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Die Entdeckung des Nordpols

September 1909

Die Entdeckung, oder wie sie auch genannt wurde, Eroberung des Nordpols fiel in das Jahr 1909. Sie war das Werk eines kühnen Amerikaners und wurde mit um so größerer Genugtuung begrüßt, als in demselben Jahre durch die Abtretung vieler Amerikanerinnen an chinesische Kellner das nationale Ansehen eine empfindliche Einbuße erlitten hatte. Aber nicht nur in Amerika, nein, in der ganzen Welt fühlte sich das kulturelle Selbstbewußtsein gehoben, man begann wieder Mut zu fassen und einer Vorsehung zu vertrauen, die durch die Entdeckung des Nordpols die zivilisierte Menschheit offenbar für die unerfreulichen Entdeckungen derselben Saison entschädigen wollte. Ein einziger Missionär der Wissenschaft, der heil von den Eskimos wiederkehrt, ist reichlicher Ersatz für ein Dutzend Forscherinnen des Glaubens, die im Chinesenviertel zurückbleiben; und man nahm es dabei nicht als Zufall, sondern als eine besondere Aufmerksamkeit des Schicksals, daß gerade das deutsche Nationalbewußtsein wieder an der Eroberung des Nordpols durch einen Mann, der früher Koch geheißen haben soll, beteiligt war, wie im andern Sinne an der Ermordung der Elsie Siegl. Man schwankte keinen Augenblick, welches von den beiden das größere Ereignis sei; hatte doch das neue vor dem andern allein schon die Annehmlichkeit voraus, daß man endlich wieder das Maul aufreißen konnte. In diesem Punkte mußte man es geradezu als Erholung empfinden. Denn als die Kunde in die Welt ging, daß die gelbe Gefahr der Geschmack der weißen Frau sei, da wurde — unseliges Farbenspiel! — der weiße Mann noch weißer, da hatte er eben noch die Geistesgegenwart, die Moral hervorzuziehen, nicht ahnend, daß gerade sie es war, die ihn so weit gebracht hatte, und nun stritten Scham und Furcht um den Vorrang, der Welt den Mund zu schließen. Es entstand jenes eisige Schweigen, in das endlich der erlösende Ruf drang: Der Nordpol ist entdeckt! Da war es, als ob das Weiß dieser Region der gefundene Hintergrund wäre, auf dem das Antlitz der weißen Kreatur wieder Farbe bekam, und die erstarrte Welt belebte sich, erwärmte, taute auf an der Erkenntnis, daß die Eskimos doch bessere Menschen sind. Man muß nur, so hieß es, ihre Sprache verstehen, ihnen etwas mitbringen oder in die Hand drücken, dann zeigen sie dem Fremden bereitwillig den Weg zum Nordpol. Von ihnen war noch etwas zu hoffen, von den Chinesen alles zu fürchten. Die geben keine Auskunft, wenn man sie nach der Entwicklung fragt, und grinsen nur, wenn ein höflicher Ausländer sich erkundigt, wer von ihnen seine Frau ermordet habe.

Im Jahre 1909 war es, daß die christliche Kultur vor dem Osten zu retirieren und sich nach dem Norden zu konzentrieren begann. Ja, man baute auf die Eskimos. Denn nicht nur als einen Ausweg aus der Verlegenheit, sondern auch als die Erfüllung eines alten Herzenswunsches empfand man die Entdeckung des Nordpols. Seit Jahrhunderten hatte der Menschheit, die immer vorwärts schritt, ein letztes Etwas zu ihrem Glücke gefehlt. Was war es nur? Wovon fieberten Tage und Träume? Was hielt eine Welt in Atem, deren Puls nach Rekorden gezählt wird? Was war das Paradigma aller Begehrlichkeit? Der Trumpf der Streberei? Die Ultima Thule der Neugier? Der Ersatz für das verlorene Paradies? Die große Wurst, nach der auf dem irdischen Jahrmarkt die Wissenschaft alle Schlittenhunde hetzte? Ach, es litt die Menschheit nicht beim Tagwerk: der Gedanke, daß da oben ein paar Quadratmeilen waren, die ein menschlicher Fuß noch nicht betreten hatte, schien unerträglich. Freudloser als der »freudlose Fleck«, den es endlich zu finden gelang, war das Leben, solange er nicht gefunden war. Es war eine Blamage, daß wir, denen die Welt gehört, uns ihr letztes Endchen vorenthalten lassen sollten. Wir schämten uns seit der Entdeckung Amerikas und hofften all die Zeit, daß Amerika sich erkenntlich zeigen werde. Es war keine Lust, in einer Welt zu leben, über die man nicht vollständig orientiert war, und mancher Selbstmord aus unbekanntem Motiv geschah vielleicht, weil es auch auf Erden noch ein unentdecktes Land gab, von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrte. Und in der Kinderstube der Menschheit scholl der Frage: Was möchtest du werden? immer wieder die Antwort entgegen: Entdecker des Nordpols! Aber das Kind lernt die Ideale ablegen, während der Mensch die kurzen Hosen nicht austrägt. Er muß den Nordpol wirklich haben! Wenn es schon seine Lieblingsvorstellung ist, daß der Nordpol entdeckt wird, so genügt sie ihm nicht: er dringt auf Erfüllung. Doch undankbar wie der befriedigte Idealist nur sein kann, zögert er nicht, der jungfräulichen Natur die Achtung zu versagen, sobald sie seiner Werbung sich ergeben hat. Ich war enttäuscht! ruft Herr Cook, und nennt das Idol der Menschheit einen freudlosen Fleck. Denn an dem Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß er nicht erreicht wurde. Einmal erreicht, ist er eine Stange, an der eine Fahne flattert, also etwas, das ärmer ist als das Nichts, eine Krücke der Erfüllung und eine Schranke der Vorstellung. Die Bescheidenheit des menschlichen Geistes ist unersättlich.

Die Entdeckung des Nordpols gehört zu den Tatsachen, die sich nicht vermeiden ließen. Sie ist der Lohn, den sich die menschliche Ausdauer selbst erteilt, wenns ihr schon zu lange dauert. Die Welt brauchte einen Nordpolentdecker, und wie auf allen Gebieten sozialer Betätigung entschied auch hier weniger das Verdienst als die Konjunktur. Nie war der Moment günstiger gewählt als in den Tagen, da der Geist zur Erde strebte und die Maschine sich zu den Sternen erhob, da der entseelte Fortschritt, gefolgt von einer lustigen Witwe, zu Grabe ging. Als auf Erden nur noch jene Witze verstanden wurden, die aus dem gemeinsten Stoff geschnitzt waren, da geschah die Entdeckung des Nordpols. Sie ist ein wirksames Extempore einer abgespielten Entwicklung. Sie geschah und schlug ein. Man brauchte einen Nordpolentdecker, und er war da. Um keinen Preis der Welt hätte sich die Welt ihn ausreden lassen, sie, die die vollzogenen Tatsachen liebt und über den Zweifeln der Wissenschaft mit der Beruhigung schlafen geht: Seien wir froh, daß wir einen Nordpolentdecker haben! Eine rationalistische Kindsfrau ist es, die dem Kind den Zinnsoldaten, den es umklammert hält, mit der Motivierung zu entreißen sucht, er könne nicht marschieren. Muß man den Nordpol entdecken können, um den Nordpol zu entdecken? Aber die Zweifel der Wissenschaft gehören zu dem Kinderspiel, das sie zu stören sucht. Als Herr Cook erzählte, woher er komme, vollzog sich die Teilung der Welt in Idealisten und Skeptiker. Nie zuvor hatte es so viele Vertreter beider geistigen Richtungen gegeben. Und sie waren einander wert. Die Idealisten, das waren vor allem die Männer, die die Leitartikel zu schreiben und dafür zu sorgen haben, daß der letzte langohrige Abonnent und treue Esel unseres Blattes die Würde des Zeitgenossen zu tragen bekommt. Die Skeptiker, das waren die Männer der Wissenschaft, also die Herren von der Nordpolkonkurrenz. Denn wie auf allen Gebieten sozialer Betätigung entscheidet auch hier — mit einem Wort, die Idealisten waren die sympathischere Partei. Es war erhebend, als ihr Führer, der Redakteur vom Börsenteil, begeistert ausrief, die Entdeckung des Nordpols sei eine Angelegenheit, die jeden einzelnen angehe; als er sie einen moralischen Gewinn der Menschheit nannte und den Idealismus pries, der in dieser von materiellen Interessen beherrschten Welt doch noch stecke. Leider besann er sich aber und begann, sich um das allerletzte noch ungelöste Problem eines arrivierten Zeitalters zu bemühen, das da lautet: Wem gehört der Nordpol? Der Generalstaatsanwalt von Washington nämlich hatte in dieser Situation sofort getan, was Staatsanwälte immer und schon mit einer Reflexbewegung zu tun pflegen: er hatte den Nordpol beschlagnahmt. Der Idealist vom Börsenteil aber meinte, das gelte nicht, sondern die Okkupation müsse »effektiv« sein, und fing an, von der Zeit zu träumen, wo erst der Zinsfuß die Region des ewigen Eises betreten wird. Die Skeptiker waren aber auch nicht faul und verlegten sich darauf, das Vorleben des Herrn Cook zu erforschen, da sie einsahen, daß zu den größten menschlichen Schwierigkeiten nebst der Erreichung des Nordpols der Beweis des Gegenteils gehört. Denn jenes Geschäft, das den höchsten Kredit beansprucht und ihn am leichtesten erhält, ist das des Nordpolfahrers, und auf keinem Gebiet hat die Wissenschaft so sehr mit populären Strömungen und günstigen Winden zu rechnen wie auf diesem. Es gibt Zeiten, wo die Angabe, den Nordpol erreicht zu haben, eine Genietat ist, neben der die Erreichung des Nordpols nur noch als Fleißaufgabe in Betracht kommt, und wo die Behauptung, man sei aus Christiania eingetroffen, Skeptiker findet, und die Versicherung, man komme vom Nordpol, Idealisten. Da ist es denn auch vergebene Mühe, im arktischen Vorleben eines Menschen eine dubiose Besteigung des Mount Mac Kinley zu entdecken, und kein noch so gegründeter Zweifel wäre so bald imstande, der Welt den Nordpolfinder zu entreißen, den sie einmal hat.

Erst wenn ihrer zwei sind, wird die Dummheit mißtrauisch. Das ist der Anfang der Politik. Die Grenze, die die Idealisten von den Skeptikern trennt, verwischt sich, und es bilden sich dafür zwei zielbewußte Parteien, von denen die eine auf Cook, die andere auf Peary schwört, nein, wettet, und vom erledigten Problem des Nordpols beginnt sich der menschliche Geist in die Höhe des welthistorischen Turfskandals zu erheben. Die Duplizität der Ereignisse ist eine wohltätige Einrichtung, die dem Fassungsvermögen der Gehirne entgegenkommt, indem sie ihnen Zeit läßt, selbst noch das Ah des Erstaunens zu buchstabieren. Doppelt hält besser, meinte das gutgelaunte Schicksal, als es mit dem Helden bei der Festtafel anstieß und ihm zu verstehen gab, daß er da oben ein Rendezvous versäumt habe. Entgeistert stand Herr Cook. Entgeistert stand die Zeitgenossenschaft vor einer Kühnheit, die dem Gedanken des unlautern Wettbewerbs bis in die Region des ewigen Eises Bahn gebrochen hat, dort wo der Mensch auf die Vorräte eines andern angewiesen ist und die Benützung fremder Eskimos und Hunde anfängt. Aber allmählich gewann Überlegung die Oberhand und das Volk entschloß sich, die Lorbeern so zu verteilen, daß es einem der beiden Männer unbedingt die Priorität des Nordpolerfinders zuerkannte.

Hätte Pearys Leistung noch auf den Jubel rechnen können, den Cooks Behauptung eingeheimst hatte? Konnte sich ein schlichter Nordpolentdecker neben einem Manne sehen lassen, der das Bedürfnis der Welt nach einem Nordpolentdecker entdeckt hat? Die Ehren, die man für jenen noch übrig hatte, waren Lampions neben den Flammen der Begeisterung, die ein aktuelles Wort entzündet hatte. So setzt die Welt das Verdienst, den Nordpol erreicht zu haben, auf das verdiente Maß herab. Man hatte sich ja für die Sache begeistert, nicht für die Person. Ob sich da einer zu Unrecht einer Gunst rühmte, die der andere genoß, ob Herr Cook den Sieg davontrug, den Herr Peary errungen hatte, — der gute Ruf des Nordpols war dahin. Das Ideal war erledigt, und alles Interesse gehörte jetzt dem wissenschaftlichen Raufhandel. Cook war unehrlich genug, dem andern Prosit! und Peary ehrlich genug, dem andern Pfui Teufel! zuzurufen. Cook war so loyal, jede Nordpolentdeckung nach der eigenen zu glauben. Er hatte längst das seine getan, den wissenschaftlichen Beweis zu erbringen. Denn er hatte sich nicht damit begnügt, zu versichern, daß er kein Schwindler sei, und die Bitte hinzuzufügen, daß man ihm dies glauben möge, weil man ihm dann auch die Entdeckung des Nordpols glauben würde. Er hatte sich nicht damit begnügt, Proben einer feuilletonistischen Begabung zu erbringen, die auch den nüchternsten Zeitungsleser davon überzeugen mußte, daß er wirklich den »Gipfelpunkt der Erde« erklommen habe. Nein, er hatte ein übriges getan und die Skeptiker geradezu aufgefordert, selbst nach dem Nordpol zu gehen! Auf eine solche Antwort waren sie nicht gefaßt und horchten auf. Am Nordpol, sagt er, könne man eine amerikanische Flagge finden, und unter ihr vergraben, sagt er, eine Metallröhre, in der er eine Urkunde über seine Expedition deponiert habe, sagt er. Da wagte sich nur noch die schüchterne Frage hervor, ob denn das Eis auf dem Nordpol nicht treibe. Dies sei natürlich der Fall, aber er habe ja alles bereits zur Genüge gesagt, sagt er. Was das Eis auf dem Nordpol treibe, das, wollte er offenbar sagen, gehe ihn nichts an, und da hätte er wahrlich recht gehabt. Auf diese Erklärung hin schrie das Volk Hurra!, selbst Frau Cook zweifelte nicht mehr, sondern rief: »Ich wußte, daß es ihm gelingen würde; er war so fest davon überzeugt, als er abfuhr, ich wußte, es konnte ihm nicht mißlingen!«, und ein Varietédirektor bot dem Forscher für zehn Wochen 16.000 Mark. Da aber ein amerikanischer Verleger für eine Depesche das Doppelte bot, so meinte Herr Georg Brandes, Cook wäre ein Narr, wenn er zum Varieté ginge. Von dieser Seite hatten die Idealisten den Nordpol noch nicht betrachtet, und schon begann das liberale Weltblatt, das der Fachmann von der Börse leitet, sich für die Familienverhältnisse des Entdeckers zu interessieren. Frau Cook, hieß es, habe mit ihm seinen Ehrgeiz und ihren Reichtum geteilt. Eine andere Meldung entrollte ein düsteres Familienbild. Die Frau hatte »während der Abwesenheit des Mannes mit materiellen Schwierigkeiten zu kämpfen und mußte Wertgegenstände und Kunstobjekte verkaufen, um sich und ihre Kinder zu ernähren«, während der Hallodri den Nordpol entdecken ging. Nun erreichte ihn sein Schicksal. Frau Peary, so hieß es, habe ihm die Fähigkeit wissenschaftlicher Messungen abgesprochen, und wenn nicht im letzten Moment Frau Rasmussen für ihn Partei ergriffen hätte, die Nachbarinnen der arktischen Zone hätten ihm die Nordpolentdeckung nicht geglaubt. Überhaupt kamen da nette Dinge zur Sprache. Von Peary hieß es, er habe »die Geschmacklosigkeit begangen, zu viele Begleiter zuzulassen«, und er sei nur deshalb nicht als erster hinaufgelangt, »weil er seine Frau und eine Hebamme zum Nordpol mitnahm«. Als dann das Kind kam, fehlte es freilich an der Amme. Cook war auch hierin gewitzter. Er brauchte keine Amme, er wußte, daß man ihm die Erzählungen vom Nordpol auch so glauben werde, und fand richtig einen Verleger, der ihm anderthalb Millionen Mark dafür bot. In der Fülle gewinnender Züge, die uns an dem Familienleben zweier Polarforscher teilnehmen ließen, darf aber die Ansprache nicht vergessen werden, die die Frau Peary vom Balkon ihrer Villa an die Kurgäste eines Seebades hielt und in der sie die Absicht kundgab, ihren Mann »fortan für sich allein zu behalten«. Damit schien wenigstens die Frage, wem der Nordpolentdecker gehört, für alle Zeiten entschieden. Doch wie hart klingt auf so rührendes Bekenntnis aus einem Frauenmund die Rede, die ein Kontre-Admiral plötzlich vernehmen ließ: Peary sei »der größte Schwindler, den Amerika je hervorgebracht habe«. Also auch hier wieder zwei, die um die Palme ringen? Wer hat zuerst den Nordpol nicht entdeckt? Man fängt ernstlich an, sich nicht mehr auszukennen, und hofft täglich von der Wissenschaft das entscheidende Wort zu hören. Denn die Wissenschaft liest genau, was in den Zeitungen steht und achtet auf alle Widersprüche, um sie sich anzueignen. Sie gibt Gutachten ab, sobald ihr ein erfundenes oder entstelltes Telegramm unter die Nase gehalten wird, sie fühlt sich vor dem Reporter verantwortlich, und sie weiß, daß sie wirklich nicht den Nordpol erreicht haben muß, um zu Ehren zu kommen, sondern bloß die unwirtliche Gegend einer Nachtredaktion. Und nur einem glücklichen Zufall hat es die Welt zu verdanken, daß von der Wissenschaft die Meldung nicht approbiert wurde, Herrn Cook sei es gelungen, »eine von Wilden reich bevölkerte Gegend zu entdecken«. Diese Meldung stand nämlich in einem von der Wissenschaft weniger gelesenen Blatte, während in dem führenden Organ der Wissenschaft die richtige Fassung zu lesen war, daß die Expedition »ein wildreiches Gebiet entdeckt« habe. Und das muß wahr sein, denn das hat schon Jules Verne behauptet. Trotzdem kann sich auch die Wissenschaft bei einer so schwierigen Materie, wie es der Nordpol ist, und angesichts des Umstandes, daß er vor den Herren Peary und Cook bestimmt noch nicht entdeckt war, nur darauf einlassen, Kredit abwechselnd zu geben oder zu nehmen. Unbeirrt steht sie auf dem Standpunkt, sie sei nicht geneigt, sich mit zwei Eskimos und einer Fahne aufs Treibeis führen zu lassen. Denn noch unverläßlicher als die Fahne seien die Eskimos. Cook hatte sich auf die Herren Itukisut und Avila als Tatzeugen für die Entdeckung des Nordpols berufen, und sie sollten wie die leibhaftigen Schacher sein Martyrium umrahmen, als die Frage laut wurde: Was ist Wahrheit? Dem Einwand Pearys, daß die Eskimos bekanntlich lügen, hatte er heftig gewehrt. Als nun Peary depeschierte, die beiden Begleiter Cooks hätten ihm gesagt, daß er keine nennenswerte Entfernung in nördlicher Richtung zurückgelegt habe, da blieb Herrn Cook nichts übrig, als sich auf das Axiom zu berufen, daß die Eskimos lügen, nachdem es Herr Peary bereits für ein Vorurteil erklärt hatte, und wieder standen wir vor der Frage: Was ist Wahrheit? Denn das ist das spezifische Geheimnis dieses Geheimnisses, daß die Mitternachtssonne nicht jene ist, die es an den Tag bringt. Sie scheint überhaupt nicht so sehr der Wahrheit förderlich wie der Grobheit. Während nämlich Cook noch vorgab, er sei stolz auf Peary, riet diesem schon ein anderer Arktiker, er solle das Maul halten. Ob aber Herr Cook ein Proviantdieb oder Herr Peary ein Koffereinbrecher sei, darüber ließ man die gelernten Geographen sich die Köpfe zerbrechen, und das Bezirksgericht sollte entscheiden, wer den Nordpol entdeckt habe. Mochten diese Instanzen zusehn, wie sie zwischen Ehrendoktorat und Ehrenbeleidigung die Wahrheit fänden. Die Idealisten verhielten sich zu dieser Seite des Nordpols ablehnend. Die ganze Affäre, deren tägliche Neuheiten die satirischen Erwartungen des Vortags pünktlich erfüllten, versprach keine Überraschungen mehr. Man hatte den Nordpol satt bekommen. Und nie zuvor war ein Sturz aus allen Himmeln so jäh und schmerzhaft erfolgt. Man war zu einem Fest der Menschheit geladen, und es verlief zum Familienkrakeel, bei dem die Heroen einander die Ideale an den Kopf warfen. Eine Kirchweih hatte mit einer Prügelei der Heiligen geendet. Das Volk stob auseinander, der Nordpol war eine so kompromittierte Sache, daß niemand mehr mit ihm zu tun haben wollte, nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten, und vielfach begann sich bereits die Aufmerksamkeit dem Südpol zuzuwenden ... Die Wissenschaft wird einen letzten Versuch machen und ihre Schiedsrichter entsenden. Sie werden hoffentlich feststellen, daß es einen Nordpol wirklich gibt, weil sie ihn vom Hörensagen kennen, und er wird froh sein, wenn er mit heiler Haut aus dieser Affäre herauskommt, dieser selbstzufriedene Punkt, »von dem aus überall Süden ist« und überall Gemeinheit, ein freudloser Fleck, seitdem er mit menschlichen Dingen in Berührung kam.

Denn es steht geschrieben, daß die Welt größer wird mit jedem Tag. Ist sie im Innern so befriedigt, daß sie auf Eroberungen ausgehen kann? Oder führt sie nicht eben der innere Feind, die Dummheit, auf diesen Pfad? Die Presse, der Kropf der Welt, schwillt von Eroberungslust, platzt vor Errungenschaften, die jeder Tag bringt. Eine Woche hat Raum für die kühnste Klimax menschlichen Expansionsdranges: von der Eroberung Niederösterreichs durch die Tschechen über die Eroberung der Luft zu der Eroberung des Nordpols. Kombinationen sind nicht ausgeschlossen, und wenn nicht Herr Cook das Wort gehabt hätte, so wäre der Nordpol sicher vom Zeppelin durch die kaum eroberte Luft erobert worden. Die allgemeine Bereitschaft zum Maulaufreißen findet ein noch nicht dagewesenes Entgegenkommen bei den Ereignissen, und mit der Dimension der Bewunderung wächst die Dimension der Tatsachen, bis im Wettlauf den Gaffern wie dem Schicksal der Atem ausgeht. Und ein Hinauflizitieren aller Werte und Bedeutungen hebt an, von dem sich jene keine Vorstellung machen könnten, die einst wert und bedeutend waren. Der größte Mann des Jahrhunderts ist der Titel einer Stunde, die nächste schon verleiht ihn einem andern. Es ist erreicht!, kaum noch die Devise einer ad astra weisenden Schnurrbartfasson, ist gleich wieder der Gruß, der kühneren, wenn auch nicht weniger bestrittenen Erfindungen entboten wird. Der Fortschritt, der den Kopf unten und die Beine oben hat, strampelt im Äther und versichert allen kriechenden Geistern, daß er die Natur beherrsche. Er belästigt sie und sagt, er habe sie erobert. Er hat Moral und Maschine erfunden, um der Natur und dem Menschen die Natur auszutreiben, und fühlt sich geborgen in einem Bau der Welt, den Hysterie und Komfort zusammenhalten. Der Fortschritt feiert Pyrrhussiege über die Natur. Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut. Als der Mensch mit der Postkutsche reiste, kam die Welt besser fort, als da der Kommis durch die Luft fliegt. Was nützt das Tempo, wenn unterwegs das Gehirn ausgeronnen ist? Wie wird man den Erben dieser Zeit die primitivsten Handgriffe beibringen, die notwendig sind, um die kompliziertesten Maschinen in Gang zu setzen? Die Natur kann sich auf den Fortschritt verlassen: er rächt sie schon für die Schmach, die er ihr angetan hat. Sie aber will nicht warten und zeigt, daß sie Vulkane hat, um sich von lästigen Eroberern zu befreien. Ihre Weiber verkuppelt sie mit den Todfeinden der Zivilisation, zündet mit der Moral die Wollust an und schürt sie mit der Rassenfurcht zum Weltbrand. Man tröstet sich und erobert den Nordpol. Aber die Natur klopft ihnen an die Tore der Erde und rüttelt an ihrer angemaßten Hausherrlichkeit. Man tröstet sich und erobert die Luft. Gegen Glatteis hat man noch keine andere Hilfe als das »Aufstreuen«, und wenns regnet, bleibt vorläufig nichts übrig, als den Regenschirm aufzuspannen. Aber sonst hat man es gelernt, der Natur auf die kunstvollste Art zu imponieren. Die Natur liest keinen Leitartikel und weiß darum noch nicht, daß man gerade jetzt damit beschäftigt ist, »die Welt der elementaren Gewalten in ein Vernunftreich zu verwandeln«. Könnte sie hören, daß die Meldung vom erreichten Nordpol bei allen Laufburschen der Erde »das Gefühl der Überlegenheit über die Natur gesteigert« hat, sie hielte sich den Bauch vor Lachen, und Städte und Staaten und Warenhäuser würden dann ein wenig in Unordnung geraten. Sie zuckt ohnedies schon öfter, als es der Überlegenheit ihrer Bewohner zuträglich ist. Binnen ein paar Wochen haben die elementaren Gewalten in einer so deutlichen Weise ihre Bereitwilligkeit bekundet, in ein Vernunftreich einzulenken, daß es auch das große Publikum verstehen muß. Indem sie durch Erdbeben, Springfluten, Taifune, sintflutartige Regen Hunderttausende von Menschen und Millionenhunderte von Vermögen in Amerika, Asien und Australien vernichteten, und nur in Europa den Redakteuren die Hoffnung ließen, daß »der Wille des Menschen« schon demnächst »alle Hebel der Natur bewegen« werde. Jedem Parasiten der Zeit ist der Stolz geblieben, ein Zeitgenosse zu sein. Man führt die Rubrik »Eroberung der Luft« und muß die Nachbarschaft »Erdbeben« nicht beachten, und in dem Jahre von Messina und des täglichen Nachgrollens der Erde bewies der Mensch seine Überlegenheit über die Natur und flog nach Berlin. 1909 opferten die Idealisten den ungnädigen Elementen Makkaroni und schafften für die verlorenen Ideale Ersatz am Nordpol. Denn es ist die Sache des Idealismus, sich für den Verlust des Alten damit zu trösten, daß man etwas Neues angaffen kann, und wenn die Welt untergeht, so triumphiert das Überlegenheitsgefühl des Menschen in der Erwartung eines Schauspiels, zu dem nur die Zeitgenossen Zutritt haben.

Die Entdeckung des Nordpols war unabwendbar. Sie ist ein Schein, den alle Augen sehen, und vor allen anderen jene, die blind sind. Sie ist ein Ton, den alle Ohren hören, und vor allen anderen jene, die taub sind. Sie ist eine Idee, die alle Gehirne fassen, und vor allen anderen jene, die nichts mehr fassen können. Der Nordpol mußte einmal entdeckt werden. Denn jahrhundertelang war durch Nacht und Nebel der menschliche Geist gedrungen, in hoffnungslosem Ringen mit den mörderischen Naturgewalten der Dummheit. Den Weg bezeichnen die Blutspuren jener Ungezählten, die für die geistige Tat den Kampf gegen eine erstarrte Menschheit immer wieder gewagt hatten. Wie viele Pioniere des Gedankens waren verhungert und wurden ein Fraß jener wahren Bestien des Eismeers, deren bloßes Dasein die Sperre der geistigen Zone bedeutet! Nicht einen Fußbreit hat Phantasie dem Reich jenes weißen Todes abgewonnen, dort, wo selbst die Hoffnung versank, die Welt der menschlichen Gewalten in ein Vernunftreich zu verwandeln. Man hat so lange den Walrossen Gedichte vorgelesen, bis sie schließlich die Entdeckung des Nordpols mit verständnisvollem Kopfnicken begleiteten. Denn die Dummheit war es, die den Nordpol erreicht hatte, und sieghaft flatterte ihr Banner als Zeichen, daß ihr die Welt gehört. Die Eisfelder des Geistes aber begannen zu wachsen und rückten immer weiter und dehnten sich, bis sie die ganze Erde bedeckten. Wir starben, die wir dachten.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 287, XI. Jahr
Wien, 16. September 1909.