Handlung sei. Dann kommt die Schwurgerichtsperiode. Ein unbezähmbarer Naturtrieb zwingt das Mädchen, »seine Schamhaftigkeit zu wahren«. Hat es sich gegen diesen Naturtrieb ausnahmsweise vergangen, so hat es auch schon das Recht verwirkt, nachträglich vor einer Schar unbeteiligter Landesgerichtsräte seine Schamhaftigkeit zu wahren. Es gibt junge Mädchen, die sich kein Gewissen daraus machen, mit ihrem Geliebten Dinge zu tun, über die sie später vor Herrn Engelbrecht am liebsten schweigen möchten. Das täte ihnen so passen. In einem Kabinett sündigen und nachher im Gerichtssaal rot werden! Das Schamgefühl eines Landesgerichtsrates gröblich verletzen und sich gegen eine Verletzung des Schamgefühls durch einen Landesgerichtsrat sträuben! Herr Engelbrecht duldet keine Heimlichkeiten. Aber während er bei einem dreizehnjährigen Mädchen die Begriffe von Anständigkeit und Moral wenigstens bis zu ihrem Eintritt in den Gerichtssaal voraussetzt, glaubt der Staatsanwalt, daß die »Begriffe des Gernhabens« bei ihr überhaupt nicht vorhanden sein können.

Eine dreizehnjährige Mutter! Das bringt eine Kriminalistik, die der Entwicklung des Menschen von rückwärts Rechnung trägt und aus dem idealen Zustand jenseits von Potenz und Klimakterium zur »Altersgrenze« hinablangt, außer Fassung. Aber ein Mädchen, das noch die Fibel liest, kann lebensreifer sein als ein Landesgerichtsrat, der das Leben nach Fibelbegriffen wertet und vom Geschlechtsgenuß nichts weiter weiß, als daß er unmoralisch ist. Und ein Mädchen, welches das Schamgefühl verletzt, handelt gottgefälliger als ein Richter, der die Verletzungen des Schamgefühls demonstriert. Daß sich die Geschlechtstriebe der Judikatur so schwer anpassen, ist die rätselvolle Tatsache, vor der jeder Kriminalist, von der Pubertät bis zum Ablauf des Staatsdienstes, staunend steht, die er an seinem eigenen Leib erleidet und darum an fremden Leibern ahndet. Die Göttin der Gerechtigkeit ist blind, verstopft sich die Ohren und legt einen Keuschheitsgürtel an. So gerüstet, hat sie von den neuen Erkenntnissen nichts zu fürchten. Und wenn Herr Engelbrecht von einem Forscher erführe, daß der Mensch eigentlich sein ganzes Leben hindurch, von der Geburt bis zur Hinrichtung, daß der Säugling beim Stuhlgang und der Delinquent, dem die Schlinge um den Hals gezogen wird, Sexualempfindungen haben, er glaubte es nicht. Sonst würde er den Todeskandidaten und den Säugling mit dem Vorwurf einschüchtern: »Wenn Sie schon die sonstigen Begriffe von Anständigkeit und Moral nicht gehabt haben, mußten Sie doch wissen, daß das eine unerlaubte Handlung ist!«

Vgl.: Die Fackel, Nr. 225, IX. Jahr
Wien, 3. Mai 1907.