Zum Hauptinhalt springen

Reine Anschauung

Anschauung, reine. Reine Anschauung ist die von Empfindung freie, nur die Form der Sinnlichkeit enthaltende Anschauung (s. Anschauungsformen). Die reine Anschauung entspringt aus der Gesetzlichkeit des anschauenden Bewußtseins selbst, sie ist allgemein-notwendig, ursprünglich, a priori, eine Bedingung der empirischen Anschauung, für deren Gegenstand daher alle Bestimmtheiten der reinen Anschauung (die räumlich-zeitlichen Eigenschaften, die mathematischen Gesetzmäßigkeiten) auch gelten. Die reine Anschauung geht aber nicht auf Dinge an sich, sondern auf die Form unseres Wahrnehmens der Dinge, auf die Form der Erscheinung. „Alle Dinge, die sich unseren Sinnen als Gegenstände darbieten, sind Erscheinungen; was aber, ohne die Sinne zu berühren, nur die besondere Form der Sinnlichkeit enthält, gehört zur reinen (d. h. einer von Empfindungen leeren, darum aber nicht verstandesmäßigen) Anschauung.“ „Die reine (menschliche) Anschauung ist aber kein allgemeiner oder logischer Begriff, unter dem, sondern ein besonderer, in dem alles beliebige Sinnliche gedacht wird; deshalb enthält sie die Begriffe des Raumes und der Zeit.“ Die „ursprünglichen Anschauungen“ (Raum, Zeit; dazu die Zahl als vermittels dieser beiden verwirklichter Verstandesbegriff) sind die Gegenstände der reinen Mathematik (s. d.) als Geometrie und reine Mechanik, bzw. der Arithmetik. „Es gibt also eine Wissenschaft von den Sinnendingen, obgleich bei ihr, da es Erscheinungen sind, kein realer Verstandesgebrauch stattfindet, sondern nur ein logischer“, Mund. sens. § 12 (V 2,103).

Die reine Anschauung ist kein (allgemeiner, diskursiver, höchstens ein eigenartiger Einzel-) Begriff (s. Anschauungsformen, Raum, Zeit). Sie geht den Objekten der Wahrnehmung voran. Wie ist das möglich? Nur so, weil sie „bloß im Subjekte, als die formale Beschaffenheit desselben, von Objekten affiziert zu werden“, ihren Sitz hat, KrV tr. Ästh. § 3 (I 81 f.—Rc 98 f.).

„Wie ist es möglich, etwas a priori anzuschauen? Anschauung ist eine Vorstellung, sowie sie unmittelbar von der Gegenwart des Gegenstandes abhängen würde. Daher scheint es unmöglich, a priori ursprünglich anzuschauen, weil die Anschauung alsdann ohne einen weder vorher noch jetzt gegenwärtigen Gegenstand, worauf sie sich bezöge, stattfinden müßte und also nicht Anschauung sein könnte“, Prol. § 8 (III 34 f.). „Müßte unsere Anschauung von der Art sein, daß sie Dinge vorstellte, so wie sie an sich selbst sind, so würde gar keine Anschauung a priori stattfinden, sondern sie wäre allemal empirisch. Denn was in dem Gegenstande an sich selbst enthalten sei, kann ich nur wissen, wenn er mir gegenwärtig und gegeben ist. Freilich ist es auch alsdann unbegreiflich, wie die Anschauung einer gegenwärtigen Sache mir diese sollte zu erkennen geben, wie sie an sich ist, da ihre Eigenschaften nicht in meine Vorstellungskraft hinüberwandern können.“ „Es ist also nur auf eine einzige Art möglich, daß meine Anschauung vor der Wirklichkeit des Gegenstandes vorhergehe und als Erkenntnis a priori stattfinde, wenn sie nämlich nichts anderes enthält als die Form der Sinnlichkeit, die in meinem Subjekt vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht, dadurch ich von Gegenständen affiziert werde. Denn daß Gegenstände der Sinne dieser Form der Sinnlichkeit gemäß allein angeschaut werden können, kann ich a priori wissen. Hieraus folgt: daß Sätze, die bloß diese Form der sinnlichen Anschauung betreffen, von Gegenständen der Sinne möglich und gültig sein werden; ingleichen umgekehrt, daß Anschauungen, die a priori möglich sind, niemals andere Dinge als Gegenstände unserer Sinne betreffen können“, ibid. § 9 (III 35 f.). „Also ist es nur die Form der sinnlichen Anschauung, dadurch wir a priori Dinge anschauen können, wodurch wir aber auch die Objekte nur erkennen, wie sie uns (unseren Sinnen) erscheinen können, nicht, wie sie an sich sein mögen; und diese Voraussetzung ist schlechterdings notwendig, wenn synthetische Sätze a priori als möglich eingeräumt oder, im Falle sie wirklich angetroffen werden, ihre Möglichkeit begriffen und zum voraus bestimmt werden soll.“ Raum und Zeit sind diese reinen Anschauungen, die den empirischen a priori zugrunde liegen und dadurch beweisen, daß sie „bloße Formen unserer Sinnlichkeit“ sind, „die vor aller empirischen Anschauung, d. i. der Wahrnehmung wirklicher Gegenstände vorhergehen müssen, und denen gemäß Gegenstände a priori erkannt werden können, aber freilich nur, wie sie uns erscheinen“, ibid. § 10 (III 36 f.). Raum und Zeit sind „keine den Dingen an sich selbst, sondern nur bloße, ihrem Verhältnisse zur Sinnlichkeit anhängende Bestimmungen“, ibid. § 11 (III 37).

Die „Erweiterung meiner Erkenntnis durch Erfahrung“ beruht auf der „empirischen (Sinnen-)Anschauung“. „Nun begreife ich leicht..., daß, wenn eine Erweiterung der Erkenntnis über meinen Begriff a priori stattfinden soll, so werde, wie dort eine empirische Anschauung, so zu dem letzteren Behuf eine reine Anschauung a priori erforderlich sein; nur bin ich verlegen, wo ich sie antreffen und wie ich mir die Möglichkeit derselben erklären soll. Jetzt werde ich durch die Kritik angewiesen, alles Empirische oder wirklich Empfindbare im Raum und der Zeit wegzulassen, mithin alle Dinge ihrer empirischen Vorstellung nach zu vernichten, und so finde ich, daß Raum und Zeit, gleich als einzelne Wesen, übrig bleiben, von denen die Anschauung vor allen Begriffen von ihnen und der Dinge in ihnen vorhergeht, bei welcher Beschaffenheit dieser ursprünglichen Vorstellungsarten ich sie mir nimmermehr anders als bloße subjektive (aber positive) Formen meiner Sinnlichkeit (nicht bloß als Mangel der Deutlichkeit der Vorstellungen durch dieselbe), nicht als Formen der Dinge an sich selbst, also nur der Objekte aller sinnlichen Anschauung, mithin bloßer Erscheinungen, denken müsse“, Üb. e. Entdeck. 2. Abs. (V 3, 60f.); vgl. Urteile, synthetische.

Soll es „synthetische Erkenntnisse a priori geben, so muß es auch Anschauungen sowohl als Begriffe a priori geben“. „Eine Anschauung, die a priori möglich sein soll, kann nui die Form betreffen, unter welcher der Gegenstand angeschaut wird; denn das heißt etwas sich a priori vorstellen: sich vor der Wahrnehmung, d. i. dem empirischen Bewußtsein und unabhängig von demselben eine Vorstellung davon, machen. Das Empirische aber in der Wahrnehmung, die Empfindung oder der Eindruck (impressio) ist die Materie der Anschauung, bei welcher also die Anschauung nicht eine Vorstellung a priori sein würde. Eine solche nun, die bloß die Form betrifft, heißt eine Anschauung, die, wenn sie möglich sein soll, von der Erfahrung unabhängig sein muß.“ „Es ist aber nicht die Form des Objekts, wie es an sich beschaffen ist, sondern die des Subjekts, nämlich des Sinnes, welcher Art Vorstellung er fähig ist, welche die Anschauung a priori möglich macht.“ Danach kann man „die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori von seiten der Anschauung gar wohl begreifen“. „Denn man kann a priori wissen, wie und unter welcher Form die Gegenstände der Sinne werden angeschaut werden, nämlich so, wie es die subjektive Form der Sinnlichkeit, d. i. der Empfänglichkeit des Subjekts, für die Anschauung jener Objekte mit sich bringt, und man müßte, um genau zu sprechen, eigentlich nicht sagen, daß von uns die Form des Objekts in der reinen Anschauung vorgestellt werde, sondern daß es bloß formale und subjektive Bedingung der Sinnlichkeit sei, unter welcher wir gegebene Gegenstände a priori anschauen.“ Die Kritik der reinen Vernunft beweist an den Vorstellungen von Raum und Zeit, „daß sie solche reine Anschauungen sind, als wir eben gefordert haben, um a priori aller unserer Erkenntnis der Dinge zugrunde zu liegen“, Fortschr. d. Metaph. 1. Abt. am Anf. (V 3, 91 ff.).

Plato schwebte schon auf eine dunkle Art die Frage vor: Wie sind synthetische Sätze a priori möglich? „Hätte er damals auf das raten können, was sich allererst späterhin vorgefunden hat: daß es allerdings Anschauungen a priori, aber nicht des menschlichen Verstandes, sondern sinnliche (unter dem Namen des Raumes und der Zeit) gebe, daß daher alle Gegenstände der Sinne von uns bloß als Erscheinungen und selbst ihre Formen, die wir in der Mathematik a priori bestimmen können, nicht die der Dinge an sich selbst, sondern (subjektive) unserer Sinnlichkeit sind, die also für alle Gegenstände möglicher Erfahrung, aber auch nicht einen Schritt weiter gelten: so würde er die reine Anschauung (deren er bedurfte, um sich die synthetische Erkenntnis a priori begreiflich zu machen) nicht im göttlichen Verstande und dessen Urbildern aller Wesen als selbständiger Objekte gesucht und so zur Schwärmerei die Fackel angesteckt haben“, V. e. vorn. Ton, 1. Anm. (V 4, 6). Vgl. A priori, Anschauungsformen, Kategorie.