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Ursprung von Vernunft

Wir können uns nach dem Gesagten vorstellen, wie sich das geistige Leben des Menschen durch Vererbung entwickelt hat. Einerseits durch die unerklärte, aber nicht wegzuleugnende Tatsache, dass der Mensch in starkem Maße nicht nur seine ererbten, sondern auch seine erworbenen Dispositionen weiter vererbt, so dass jedes folgende Geschlecht besser eingeübt hat oder leichter einüben kann, was dem vorangegangenen Geschlechte schwer geworden ist; sodann durch die ihrerseits wieder notwendige Gemeinsamkeit der Vererbung, durch welche beides, die Brauchbarkeit der Begriffe seines geistigen Lebens und ihre Einübung, ins Ungemessene vermehrt wurde. Wir stellen uns dabei jedoch nur die Entwicklung in der Gegenwart vor oder die Entwicklung in irgend einem beliebigen Punkte der Geistesgeschichte. Für den Ursprung der menschlichen Vernunft oder Sprache ist dadurch leider nichts gewonnen; die Frage nach dem Ursprung ist ebenso zurückgeschoben, wie der Darwinismus die Frage nach dem Ursprung des organischen Lebens nur zurückschiebt. Wir aber wollen uns wie auch sonst nicht die Fragen anderer Leute zur Beantwortung vorlegen lassen, was ja eigentlich ein närrisches Geschäft ist, sondern auf Grund unseres eigenen Sprachgebrauchs die Frage neu zu formen suchen. Was ist denn Sprache? Doch weder ein Tier noch eine Pflanze, doch nichts Wirkliches, sondern etwas Gewirktes; doch nur die Summe von Bewegungen unserer Sprachwerkzeuge, die begleitet sind von noch schwerer zu bestimmenden Bewegungen in unserem Gehirn. Was ist Vernunft? Doch nur die Summe dieser unbestimmbaren Gehirnbewegungen, von denen wir erst durch die Sprache erfahren haben. Und ich muß, zugeben, dass der Begriff "Summe" in diesen beiden Erklärungen schlecht gewählt war, allzu mechanisch; die beliebte "Funktion" wäre besser am Platze gewesen. Ich habe das Wort Funktion vermieden, weil es just in solchen Betrachtungen von den besten Köpfen umgekehrt gebraucht worden ist. Selbst Schopenhauer, der sprachlich zwischen Verstand und Vernunft unterschieden hat, das heißt unserem Sprachgebrauche eine vorläufig nette Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft geschenkt hat, lehrt dem Sinne nach ungefähr, dass eine Orientierung in Zeit und Raum eine Punktion des Verstandes sei, eine Orientierung durch Begriffe, also unabhängig von Zeit und Raum, eine Punktion der Vernunft. Gegen die Absicht Schopenhauers erscheinen da Verstand und Vernunft wieder als Kräfte, als Götter, als Seelenvermögen, von welchen Funktionen objektiv abhängen. Ich suche mich von den Worten zu erlösen und nenne darum umgekehrt den Verstand eine Punktion, das heißt eine in meinem Kopfe sich bildende subjektive Punktion aller Orientierungen in der gegenwärtigen Wirklichkeit, die Vernunft eine ebensolche subjektive Punktion aller Orientierungen durch Begriffe. Und da wir nicht wissen, welch eine Art von Funktion das ist, so steht dafür das Wort Summe gerade so gut wie ein anderes. Ich hätte für "Summe" oder für "Funktion" gerade so gut "Wort" sagen können. Denn eigentlich handelt es sich nur um den vorläufigen Versuch einer abstrakten Zusammenfassung durch einen Begriff oder durch ein Wort. Ist es danach schon sehr mißlich, die Frage nach dem Ursprung der Vernunft von der Frage nach dem Ursprung des Verstandes zu trennen, so ist es noch schwerer, das Kennzeichen zu entdecken, an welchem man irgend eine wahrgenommene Erscheinung als den Ursprung der Vernunft erkennen sollte. Aber gerade der Gegensatz zu der Tätigkeit des Verstandes hilft uns wenigstens zu der provisorischen Aufstellung eines Kennzeichens. Im Gegensatz zum Verstande orientiert sich die Vernunft nicht in der gegenwärtigen Wirklichkeit, sondern durch Begriffe, unabhängig von der Zeit. Eine Eiche ist dieser und dieser Baum, wie er nach dem Gedächtnisse des Menschengeschlechts schon vor Tausenden von Jahren wuchs und wie er nach den Ergebnissen der Vernunft nach Tausenden von Jahren wachsen wird. Dieses Zeitmoment oder — wenn man will — diese Unabhängigkeit von der Zeit ist der Vernunfttätigkeit wesentlich; vielleicht liegt es daran, dass zur Herstellung des einfachsten Begriffes oder Wortes eine Vergleichung der gegenwärtigen mit einer vergangenen Wahrnehmung gehört, also Gedächtnis, also Überwindung der Zeit.